Sixth Sense / The Sixth Sense – Der Sechste Sinn (The Sixth Sense, USA 1999) #Filmfest 1027 #Top250 #DGR

Filmfest 1027 Cinema – Concept IMDb Top 250 of All Time (137) – Die große Rezension

Der sechste Sinn geht seine eigenen Wege

The Sixth Sense [ðə sɪksθ sɛns] (deutsch „Der sechste Sinn“) ist ein US-amerikanischer Spielfilm des Regisseurs M. Night Shyamalan aus dem Jahr 1999. Der Film wird dem Genre des Psychothrillers zugeordnet, weil die Spannung und der Horror nicht durch blutrünstige Monster oder Gewaltexzesse, sondern durch ein subtiles Bedrohungsszenario und eine Psychologie der Angst erzeugt werden.

Wir mögen Bruce Willis als Schauspieler und Mensch, und natürlich beeinflusst das ein wenig die Bewertung. Das lässt sich kaum vermeiden, weil man dann auch ein Spiel als gut empfinden, das kontrovers diskutiert wird und bei dem die Meinung nicht einhellig ist. Das war sicher ein Grund dafür, dass wir seine „Die Hard“-Actionreihe höher eingestuft haben als die „Lethal Weapon“-Filme, die ähnlich gestrickt sind. Trotzdem haben wir zum Beispiel „Last Man Standing“ nicht sehr gehoben, der aber auch allgemeinn als nicht maximal gelungen angesehen wird. Bei „The Sixth Sense“ handelt es sich aber um einen Film, von seinem Erscheinen bis heute die Top 250 der IMDb ziert. Haben wir uns, als der Entwurf entstand, den wir im Folgenden fast unverändert präsentieren, darauf schon bezogen und wie haben wir den Film eingeschätzt? Dies und mehr steht in der –> Rezension.

Handlung (1)

Der erfolgreiche Kinderpsychiater Dr. Malcolm Crowe wird von der Stadt Philadelphia für seine Verdienste geehrt. Während er dies mit seiner Frau feiert, wird das Paar im Schlafzimmer von einem Eindringling überrascht. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen ehemaligen Patienten Crowes handelt, Vincent Grey, dem er als Kind nicht hatte helfen können, seine Ängste zu überwinden, die ihn bis heute quälen. Der verzweifelte, wahnsinnig gewordene Mann schießt auf Dr. Crowe und tötet sich anschließend selbst.

Im folgenden Jahr betreut Dr. Crowe den neunjährigen Cole, der ihn stark an seinen früheren Patienten Grey erinnert, weshalb ihn der Fall reizt. Cole scheint von großen Ängsten geplagt, die er niemandem anvertraut. Von seinen Klassenkameraden wird er als „Psycho“ gehänselt und gemieden. Seiner Mutter spielt er jedoch vor, er werde in der Schule akzeptiert. Trotzdem ist Coles Mutter wegen seiner Ängste verzweifelt. Auch Dr. Crowe scheint dem Jungen zunächst nicht helfen zu können. Als Cole zu einem Geburtstag eingeladen wird, wird er von anderen Kindern gemobbt und erlebt eingesperrt in einem Kämmerlein etwas, das ihn tief traumatisiert und ohnmächtig werden lässt. Im Krankenhaus sucht der Psychologe seinen kleinen Patienten auf und verspricht ihm, ihn nicht allein zu lassen. Cole verrät ihm daraufhin schließlich sein Geheimnis: „Ich sehe tote Menschen. Die sind wütend. Sie wissen nicht, dass sie tot sind.“

Zunächst glaubt Dr. Crowe ihm nicht und diagnostiziert Wahnvorstellungen, doch dann kommen ihm Zweifel, und als er noch einmal den Fall seines früheren Patienten Vincent Grey aufarbeitet, bemerkt er fremde Stimmen auf einer alten Tonbandaufnahme, die er während einer Sitzung mit diesem Jungen gemacht hatte. Er erkennt, dass Cole ihm die Wahrheit gesagt hat und auch sein ehemaliger Patient Vincent Tote gesehen oder gehört haben muss. Er rät Cole, keine Angst vor den Toten zu haben, sondern ihnen zuzuhören und zu versuchen, ihnen zu helfen. Das gelingt Cole erstmals im Falle der kleinen Kyra, die von ihrer eigenen Mutter allmählich vergiftet worden ist. Cole hilft dem toten Mädchen, den Mordfall für die Hinterbliebenen aufzudecken und zugleich Kyras jüngere Schwester als mögliches nächstes Opfer vor ihrer Mutter zu schützen. Von da an verändert sich sein Leben positiv. Es wird klar, dass die Menschen, die Cole sieht, sämtlich auf gewaltsame Weise gestorben sind und seine Hilfe brauchen, um mit ihrem Leben abschließen zu können. (…)

Rezension

Bruce Willis hat es offenbar mit Filmen, in deren Titeln Zahlen vorkommen: „Das fünfte Element“, „Twelve Monkeys“ – und „The Sixth Sense“. Auch den oben erwähnten „Last Man Standing“ kann man, wenn man will, in die Zahlenfilmreihe einordnen. Die beiden anderen werden wir demnächst rezensieren, mit „The Sixth Sense“ beginnen wir eine Willis-Trilogie, denn dieser Schauspieler fehlt bisher völlig in unserer Anthologie.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2023: Die drei ersten Filme der „Die-Hard-Reihe“ haben wir mittlerweile rezensiert: „Die Hard / Stirb langsam“ (1988), „Stirb langsam 2 (Die Hard 2: Die Harder (1990), „Stirb langsam – jetzt erst recht / Die Hard with a Vengeance“ (1995).

„The Sixth Sense“ wird vom Publikum geliebt und erhält auf der IMDb gegenwärtigen ein Durchschnittsvotum von 8,2/10, steht damit auf der Liste der Top 250 dieser führenden Filmdatenbank – auf Platz 161. Für dieses großartige Votum sind über 500.000 Benutzer der Datenbank verantwortlich, was für einen Film aus 1999 sehr viel ist und auf eine hohe Rezeptionsdichte hindeutet. Auch die Kritiksammlung „Rotten Tomatoes“ kommt auf immerhin 85/100 im Durchschnitt, die oft deutlich kritischere „Metascore“ von Metacritic.com allerdings nur bei 64/100. Das ist immerhin Hinweise darauf, dass nicht alle den Film im Ganzen lobpreisen (alle vorgenannten Daten Stand 19.07.2014). Zum  Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes, Stand 08.12.2023, hat der Film immer noch 8,2/10 und steht sogar auf Rang 144. Ein Aufstieg ist immer bemerkenswert, weil immer neue Konkurrenz hinzukommt). 

Er gewann keinen Oscar, Bruce Willis war für seine Darstellung des Psychologen nicht einmal nominiert, sein jugendlicher Partner Haley Joel Osment, der den Cole darstellt und zum Zeitpunkt des Drehs 10 bis 11 Jahre alt war, allerdings schon. Auch außerhalb der USA hat „The Sixth Sense“ nur wenige Preise eingefahren – oder nur wenige sehr bekannte, die Wikipedia zählt 37 Preise und Nominierungen.  

Plus Minus

  • Nach unserer Ansicht lebt der Film fast zu hundert Prozent von den Darstellerleistungen. Dass Bruce Willis noch nie auch nur in die Nähe einer Oscar-Nominierung, geschweige denn zu einem Oscar gekommen ist, wird vor allem der Tatsache zu verdanken sein, dass er als TV-Seriendarsteller angefangen und den Wechsel zum Big Screen als Actiondarsteller vollzogen hat. Dieses Genre und seine Protagonisten haben es bekanntlich und manchmal auch zu Recht schwer mit den Kunstpreisen. Nach unserer Ansicht gilt das nicht für Bruce Willis. Seine Figur Dr. Malcolm Crowe ist auf eine so bodenständige Art einfühlsam, dass sie den Film schon allein trägt, es bedarf keiner besonders ausgefeilten Handlung mehr oder filmischer Höhepunkte. Diese Mischung aus Ernsthaftigkeit, leisem Humor und sympathischer Ausstrahlung ist unter den Hollywoodstars der Gegenwart etwas Besonderes, wenn es so rüberkommt wie in „The Sixth Sense“. Es wirkt alles gar nicht so besonders, aber das ist es, was uns anzieht. Das Selbstverständliche formt einen Heiler, dem man sich als Patient anvertrauen würde. Diese Vertrauenswürdigkeit bringt Willis ein, um uns durch diesen Film zu führen, der in mancher Hinsicht alles andere als vertrauenswürdig ist. Man kann auch sagen, er stellt sich in den Dienst der Sache, mit einer festen und gleichmäßigen Form von Professionalität.
  • In Haley Joel Osment hat er einen kongenialen Kinderdarsteller zum Partner. Obwohl zum Zeitpunkt des Drehs gerade zehn Jahre alt, war er schon kein Neuling mehr, hatte u. a. in der bekannten Serie „Walker – Texas Ranger“ mitgewirkt und ist bis heute ein gefragter Seriendarsteller, der manchmal auch in Kinofilmen spielt. Sicher wäre er noch mehr im Filmbiz, wenn er alle Rollen spielen könnte. In „The Sixth Sense“ kam er uns jünger vor, wir hätten ihn auf acht Jahre geschätzt, was seine Darstellung noch außergewöhnlicher gemacht hätte. Es ist immer ein guter Trick, auf einen eher klein gewachsenen Jungen zu setzen, und Osmend misst auch als Erwachsener nur 1,68 Meter. Das heißt, die Figur Cole ist gefühlt jünger als ihr Darsteller, und das kommt der Darstellung zugute, wenn sie diesen Unterschied berücksichtigt. Das tut sie, und doch ist die Natürlichkeit der Interaktion, ist die Routine in vielen Dialogen ein Ergebnis bereits jahrelanger Schauspielerfahrung von Osmend zum Zeitpunkt des Drehs. Wie auch immer, Osmend ist der zweite große Pluspunkt des Films.
  • Hat ein Film zwei so gute Hauptdarsteller, wird es schwierig, ihn nicht zu mögen, vor allem, wenn die Interaktion ebenfalls stimmt. Auch da ist nicht viel zu mäkeln: Es wird nicht sehr auf sentimental gemacht, im Gegenteil, die Schwierigkeit der Annäherung, das Vor und Zurück, wird in der Szene schön symbolisiert, in der die beiden einander kennenlernen und Crowe dieses Spiel mit Cole spielt: Wenn Crowe die Gedanken von Cole errät, hat dieser einen Schritt auf Crowe zuzugehen, wenn nicht, darf er einen zurücktreten. Erreicht er den Tisch, an dem Crowe sitzt, ist das Spiel ebenso zu Ende, als wenn er, zurück tretend, die Eingangstür erreicht. Anfangs lockt Crowe den Jungen mit einigen relativ sicheren und logischen Aussagen, um das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Dann beginnt er zu spekulieren und versucht, mehr von Cole und über Cole zu erfahren. Cole tritt also wieder zurück, entfernt sich wieder von seinem Behandler, weil dieser nun mehr insistiert als ernsthaft versucht zu ergründen, was Cole denkt – wohl wissend, dass es sehr schwer ist, den konkreten Gedanken eines Menschen zu einem konkreten Zeitpunkt zu erraten, den man noch nicht kennt. Cole ist aber so früh noch nicht bereit, sein Geheimnis zu verraten: dass er Tote sieht. Die Basis für die Zusammenarbeit zwischen dem freundlichen Doktor und dem einzelgängerischen Jungen, der in der Schule häufig „Psycho“ genannt wird, ist dennoch gelegt.

Neutral

  • Ein erstes Problem des Films taucht auf, als Dr. Crowe selbst definiert, dass Cole an (von uns hinzugefürgt: schwerer) Jugendschizophrenie leidet. Bekanntermaßen reicht schon das häufige Hören von Stimmen, um jemanden als dem schizophrenen (heute: bipolaren) Formenkreis zugehörig zu kennzeichnen, und dann erst diese sehr konkreten Bilder, die Cole hat. Dr. Crowe spricht in sein Diktiergerät, dass der Junge stationär behandelt werden müsse und außerdem einer Medikation bedarf. Das geschieht aber nicht – vielmehr entscheidet sich Crowe offenbar, das Band nicht weiterzugeben und nichts in die Wege zu leiten, sondern arbeitet weiter ambulant mit dem Jungen. Das verstärkt den Eindruck, dass Crowe sich selbst heilen will, unbedingt diesen Fall allein lösen bzw. Cole eigenständig helfen will, anstatt ihm die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen, die aufgrund seiner eigenen Diagnose angeraten wäre. Dieses Aufsprechen der Diagnose auf Band verpufft. Wir wissen auch, warum. Nicht, weil Crowe so egoistisch oder besessen von Absolution sich selbst gegenüber wäre, sondern, weil damit auf ein anderes Dilemma hingewiesen würde, nämlich jenes, dass Crowe gar nicht mehr existiert. Dass der Film zwar aus seiner Sicht heraus gedreht wirkt, in Wahrheit aber kommuniziert Cole mit einem Toten, der durch den Schuss des Ex-Patienten eben doch lebensgefährlich verletzt wurde. Die Perspektive ist also die des Jungen, ohne dass dies mit filmischen Mitteln angedeutet wird. Der Film springt zwischen der Szene, in der Crowe, von der Kugel getroffen, auf der Couch sitzt, direkt und ohne Übergang zur Behandlung Coles. Wenn Crowe aber in Wirklichkeit tot ist, kann er natürlich keine weiteren, externen Behandlungsschritte für Cole in die Wege leiten, die zudem den Kontakt zwischen den beiden Personen abreißen lassen würde, weil die weitere medizinische Versorgung Coles in andere Hände überginge.
  • Verfolgt man diesen Gedanken weiter, gelangt man unweigerlich zum größten Schwachpunkt von „The Sixth Sense“. Dem Verhältnis von Dr. Crowe und seiner Frau. Es gibt während der Behandlung Coles mehrere Szenen zwischen den beiden, die, plottechnisch gesprochen, gefummelt sind. Entweder nämlich nimmt die Frau Crowe wahr oder nicht, aber sie nimmt ihn ja wahr, ohne die Fähigkeit zu haben, Tote zu sehen. Was also begegnet uns hier? Die Lösung, dass die beiden sich voneinander entfremden, greift nicht, ist mehr als schwierig und kann die Handlung nicht in der Balance halten. Ein Trick, um dieses Problem zu kaschieren, ist die Sache mit dem Keller im Hause Crowe. Das ist schlicht Hokuspokus. Hat seine Frau Angst vor seinem Geist? Aber als ihr erstmalig im Keller so kalt wird, als sie Wein holt, war dies ja vor der Schussszene, das würde darauf hindeuten, dass sie Ahnungen hat. Letztlich, nach dem Tod ihres Mannes, dass sie ihn eben doch sehen kann. Sie wüsste dann aber, dass er tot ist, schließlich muss sie ja bei seiner Beerdigung zugegen gewesen sein. Eine höchst undurchsichtige und unbefriedigende Angelegenheit. Das hätte man anders lösen können, indem man die Frau ab dem Moment der Behandlung Coles ganz aus dem Spiel genommen hätte. Zum Beispiel, indem Crowe einfach konstatiert hätte, dass sich die beiden bereits getrennt haben. Dann wäre offen geblieben, wann und auf welche Weise das geschah. Wir verstehen wohl den Zweck der Emotionalisierung, den die Schlussszene zwischen den Eheleuten hat, an deren Ende Crowe sich sagt, dass er nun gehen kann, aber ein sauberer Plot sieht anders aus. Auch Genreprodukte müssen innerhalb ihrer Konventionen eine Logik haben, wenn sie funktionieren sollen.
  • Dieser Part reißt die ansonsten gelungene Handlung insgesamt soweit herunter, dass wir dafür nur noch die neutrale Null geben können. Die Bewertung des Plots dreht deshalb nicht ins Minus, weil das, was zwischen Cole und Crowe stattfindet, auf emotionaler und psychologischer Ebene und auch die paranormalen Fähigkeiten des Jungen betreffend, durchaus stimmig ist. Wie etwa Crowe den Jungen, der so viel sieht, dazu bringt, diese Gabe anzunehmen und sich von anderen nicht einzureden zu lassen, sich selbst nicht einzureden, er sei krank, ist schön gemacht. Er ist eben anders, und darin liegt ja auch ein Statement, das ein wenig auf die immer populärer werdende Sicht hinausgeht, dass die Falschen behandelt werden. Nicht die Menschen mit besonderen Eigenschaften, die sie herausheben und partiell oder ganz außerhalb der Konventionen stellen, sondern die schrecklichen Normalos, die manchmal Bürokraten des Schreckens darstellen, sind diejenigen, die behandelt werden sollten. Ein Schizophrener wie Cole wird niemals vom Schreibtisch aus Massenmorde planen, das ist die Botschaft. Seine mistigen Mitschüler aber, die ihn in eine dunkle Kammer schleppen, wären aber möglicherweise dazu fähig. Der Mob versucht, den Individualisten zu mobben, das wird uns in diesem Film gesagt und wenn wir die Aussage verstehen, schärft sie unseren Blick für das, was um uns herum vorgeht und für den ständig zunehmenden Normendruck Menschen gegenüber – und für die Ausbrüche und Einbrüche von immer mehr Menschen, die dem dadurch aufgebauten Druck, der Forderung, nur noch Funktionspersonal zu sein, nicht standhalten können. Jede kleinste Macke versucht man sozialpädagogisch oder therapeutisch zu eliminieren, wodurch, wenn es gelänge, ein zweifelhafter Idealfall der komplett normalen und normierten Gesellschaft entstünde, in der Konsens etwas Bedrohliches bekommt und sich gegen den Fortschritt wendet, der zumeist von Abweichlern produziert wird. Würde Cole zum Beispiel stationär behandelt, hätte wohl keinen Kontakt mit der toten Kyra aufnehmen können, die ihm verrät, wie er ihre Mutter überführen kann, die das Mädchen vergiftet hat (die Mutter trägt auf der Trauerfeier für ihre Tochter ein rotes Kostüm, das fanden wir als Hinweis übertrieben). Würde Cole von seinem Therapeuten nicht ermutigt, sich anzunehmen mit seiner Besonderheit, sodass er nicht daran zerbrechen kann wie einst der Patient, der Crowe später erschießt, dann würde diese Fähigkeit ihm nicht mehr zur Verfügung stehen, um anderen zu helfen oder – wie im Fall Kyra – ein Verbrechen aufzudecken. Man stelle sich vor, Cole geht später zur Kriminalpolizei. Nicht auszudenken, welchen Ruhm er dort erwerben könnte. Klar ist das ein wenig ironisch, weil wir davon ausgehen, dass es diese ausgeprägte Fähigkeit, Tote erzählen zu lassen, bei realen Menschen nicht gibt, aber sie steht in der Tradition der Geisterbeschwörung, und die wurde schon in Filmklassikern wie „Rashomon“ (Japan 1950) dazu verwendet, um Tötungsdelikte aus der Sicht der Opfer zu beleuchten.
  • Neutral sehen wir auch die Zwitterstellung des Films. Einerseits will er eine psychologische Studie sein, die gleichermaßen dem Patienten wie dem Behandler gewidmet ist, andererseits ist er ein klassischer Horrorfilm, in dem die Toten immer sehr plötzlich und grausam zugerichtet auftauchen. Die Gänsehaut, die man dabei bekommt, weist darauf hin, dass der Film als Schocker gelungen ist. Dadurch aber wird die Ernsthaftigkeit der psychologischen Studie infrage gestellt. Der Grat zwischen Kunst und Trash ist gerade hier sehr schmal und der Abgrund, in den man dabei fallen kann, tief. Dank der überragenden Hauptdarsteller wirkt der Film aber nie lächerlich oder allzu trivial. Die religiösen Aspekte wie die Einbringung des „de profundis“ sind allerdings grenzwertig, haben vor allem für Katholiken wohl nicht den Impact, den die Macher des Films beabsichtigen. Man weiß nicht, welcher Konfession Cole angehört, aber wäre er Katholik, wäre seine Kenntnis dieses Gebetes in lateinischer Fassung im Alter von zehn Jahren zumindest nicht ungewöhnlich. Schwamm drüber, ein paar Effekte müssen schon auch sein, und Kirche und Horror gehen ja so gut zusammen. Dies appelliert an unser Unterbewusstsein, an den Teil davon, der sich durch unsere meist christliche Erziehung ausgeprägt hat. Allzu viel Bedeutung sollte man dem nicht beimessen. Es ist im Übrigen witzig, dass Dr. Crowe das, was Cole gesagt hat, aus einem Wörterbuch übersetzen muss, das sicher älter ist als seine Studienliteratur. Offenbar muss man in den USA kein Latein können, um medizinischer Psychotherapeut zu sein. Dass er aber trotzdem die Worte des Jungen in richtiger Schreibweise notiert, verstärkt das Hochziehen der Augenbrauen, das uns in diesem Moment ereilte. Das „de profundis“ ist Teil des ersten Verses des Bußenpsalms 129 (in der Lutherbibel und später auf Deutsch Psalm 130) und christliches Grundwissen, dessen konkrete Bedeutung für Cole nicht erläutert wird.

Finale

Wenn man Filme nicht nach einem Raster analysiert, sondern sich von einem Gedanken zum nächsten tragen lässt, kommt man immer tiefer in die Details, deswegen fangen wir uns mit dem Fazit wieder ein und stellen fest, dass Crowe am Ende gehen kann, weil er seine Mission erfüllt hat. Damit gibt er auch seine Frau, die sich immer Videos von der Hochzeit der beiden anschaut, für ein Leben nach ihm frei.

Emotional, darstellerisch und seine Gruselszenen betreffend, ist „The Sixth Sense“ auf hohem Niveau. Formal lässt sich sagen, dass er korrekt gefertigt ist und die Szenen, die dem Sechsten Sinn gewidmet sind, die Anforderungen des Genres erfüllen. Probleme gibt es nur dort, wo sie durch die Handlung verursacht werden. Diese allerdings kommt nicht an das Niveau der übrigen Aspekte heran und deswegen folgen wir auch nicht ganz den hohen Bewertungen, die der Film durchschnittlich von Nutzern der IMDb bekommt. Höher als der erwähnte Metascore liegen wir aber.

75/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Regie M. Night Shyamalan
Drehbuch M. Night Shyamalan
Produktion
Musik James Newton Howard
Kamera Tak Fujimoto
Schnitt Andrew Mondshein
Besetzung

 


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