Chocolat (USA, GB 2000) #Filmfest 1053

Filmfest 1053 Cinema

Schokolade heilt alle Wunden

Chocolat – Ein kleiner Biss genügt (Originaltitel: Chocolat) ist ein britisch-US-amerikanischer Spielfilm aus dem Jahr 2000, der auf dem Roman Chocolat von Joanne Harris basiert. Der Film zeigt „ein Märchen für Erwachsene“ und ist gleichzeitig ein Appell zur Toleranz. Regie bei dem Romantikfilm führte Lasse Hallström, das Drehbuch schrieb Robert Nelson Jacobs. Die Hauptrolle spielte Juliette Binoche.

Handlung (1)

Vianne Rocher kommt mit ihrer Tochter Anouk in ein kleines Dorf im ländlichen Südfrankreich und macht eine Schokolaterie auf – mitten in der Fastenzeit. Die tief katholische Dorfgemeinschaft ist in eine Konflikt gestürzt und der Pate des Dorfes, Graf Reynaud, wendet allerlei Tricks an, um die Menschen vom Schokoladengeschäft fernzuhalten. Die Dinge eskalieren, als auch noch Flusspiraten, wie sich die freien Hausbootbewohner nennen, auftauchen und sich der Chef der Gruppe, ein gewisser Roux, mit Vianne anfreundet.

Rezension

Der Eindruck nach dem Film? Zum Ende hin gab es rührende Szenen und natürlich haben wir die Botschaft für Toleranz und Lebensfreude verstanden, sie ist nicht zu übersehen. Juliette Binoche hat eine außerordentliche Präsenz, die den Film und die anderen Schauspieler trägt. Ihrer Darstellung verdankt der Film sehr viel, denn ohne „La Binoche“ würde die emotionale Klammer fehlen, die aus einem durchschnittlich inszenierten Film einen sinnlichen Genuss macht.

Binoche-Fan? Dass sie in Frankreich mit dem Nachnamen und dem weiblichen Artikel davor genannt wird, das ist, besonders heute, eine Auszeichnung. Es gab „La Piaf“, „La Bardot“, „La Schneider“,  „La Deneuve“ und eben die Binoche. Bei den Männern sieht es nach Gérard Dépardieu nicht mehr so gut aus mit den Topstars, von denen es früher zahlreiche gab, aber bei den Frauen kommen immer wieder sehr gute Darstellerinnen nach. Und von den Aktiven war Juliette Binoche seit etwa 1991-92 bis Ende der 2000er wohl die prägnanteste. Sie hat in „Chocolat“ eine warme und gleichzeitig sinnliche Ausstrahlung, die wunderbar zu dem passt, was sie macht – das süße Leben kreieren.

Außerdem steht sie natürlich auf der richtigen Seite: Lebe das Leben, anstatt dich von Konventionen fesseln zu lassen. Sie hat einmal gesagt, sie bevorzuge es, Filme mit Aussage zu machen, mit einem sozialen oder politischen Inhalt. Dazu zählt „Chocolat“ auf jeden Fall, der Film war ein Herzensprojekt von ihr. Es ist auch ein Frauenfilm geworden, in der IMDb wird er gegenwärtig von weiblichen Nutzern um etwa 0,4 Punkte besser bewertet als von Männern. Verständlich, wenn man die vorkommenden männlichen und weiblichen Figuren vergleicht und außerdem davon ausgeht, dass Schokolade ein eher weibliches Thema ist. Ob es das wirklich ist, sei dahingestellt, zumindest wenn man Nervennahrung ein wenig auf andere Lebensmittel erweitert. Außerdem haben auffallend viele Frauen den Film bewertet, normalerweise überwiegen männliche Bewertungen immer noch weit mehr. Alle Altersgruppen und US-Nutzer und Nichtamerikaner liegen etwa auf gleichem Niveau.

Ist Toleranz weiblich? Es wirkt ein wenig so, aber das ist natürlich individuelle Gestaltung, es hätte auch ein unkonventioneller Künstler in den Ort kommen können und oder eben ein vormaliger Streuner, ein Typ, wie Johnny Depp, der den „Flusspiraten“ Roux spielt. Johnny Depp haben wir kürzlich in einem anderen, von einer starken und nicht unähnlichen Botschaft getriebenen Schokoladenfilm rezensiert („Charlie und die Schokoladenfabrik“), da hat uns die Ausgestaltung seiner Rolle nicht wirklich überzeugt – in „Chocolat“ ist sie zu klein, um gleichwertig zu der von Juliette Binoche zu sein, Roux taucht erst in der zweiten Hälfte des Films auf, und natürlich finden sich Vianne und dieser gutaussehende Gitarrenspieler, der Django Reinhard interpretiert – eine tolle Idee natürlich und sehr hintergründig, weil sie auf subtile Weise den großen kulturellen Beitrag des seinerzeit bekanntesten europäischen Jazzmusikers und seine ethnische Herkunft als „Manouche“, als französischsprachiger (allerdings in Belgien geborener) Sinti.

Die Romantik ist auf der Seite der Außenseiter  und die Musik und der Tanz sowieso. Dass ein übereifriger Dorfbewohner, angetrieben von den Sticheleien des Comte de Reynaud, das Hausboot anzündet, auf dem Roux mit seinen Freunden lebt, zwingt diesen letztlich zu einer Entscheidung und kompromissweise wird er sesshaft, bringt aber seinen Lebensstil in das bisher so verknöchert wirkende Dorf ein. Aber Johnny Depp ist nicht der Hit des Films, auch wenn sein Name sicher zum Kassenerfolg in den USA beigetragen hat. Immerhin konnte er schon ein wenig für seine Piratenfilme aus der Karibik üben („Pirates oft he Carribean“ als erstes Werk der Serie kam drei Jahre nach „Chocolat“). Er hat auch das richtige, das Independent-Gen.

Wer steht auf der anderen Seite und wie ist die Dorfgemeinschaft fundiert? Engstirnigkeit und Katholizismus gehen hier eine Verbindung ein, die Vianne beinahe wieder aus dem Dorf treibt. Die konservativen Kräfte sind sehr stark. Es wird sogar in einem Satz eine Verbindungslinie gezogen zwischen denjenigen, die mit den Deutschen während der Besatzungszeit kollaboriert haben und jenem konservativen Katholizismus. Da mag etwas dran sein, dass es eher solche Leute waren die in Frankreich zahlreichen Kommunisten, welche die zwischenzeitliche, kriegsbedingte Ordnung als gar nicht so schlimm finden. Der latente Antisemitismus, der den Deutschen in die Hände spielte, wird allerdings nicht thematisiert, der Film spielt ja auch im Jahr 1959.

Negative Kritiken zum Film stützen sich vor allem darauf, wie christliche Werte hier scheinbar behandelt werden, nämlich als unwert. Die Enge des Ortes ist klar mit kirchlicher Tradition verbunden. Wer Bekannte in oberbayerischen Bergdörfern hat, der kann auch heute noch nachvollziehen, dass das alles nicht so weit hergeholt ist. Nach unserer Ansicht wird aber nicht das Christliche, sondern dessen Missbrauch zur freudlosen Lebensgestaltung und Unterdrückung thematisiert, der allerdings bei den Katholiken in Wirklichkeit nicht ganz so ausgeprägt ist wie bei strenggläubigen Protestanten und außerhalb der Großkirchen stehenden christlichen Gemeinschaften, die ihren Leuten wirklich Vieles verbieten. Der Katholizismus ist unterschwellig lebensfroher, als er im Film dargestellt wird, was aber in der augenzwinkernden Abhandlung des Instruments der Ohrenbeichte auch angedeutet wird.

Es kommt nicht darauf an, welche Gemeinschaft einen Ort beherrscht, sondern, wie sie sich Fremden gegenüber verhält. Es gab tatsächlich Kritiker, die sich darüber entrüstet haben, dass diese durch die Welt ziehende Vianne es wagt, den Dorfbewohnern mitten in der Fastenzeit mit Schokolade zu kommen – wodurch der Kampf um die Meinungshoheit im Dorf zugespitzt wird. Vielmehr geht es um Unterdrückung, und die kann aus allen Richtungen kommen, sie muss nicht kirchlich organisiert sein, das spürt man deutlich. Jede Ideologie, die in eine reale Diktatur umgesetzt wird und die Menschen geißelt, bringt ähnliche Strukturen hervor. Aber im Nachkriegsfrankreich war wohl nur die Kirche als konservative Autorität darstellbar, denn das Land selbst, auch unter de Gaulle, war eher progressiv. 1959, das Jahr, in dem „Chocolat“ spielt, ist der ungefähre Beginn der „Nouvelle Vague“, mit welcher der Film allerdings wenig gemein hat. Witzigerweise ist er beinahe so konservativ inszeniert wie die Leute in diesem Dorf sind, in dem er spielt. Vielleicht ist diese ruhige und unspektakuläre Art aber auch genau diesem Setting angemessen und lässt die Schauspieler, insbesondere die Binoche, besser zur Geltung kommen.

Der Film ist also nicht antiklerikal? Hollywood hatte immer schon die Attitüde, liberal zu wirken und doch christliche Werte zu vertreten – oder sagen wir, biblische Werte. Manchmal waren konservative und progressive Element auf sehr interessante Weise miteinander verknüpft. Die Filme sind keine intellektuellen Konstrukte, wie Werke der europäischen Avantgarde, sie sind fürs breite Publikum gedacht – und wenn er auch in Frankreich spielt und die Hauptfigur von einer französischen Darstellerin verkörpert wird, „Chocolat“ ist ein Hollywoodfilm – wiederum von einem europäischen Regisseur gedreht, dem Schweden Lasse Hallström, der mit „Mein Leben als Hund“ (1985) bekannt wurde und schon in „Gilbert Grape“, seinem bis heute berühmtesten Film, mit Johnny Depp gearbeitet hat. Zur Zeit von „Chocolat“ war er bereits ein Hollywoodregisseur, ebenso wie die Deutschen Petersen und Emmerich, die sich den Erfordernissen der Traumfabrik erfolgreich angepasst haben – allerdings hat Hallström immer noch mehr einen Independent-Touch beibehalten und nie diese Großproduktionen gedreht, die schon aufgrund ihrer Kosten zum Erfolg verdammt waren.

„Chocolat“ entstand 2000, also während der vergleichsweise liberalen Clinton-Ära, und dass dieser Päsident etwas vom Leben mitnehmen wollte, war zu dem Zeitpunkt auch schon bekannt. Der auch durch 9/11 ausgelöste konservative Rollback war noch nicht so deutlich zu erkennen. Aber kleine Dörfer gibt es auch in den USA, und wie fundamentalistisch es dort zugeht, ist bekannt. Mit der Bibel in der einen und der Waffe in der anderen Hand wird eine geistige Enge erzeugt, die ruralen Gemeinschaften offenbar eigen ist – nur noch etwas militanter als anderswo auf der Welt. Die Protagonisten dort sind aber in der Regel fundamentalistische Protestanten.

Jetzt kann man sagen, der Schwede Hallström als vermutlicher Protestant oder Atheist und Juliette Binoche mit ihrem kosmopolitischen Hintergrund tun sich leicht, kleine katholische Dörfer und diejenigen, die für deren Ordnung stehen, lächerlich zu machen, aber darum geht es nicht vorrangig.

Nehmen wir an, Vianne Rocher hätte ihren Laden eröffnet und nichts wäre geschehen. Die Dorfbewohner wären einfach nicht hingegangen, weil Fastenzeit ist. Aus Überzeugung. Dann wäre der Laden tatsächlich pleite gegangen, wie es der Comte de Reynaud ja erhofft. Es hätte aber gar keine Konfrontation gegeben, sondern es wäre einfach eine falsche Standortwahl gewesen – die Wahl des Standorts ist sowieso sehr zufällig, es hätte bessere Plätze für Schoko-Delikatessen gegeben als ein Dorf mit sehr beschränkten Absatzmöglichkeiten, das auch für die Verhältnisse von 1959 ein wenig zu trist dargestellt wird. Ein Fremdkörper wäre also von der Gemeinschaft abgestoßen worden.

Aber so ist es ja nicht. Vielmehr trägt das Süße die Sehnsüchte vieler Dorfbewohner nach einem anderen Leben in sich. Vianne mit ihren Künsten ist nur das Medium, das zutage bringt, dass einiges im Dorf nicht stimmt. Nicht ohne Grund hat man auch einen Fall häuslicher Gewalt gezeigt, Ausdruck patriarchalischer, nicht hinterfragter Strukturen. Die Ehefrau des Kneipenwirts, das Opfer, flüchtet zu Vianne und wird deren Mitarbeiterin. Eine alte Dame, obwohl Diabetikerin, gönnt sich die Süße der letzten Tage und will selbstbestimmt in Frieden sterben, ihr Enkel will der freudlosen Strenge entkommen, mit der seine Mutter ihn erzieht, die Sekretärin des Grafen. Selbst der Graf hat geheime Sehnsüchte, die er mit Disziplin unterdrückt, während die eigene Frau längst ausgerückt ist. Das Dorf ist unglücklich, und die Ankunft von Vianne lässt die Konflikte aufbrechen, die ohnehin vorhanden sind.

Wenn jemand tiefgläubig ist und das leben möchte und diesen Lebensstil nicht anderen aufzwingen möchte, dann ist dagegen nichts einzuwenden – anders aber, wenn von der Kanzel herab eine ganze Gemeinschaft als Geisel und in Furcht gehalten werden soll.

Diese Botschaft ist universell und nach unserer Ansicht nicht primär gegen den Katholizismus gerichtet, der sich allerdings bei entsprechender Anwendung sehr gut als Unterdrückungsinstrument eignet. Der Film plädiert für die Freiheit und die Akzeptanz anderer Lebensentwürfe, wobei ja der von Vianne, auch wenn sie eine uneheliche Tochter hat, nicht sehr von dem der Dörfler abweicht. Sie geht nicht in die Kirche und bleibt darin konsequent, aber sonst ist sie durchaus bürgerlich und fällt höchstens durch ihr gutes Aussehen auf, ebenso wie die Tochter sich nur wehrt, wenn sie gehänselt wird, ansonsten aber in der Schule wohl nicht auffällig agiert.

Gleichzeitig ist aber eine zweite Botschaft vorhanden, festgemacht an ebenjener Tochter. Sie stammt in gerader Linie zu einem Viertel von fremdländischen Nomaden ab, die Mutter Vianne zur Hälfte, wie uns anhand eines kurzen Rückblicks in die Familiengeschichte der Rochers erklärt wird. Aber die Tochter noch mehr als die Mutter sehnt sich nach einer Heimat. Das Symbol für ihren durch Heimatlosigkeit verletzten Seelenzustand ist das dauerkrankte, eingebildete Känguru, das eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt. Am Ende wird es gesund und hüpft davon, als klar ist, dass Mutter und Tochter Rocher in diesem Dorf bleiben werden. Außerdem bleibt ja auch de Pirat Roux. Die Botschaft hat also einen zweiten Teil: Im Zeichen gegenseitiger Toleranz ist es gut, eine Heimat zu haben.

Das klingt nach einer Anweisung für die Integrationspolitik. Leider ist die Wirklichkeit etwas komplizierter, und inwieweit Assimilierung notwendig ist,  um Menschen mit Migrationshintergrund Erfolgsgefühle zu vermitteln und sie nicht auf eine mindere Stellung zurückzuwerfen oder darin zu halten, ist eine Sache, die sich ein wenig den simplen Mustern entzieht, die wir in „Chocolat“ sehen. Vianne und selbst ihr Pirat sind Angehörige desselben Kulturkreises und derselben Nation wie die Dörfler, haben keine Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen und die Tochter wird als aufgewecktes, der Sprache mächtiges Kind, das nach Aussage ihrer Mutter immer schnell Freunde gewinnt, auf Dauer keine größeren Probleme haben. Da ist es vergleichsweise einfach zu sagen, jeder macht sein Ding nach seiner Fasson. Was aber, wenn die aus archaischen Gesellschaften tradierten Werte in unserer Welt zur Unterdrückung von Frauen oder zu Gewalt in einem System führen, das auf Freiheit und Gleichheit basieren soll? „Chocolat“ ist keine Blaupause für eine elaborierte und differenzierte Integrationspolitik, sondern im Wesentlichen ein Plädoyer für die innere Freiheit und dafür, sie behalten zu dürfen. Menschen, die innerlich frei sind, wie Vianne, haben auch viel eher die Chance, so ausgeglichen zu sein wie sie, die wie eine gute Fee dafür sorgt, dass die Menschen im Ort sich selbst näher kommen.

Das Sinnbild dafür ist dieses Rad, das Vianne immer dreht, wenn eine neue Person in den Laden kommt, um damit die Lieblingsschokolade dieser Person festzustellen. Jeder sieht in dem sich drehenden Rad etwas anderes und hat demgemäß einen anderen Geschmack. Natürlich ist das auch eine Anspielung darauf, dass Wahrnehmungen der Wahrheit subjektiv sind.

Das Fazit? Wir mochten den Film – nicht nur, weil wir nachvollziehen können, dass mit süßen Schokoladenträumen bunte Lebensträume reisen, das ist ganz sicher so. Toleranz fällt nicht immer leicht, wenn man sie nicht mit billiger Gleichgültigkeit verwechselt, das wird in dem Film ganz gut deutlich, auch wenn es keine intellektuellen Kontroversen und kein Ringen um den richtigen Weg gibt. Es ist, wie es ist, und am Ende ist es okay so. Wenn alle ein wenig glücklicher sind als zuvor, hat sich Viannes Einsatz gelohnt und nur darauf kommt es an. Urchristliche Werte wie Nächstenliebe sind eingeschlossen, nicht hingegen die institutionalisierte Korruption des Glaubens und der Gläubigen zum Zweck der Unterdrückung und zum Aufstacheln von Menschen gegen andere Menschen. 

80/100

© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014) 

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Lasse Hallström
Drehbuch Robert Nelson Jacobs
Produktion David Brown,
Leslie Holleran,
Kit Golden
Musik Rachel Portman
Kamera Roger PrattAmy Gilliam
Schnitt Andrew Mondshein
Besetzung

 

 

 

 

 

 

 

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