Zum 79. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung: »Wo leben die meisten Holocaust-Überlebenden?« (Statista + Leitkommentar) | Briefing 422 | Gesellschaft, Geschichte, Politik

Briefing 422 Gesellschaft, Holocaust-Erinnerungstag, #NieWieder, #NieWiederIstJetzt, #WeRemember

Liebe Leser:innen, nicht alle Tage mit besonderer Widmung, die es mittlerweile gibt, muss man gleichermaßen für wichtig halten.

Den 27. Januar aber schon, und zwar in besonders hohem Maße. Es ist der Tag, an dem die Rote Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreite. Er wurde im Jahr 2005 eingeführt und gilt seither als besonderer Moment der Erinnerung, die nie verblassen darf.  Zum 79. Mal jährt sich der 27. Januar 1945.

Der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust wurde von den Vereinten Nationen eingeführt, um an den Holocaust und den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu erinnern1In Deutschland ist der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus2An diesem Tag wird an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1945 erinnert34.

Infografik: Wo leben die meisten Holocaust-Überlebenden? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Stand August 2023 belief sich die geschätzte Zahl der Holocaust-Überlebenden auf rund 245.000 Individuen. Nach Angaben der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference) wurden die meisten von ihnen zwischen 1933 und 1942 geboren und waren somit zum Zeitpunkt des Endes des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 Kleinkinder, Kinder im Schulalter oder junge Erwachsene. Wie unsere Grafik zeigt, sind viele dieser Personen derzeit in Israel beheimatet.

Rund 119.300 Menschen oder 48,8 Prozent der Gesamtzahl leben in dem westasiatischen Staat. Die meisten dieser Personen gaben an, in der ehemaligen Sowjetunion und nordafrikanischen Ländern wie Libyen, Marokko, Algerien und Tunesien geboren zu sein. In Nordamerika, in diesem Fall in den Vereinigten Staaten und Kanada, ist der Anteil aus dem ehemaligen Gebiet der Sowjetunion noch höher: 72,6 Prozent der rund 44.200 Personen, die in beiden Ländern beheimatet sind, wurden im heutigen Russland oder mittlerweile postsowjetischen Staaten geboren. Insgesamt gaben 47 Prozent aller Überlebenden die UdSSR als ihr Geburtsland an. Alleine diejenigen mit Wohnorten in Israel, den USA, Frankreich, Russland und Deutschland machen rund 87 Prozent aller noch lebenden Holocaust-Überlebenden aus.

Die Claims Conference gibt an, für ihre Erhebung eine Vielzahl von Quellen konsultiert zu haben, die sich hauptsächlich auf Entschädigungszahlungen beziehen, die entweder von der Conference selbst oder von nationalen Programmen wie dem Bundesentschädigungsgesetz in Deutschland verwaltet werden. Dennoch könnte die tatsächliche Zahl der Überlebenden dem Bericht zufolge bis zu zehn Prozent höher liegen. (…)

Es ist erstaunlich und auch berührend, dass jüdische Menschen nach der Shoah in Deutschland geblieben sind, die jene Massenvernichtungsmaschinerie glücklich und oft unter dramatischen Umständen überlebt hatten oder sogar zurückgekehrt sind. Ihnen und allen anderen Überlebenden des Holocausts sind wir verpflichtet, ebenso wie den Angehörigen aller anderen Gruppen, die darin umgekommen sind.

In diesen Tagen gilt unsere Verpflichtung in besonderem Maße, denn nie war die Demokratie in Deutschland seit der Gründung der Bundesrepublik so gefährdet wie jetzt. Gerade am letzten Wochenende hat die Zivilgesellschaft durch Demonstrationen in allen größeren Städten gezeigt, dass sie das zumindest bemerkt hat. Aber es zu bemerken und es tatsächlich zu verteidigen, sind zwei verschiedene Kategorien oder Stufen der Arbeit mit der Erinnerung, die nie verblassen darf. #Niewieder und #Niewiederistjetzt und #WeRemember sind daher die notwendigen Begriffe im Jahr 2024, um den Rechtsruck in Deutschland zu stoppen. Zwar versuchen die Rechten, sich nicht spezifisch antisemitisch zu geben und gibt es Antisemitismus auch in anderen Gruppen und mit unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung, aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen davon, dass die Verfassung noch insofern intakt ist, als offener Antisemitismus zumindest offen markiert und auch geahndet werden kann. Das muss nicht so bleiben, wenn Schranken fallen, die bisher der Rechtsstaat setzt.

Wir denken immer wieder einmal über den Begriff „Erinnerungskultur“ nach. Wir halten ihn für problematisch, weil sich die Erinnerung an die Shoah mit Ereignissen verbindet, die nichts mit Kultur, sondern mit Barbarei, mit der Abwesenheit von Kultur zu tun haben und weil der Begriff mittlerweile auch mit etwas wie „Schuldkult“ in Verbindung gebracht wird. Man darf aber keinen Kult entstehen lassen, keine Ritualisierung der Erinnerung zulassen, sondern muss sie immer mit konkreten Inhalten, Beispielen, Geschichten füllen, die uns auch die Parallelen zwischen der Nazizeit und heute aufzeigen – und auch die Unterschiede. Die Unterschiede, die es bisher noch möglich machen, das #NieWieder tatkräftig zu bewahren, während in den frühen 1930ern alles ganz schnell ging und nach dem Januar 1933 nicht mehr aufzuhalten war.

Dabei kommt den Zeugen, die Überlebenden des Holocausts, eine wichtige, eine am Ende vielleicht alles entscheidende Rolle zu. Ihre Arbeit mit jungen Menschen ist die allerbeste Abwehr einer Wiederholung des damaligen Völkermords. Wir haben hier einen Artikel für Sie verlinkt, der sich mit dieser Arbeit der Überlebenden befasst:

Nie wieder zuschauen: Shoah-Überlebende sieht „Faschismus im Aufschwung“ (msn.com)

Es ist einer von vielen Berichten in diesen Tagen und wir wissen auch, dass die Stimmen deshalb nicht verlorengehen, weil sie aufgezeichnet werden und an Erinnerungsorten aufbewahrt werden, für jede Person zugänglich, die sich der Vergangenheit stellen oder etwas über sie erfahren will, was ohne diese Möglichkeit immer abstrakter würde.

Es sei „heute noch relevanter, davon zu erzählen, als es vor – sagen wir – zehn Jahren war. Denn wir sehen, dass der Faschismus wieder im Aufschwung ist. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, meine Geschichte zu teilen“, sagt die Überlebende des Holocausts im oben verlinkten Artikel.

Sie ist besorgt über den zunehmenden Rechtsextremismus in Deutschland, aber auch über die autoritären Tendenzen in den USA, ihrer Heimat – und sie hat eine Botschaft, die den Gaza-Krieg betrifft. Als wir den Artikel gestern für unsere heutige Erinnerungs-Berichterstattung ausgewählt hatten, hatten wir den letzten Teil, der sich mit der aktuellen Lage befasst, noch nicht gelesen, erst jetzt haben wir das getan, für die Veröffentlichung. Er überrascht uns nicht, bei einer Person, die die Lehren aus dem Holocaust, dem sie entkam, ernst nimmt: Menschenrechte sind für alle gemacht. Sie sind unteilbar und das „Nie wieder“ ist universell zu verstehen.

Wir widmen unsere heutige und morgige Berichterstattung überwiegend der Erinnerungsarbeit. Wir finden den Begriff besser als „Erinnerungskultur“. Denn es geht um fortwährende Aufarbeitung und es ist tatsächlich schwere Arbeit, psychisch gesehen, und wir befassen uns dabei uns nicht mit Kultur, sondern mit ihrer Abwesenheit, ihrem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Niedergang während der Jahre von 1933 bis 1945. 

Dabei steht jedes Menschheitsverbrechen steht für sich selbst und kann nicht relativiert oder in irgendeiner Form aufgerechnet werden. Der Holocaust steht ganz besonders für sich selbst, weil nie zuvor ein Regime und ein Land einen solchen Vernichtungswahn tatsächlich in die Tat umgesetzt haben wie das Nazi-Regime, das in Deutschland herrschte und nirgendwo sonst. Es geht aber an diesem Tag auch darum, darauf hinzuweisen, dass die richtigen, humanistischen Lehren von Menschen weitergegeben werden können, die selbst in der Vernichtungshölle der Nazis gefangen waren und, anders als ihre darin umgekommenen Liebsten, mit sehr viel Glück überlebten.

Es versteht sich von selbst, wir erwähnen es aber trotzdem: Die Erinnerungsarbeit darf nicht auf einen Tag des Jahres beschränkt sein, sondern muss uns begleiten und leiten in unserem politischen Denken und  Handeln. Wir müssen uns viel stärker darum kümmern, dass die Gefahren, die so deutlich sichtbar sind, endlich so viel Widerhall in Politik und Gesellschaft finden, dass das #NieWieder nicht zur Floskel wird. Wenn es einen Begriff gibt, der davor geschützt werden muss, als Phrase verwendet und banalisiert zu werden, dann ist es dieser. Aus einzelnen Demonstrationen, Petitionen und Artikeln wie diesem muss ein permanenter Widerstand gegen die Aushöhlung der Demokratie und der Menschenrechte erwachsen.

TH


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