Briefing, BfV, Bundesamt für Verfassungsschutz, AfD-Beobachtung, Verdachtsfall, Beobachtungsfall, Einstufung von Landesverbänden als gesichert rechtsexremistisch, Verfassungsfeindlichkeit, GG, Grundgesetz, BVerfG, Bundesverfassungsgericht, Verbotsverfahren
Heute hat sich der Verfassungsblog mit einer Frage auseinandergesetzt, die uns auch beschäftigt hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat eine Neubewertung der AfD angekündigt, die auf deren Beobachtung als Verdachtsfall fußt. Einige Landesverbände im Osten sind bereits als gesichert rechtsextrem eingestuft – und damit als verfassungsfeindlich.[1]
Wird nun die gesamte AfD als Beobachtungsfall „hochgestuft“ oder gibt das BfV Entwarnung? Die Ergebnisse der Beobachtungen sollen bis nach der Bundestagswahl zurückgehalten werden. Das ist ja nicht mehr lang, könnt man sagen. Aber darf eine so eminent wichtige Aussage über eine zur Wahl stehende Partei absichtlich den Menschen vorenthalten werden, aus Gründen der „staatlichen Neutralität“? Gelten im Wahlkampf andere Regeln als allgemein? Denn selbstverständlich muss das BfV grundsätzlich seine Informationen über die AfD an die Öffentlichkeit geben. Schadet ein negativer Bericht der AfD oder nützt er ihr sogar? Wie wäre es bei einem gegenteiligen Ergebnis? Wir haben uns von Beginn an gewundert, dass hierwichtige und für manche Menschen vielleicht wahlentscheidende Informationen der Öffentlichkeit zumindest befristet vorenthalten werden sollen, was ja auch eine Beeinflussung des Wählerverhaltens ist, aber zulasten des Schutzes der Verfassung zu jeder Zeit, auch im Wahlkampf, gehen kann. Außerdem ist bekanntlich ein Gruppenantrag von 113 Abgeordneten aus der Mitte des Bundestages gestellt worden, wonach das BVerfG das Verbot der AfD zu prüfen habe. Auch für dieses Verfahren sind zeitnahe Einordnungen nach unserer Ansicht wichtig, denn jede mögliche Beschleunigung des Verfahrens durch das Vorliegen einer fachlichen Einschätzung der AfD ist wichtig für die Demokratie. Die Geheimnistuerei vor der Wahl lässt übrigens auf ein bestimmtes Ergebnis schließen, und es ist ganz schlecht, dass darüber nun spekuliert werden muss, anstatt dass die Menschen Gewissheit haben. Und nun zum Artikel:
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Kein Verfassungsschutz im Wahlkampf?
Till Patrik Holterhus, Janosch Wiesenthal
Zur Information über die verfassungsschutzrechtliche Neubewertung der AfD und dem Gebot staatlicher Neutralität in der Öffentlichkeitsarbeit
Die AfD wird seit 2021 als Gesamtpartei durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als sog. Verdachtsfall beobachtet. Das OVG NRW hat die Rechtmäßigkeit dieser Beobachtung vor Kurzem bestätigt (OVG NRW, Az.: 5 A 1218.22). Im Oktober dieses Jahres hatte der damalige Präsident des BfV Thomas Haldenwang angekündigt, dass in 2024 und insbesondere noch vor der nächsten Bundestagswahl mit einer verfassungsschutzrechtlichen Neubewertung der AfD und der Veröffentlichung der entsprechenden Einstufung zu rechnen sei.
Jetzt ist jedoch zu vernehmen, dass das BfV zwar zu einer verfassungsschutzrechtlichen Neubewertung gekommen sei, die Öffentlichkeit aber nun doch nicht mehr in 2024 und auch nicht vor der nahenden Bundestagswahl, sondern erst danach über das Ergebnis dieser Neubewertung informieren wolle. Zur Begründung wird vorgebracht, dass die dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) nachgeordnete Behörde eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur staatlichen Neutralität und Mäßigung in Zeiten des Wahlkampfes treffe. Wegen der zeitlichen Nähe zur vorgezogenen Bundestagswahl sei die Veröffentlichung der Neubewertung als staatlicher „Einfluss auf die politische Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger“ nicht zulässig.
Dies überzeugt nicht. Vielmehr ist das BfV – jedenfalls im Falle einer möglichen Hochstufung der AfD zum Beobachtungsfall – sogar dazu verpflichtet, noch vor der Bundestagswahl öffentlich über die verfassungsschutzrechtliche Neubewertung zu informieren.
„Das Bundesamt für Verfassungsschutz informiert die Öffentlichkeit“
Zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder besteht die zentrale Aufgabe des BfV in der (auch verdeckten) Sammlung und Auswertung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten (§ 1 Abs. 1, § 3, § 4 BVerfSchG). Der Umfang der dem BfV dafür zur Verfügung stehenden Befugnisse (§§ 8 ff. BVerfSchG) richtet sich nach dem Ausmaß der Verfassungsfeindlichkeit des jeweiligen Beobachtungsobjekts, bei dem es sich – in engen verfassungsrechtlichen Grenzen – auch um politische Parteien (und deren Teilorganisationen) handeln kann. Eine in Rechtspraxis und Rechtsprechung entwickelte Stufung unterscheidet insoweit zwischen Prüffall (gewisse Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen), Verdachtsfall (tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen) und Beobachtungsfall (gesichert verfassungsfeindlich).
Neben der Sammlung und Auswertung von Informationen kommt dem BfV die weitere wichtige Aufgabe zu, die Öffentlichkeit über ihre Beobachtungen zu informieren. Im Sinne eines kommunikativen „Verfassungsschutzes durch Aufklärung“ dient dies dem Zweck, der Öffentlichkeit eine informierte und kritische Einordnung und Auseinandersetzung mit den jeweiligen Beobachtungsobjekten zu ermöglichen. Neben dem mindestens einmal jährlich erscheinenden Verfassungsschutzbericht (§ 16 Abs. 2 BVerfSchG), um den es hier nicht geht, sieht § 16 Abs. 1 BVerfSchG ausdrücklich vor, dass das BfV „die Öffentlichkeit über [verfassungsfeindliche] Bestrebungen und Tätigkeiten [informiert], soweit hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen, […].“
Weil mit der Information der Öffentlichkeit ein weiterer, neben die Beobachtung selbst tretender, intensiver verfassungsschutzrechtlicher Eingriff in die (Grund-)Rechte der Beobachteten einhergeht, sind die Voraussetzungen dafür hoch. Dies gilt in besonderem Maße, wenn es sich bei dem Beobachtungsobjekt um eine politische Partei handelt, der aus einer Information der Öffentlichkeit über ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz erhebliche Nachteile im politischen Wettbewerb, das heißt in Bezug auf ihre Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 GG erwachsen können.
Tatbestandliche Verhältnismäßigkeit und gebundene Rechtsfolge
Tatbestandliche Voraussetzung des § 16 Abs. 1 BVerfSchG ist zunächst, dass das BfV das Beobachtungsobjekt mindestens als Verdachtsfall („tatsächliche Anhaltspunkte“) einstuft (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 20. April 2015, BT-Drs. 18/4654, S. 32). Zusätzlich müssen diese Anhaltspunkte nach dem Wortlaut des § 16 Abs. 1 BVerfSchG „hinreichend gewichtig“ sein (vgl. auch BVerfGE 113, 63 (81)). Bei dieser zweiten Voraussetzung geht es nicht um gesteigerte inhaltliche Anforderungen an die Verfassungsfeindlichkeit des Beobachtungsobjekts, also nicht um das Erfordernis eines qualifizierten Verdachtsfalls im Sinne einer Annäherung an die Einstufung als Beobachtungsfall. Vielmehr handelt es sich – vergleichbar mit der Konstruktion des § 35 Abs. 1 GewO – um eine im Tatbestand verortete Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Bei der „hinreichenden Gewichtigkeit“ geht es also darum, dass der Zweck des „Verfassungsschutzes durch Aufklärung“ in einem angemessenen Verhältnis zu dem daraus resultierenden Eingriff in die (Grund-) Rechte des jeweiligen Beobachtungsobjekts steht.
Liegen diese tatbestandlichen Voraussetzungen vor, so ist das BfV nach dem klaren indikativen Wortlaut des § 16 Abs. 1 BVerfSchG (vgl. auch den identischen Wortlaut des § 16 Abs. 2 BVerfSchG, der unumstritten die Rechtsfolge einer gebundenen Entscheidung aufweist) zu einer zeitnahen Information der Öffentlichkeit über das Beobachtungsobjekt und die jeweilige Einstufung verpflichtet („Ob“ der Information; a. A. und für ein Ermessen in der Rechtsfolge wohl OVG NRW, Az.: 5 A 1218.22, S. 108 ff.). Lediglich in Bezug auf die Frage, was „zeitnah“ ist („Wann“ der Information), wird dem BfV ein begrenzter Ermessensspielraum einzuräumen sein.
Das BfV ist seiner Aufgabe, die Öffentlichkeit zu informieren – insbesondere im Zusammenhang mit der Beobachtung politischer Parteien – zuletzt mehrfach nachgekommen. So hat das BfV etwa am 15. Januar 2019 über die verfassungsschutzrechtliche Einstufung der AfD Jugendorganisation „Junge Alternative“ und eine extremistische Sammelbewegung innerhalb der AfD (den sog. „Flügel“) jeweils als Verdachtsfall informiert. Am 12. März 2020 veröffentlichte es seine verfassungsschutzrechtliche Neubewertung des „Flügels“ als Beobachtungsfall. Am 1. März 2021 informierte das BfV – innerhalb eines anhängigen Gerichtsverfahrens – über eine verfassungsschutzrechtliche Neubewertung der AfD Gesamtpartei als Verdachtsfall.
Im Kontext der aktuellen Debatte ist es wichtig klarzustellen, dass das BfV dabei stets allein über den Umstand der Beobachtung und die jeweilige verfassungsschutzrechtliche Einstufung informierte. Eine behördliche Praxis, nach der das BfV zugleich auch die Gutachten veröffentlichte, die der jeweiligen (Neu-)Bewertung behördenintern zugrunde liegen, besteht nicht. Sie ist auch nicht von der in § 16 Abs. 1 BVerfSchG geregelten Verpflichtung umfasst. Dass im Zusammenhang mit der öffentlichen Information über die verfassungsschutzrechtliche Bewertung der AfD Jugendorganisation „Jungen Alternative“ und den sog. „Flügel“ das zugrundeliegende Gutachten des BfV bekannt geworden ist, lag daran, dass dieses ohne Zustimmung des BfV in der die Presse enthüllt wurde.
Hypothetische Einstufung der AfD als Beobachtungsfall
Geht man nun hypothetisch davon aus, dass das BfV im Rahmen seiner Neubewertung der AfD zu einer Hochstufung vom Verdachts- zum Beobachtungsfall gelangt ist, so spricht einiges dafür, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 BVerfSchG erfüllt sind.
Mit einer Hochstufung zum Beobachtungsfall wären jedenfalls die erforderlichen tatsächlichen Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten gegeben.
Die hinreichende Gewichtigkeit wiederum ergäbe sich – auch unter Berücksichtigung eines behördlichen Beurteilungsspielraums – schon aus dem Umstand, dass es sich bei dem als gesichert verfassungsfeindlich eingestuften Beobachtungsobjekt nicht um irgendeine Organisation, sondern um eine relevante politische Partei handelt. Gerade weil politische Parteien, wie keine anderen Organisationen, auf die „Erlangung von politischer Macht […] zur Durchsetzung konkreter politischer Ziele“ gerichtet sind, läge mit einer als gesichert verfassungsfeindlich eingestuften Partei eine „verallgemeinerbare Gefahrenlage für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ vor (VfG Bbg, Az.: 94/20, Rn. 100). Dies gälte umso mehr, als sich die Bundesrepublik Deutschland unmittelbar vor einer Bundestagswahl befindet und die in Rede stehende Partei in letzten Umfragen bei ca. 18% liegt. Der Umstand der nahenden Bundestagswahl steht der Information der Öffentlichkeit – wie sogleich noch ausführlich zu zeigen sein wird – also nicht entgegen, sondern indiziert sie gerade. Das Interesse der Öffentlichkeit an einer Information über den Umstand, dass eine gesichert verfassungsfeindliche Partei alsbald zur Wahl steht (und die daraus folgende Möglichkeit einer informierten und unter Umständen auch kritischen Wahlentscheidung), würde das Interesse dieser Partei an einer unbeeinträchtigten Teilnahme am politischen Wettbewerb deutlich überwiegen.
Ein Gebot staatlicher Neutralität und Mäßigung im Wahlkampf?
An diesem Ergebnis ändert auch das zuletzt in die Debatte eingeführte Verfassungsgebot staatlicher Neutralität und Mäßigung (im Wahlkampf) nichts. Dabei wird vorgebracht, dass die Information der Öffentlichkeit über die verfassungsschutzrechtliche Neubewertung der AfD (als Beobachtungsfall) in Zeiten des Wahlkampfes gegen die aus der (Chancen-)Gleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) folgende Verpflichtung der Regierung verstoße, sich gegenüber allen an einer Wahl teilnehmenden Parteien neutral und gemäßigt zu verhalten. In die tatbestandliche Abwägung des § 16 Abs. 1 BVerfSchG übersetzt soll das wohl heißen, dass jedenfalls im gegenwärtigen Zustand des Wahlkampfes gegen die Information und für eine unbeeinträchtigte Teilnahme (einer möglicherweise gesichert verfassungsfeindlichen Partei) am politischen Wettbewerb entschieden werden sollte bzw. müsste.
Diese Argumentation geht jedoch fehl. Richtig ist noch, dass für die öffentliche Gewalt und insbesondere die Regierung im Rahmen ihrer Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ein an Art. 21 Abs. 1 GG geknüpftes Gebot der parteipolitischen Neutralität und Mäßigung gilt (BVerfGE 138, 102). Aus drei Gründen kann dies im Rahmen der „hinreichenden Gewichtigkeit“ in § 16 Abs. 1 BVerfSchG jedoch keine erhebliche Rolle spielen.
Keine verschärften Anforderungen im Wahlkampf
Erstens: Zunächst finden sich bereits für die Annahme, dass das Verfassungsgebot staatlicher Neutralität und Mäßigung gerade in Zeiten des Wahlkampfes besonders verschärfte Anforderungen formuliert, in der Rechtsprechung des BVerfG keine Anhaltspunkte. Insbesondere das in der gegenwärtigen Debatte herangezogene Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Öffentlichkeitsarbeit“ (BVerfGE 44, 125) aus dem Jahr 1977 ist unergiebig.
Schon inhaltlich hat die Konstellation des vorgebrachten Urteils kaum etwas mit der Information der Öffentlichkeit durch eine Verfassungsschutzbehörde zu tun. So ging es in besagtem Urteil von 1977 um ein Handeln der Bundesregierung selbst, bei dem in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Bundestagswahl in einer Reihe von Zeitungsanzeigen mit dem Hinweis auf erfolgreich umgesetzte politische Vorhaben für eine Wiederwahl der amtierenden Regierung geworben wurde – also um unzulässige, durch die Bundesregierung finanzierte Wahlwerbung in eigener Sache.
Darüber hinaus statuierte das BVerfG in diesem Urteil zwar erstmals das Verfassungsgebot der parteipolitischen Neutralität und Mäßigung von Regierungshandeln. Aus dem Umstand allein, dass es dies im Kontext des damaligen Bundestagswahlkampfes tat, folgt jedoch keine Aussage zu einer besonders verschärften Geltung dieses Verfassungsgebotes in Zeiten des Wahlkampfes.
Vielmehr lässt das BVerfG diese Frage auch in seiner Folgerechtsprechung bis heute stets explizit offen (BVerfGE 148, 11 (26)). Dass die Regierung im Rahmen ihrer Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zur parteipolitischen Neutralität und Mäßigung verpflichtet ist, gilt also immer, ist – nach gegenwärtigem Stand der Rechtsprechung des BVerfG – in Zeiten des Wahlkampfes aber gerade nicht in besonderem Maße verschärft. Man kann durchaus darüber streiten, ob es sinnvoll ist, dass das BVerfG diese Frage in seiner bisherigen Rechtsprechung offengelassen hat. Andere Landesverfassungs- und Verwaltungsgerichte haben eine verschärfte Geltung des Gebots parteipolitischer Neutralität und Mäßigung für Zeiten des Wahlkampfes mittlerweile ausdrücklich festgestellt (siehe für Landtags- und Kommunalwahlen etwa RhPfVerfGH, Az.: VGH A 39/14, Rn. 20; ThürVerfGH, Az.: VerfGH 2/14, Rn. 65; VG Göttingen, Az.: 1 A 258/21). Schon wegen der Schwierigkeit, den Wahlkampf einerseits und den alltäglichen Prozess der politischen Willensbildung andererseits zeitlich klar voneinander abzugrenzen, erscheint eine verschärfte Geltung jedoch problematisch (BVerfGE 44, 125 (153)). Auch könnte eine „Verschärfung“ in Zeiten des Wahlkampfes nur allzu leicht als eine „Reduktion“ in Zeiten außerhalb des Wahlkampfes verstanden werden. Dem Gebot der parteipolitischen Neutralität und Mäßigung wäre damit kein Dienst getan.
Kein (partei-)politisches Regierungshandeln des BfV
Zweitens: Das Verfassungsgebot parteipolitischer Neutralität und Mäßigung ist auf die informierende Tätigkeit des BfV gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG schon im Grundsatz gar nicht anwendbar. Denn bei der Tätigkeit des BfV handelt es sich gerade nicht um ein durch das Verfassungsgebot staatlicher Neutralität und Mäßigung adressiertes (partei-)politisches Regierungshandeln, sondern um eine tatsachenbasierte behördliche Aufgabenwahrnehmung, die der demokratisch legitimierte Gesetzgeber für das BfV in § 16 Abs. 1 BVerfSchG ausdrücklich vorgesehen hat. Davon geht auch das BVerfG aus, wenn es in Bezug auf die Information der Öffentlichkeit durch den Verfassungsschutzbericht feststellt, dass es sich dabei um „kein beliebiges Erzeugnis staatlicher Öffentlichkeitsarbeit [handelt].“ Der Verfassungsschutzbericht ziele „auf die Abwehr besonderer Gefahren […] und stammt von einer darauf spezialisierten und mit besonderen Befugnissen […], darunter der Rechtsmacht zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, arbeitenden Stelle.“ Insofern gehe „eine Veröffentlichung im Verfassungsschutzbericht über die bloße Teilhabe staatlicher Funktionsträger an öffentlichen Auseinandersetzungen […] hinaus.“ (BVerfGE 113, 63 (77)).
Dass es sich bei der (hier in Rede stehenden) Information der Öffentlichkeit durch das BfV nicht um (partei-)politisches Regierungshandeln, sondern um eine tatsachenbasierte behördliche Aufgabenwahrnehmung handelt, ändert sich auch nicht dadurch, dass die zugrundeliegende Neubewertung der AfD noch unter einem Präsidenten des BfV eingeleitet wurde, der mittlerweile wegen politischer Ambitionen für einen parlamentarischen Konkurrenten der AfD wohl auf eigenen Wunsch von seinen Aufgaben entbunden wurde. Zwar ist der gesamte Vorgang für den öffentlichen Anschein der Neutralität des Verfassungsschutzes als äußerst misslich zu bezeichnen und gibt durchaus Anlass darüber nachzudenken, ob nicht nur für den Wechsel aus der Politik in andere Spitzenämter, sondern auch aus anderen Spitzenämtern in die Politik bestimmte Karenzzeiten angemessen wären. Gleichzeitig ist jedoch – bis zum Vorliegen eines Gegenbeweises – zwingend zu vermuten, dass der ehemalige Präsident des BfV seine Dienstpflichten in rechtskonformer Weise und damit insbesondere politisch neutral erfüllt hat (vgl. § 60 Abs. 2 BBG). Dass Präsidenten des BfV politische Meinungen (und unter Umständen auch politische Ambitionen) haben, macht ihre Amtsleitung nicht zu (partei-)politischem Regierungshandeln. Darüber hinaus hat die nun anstehende Abwägung im Rahmen des § 16 Abs. 1 BVerfSchG gar nicht mehr der ehemalige Präsident zu übersehen, sondern die gegenwärtige (geteilte) Amtsleitung.
Schließlich macht auch der Umstand, dass das BfV den dienstlichen und fachlichen Weisungen des BMI bzw. dessen jeweiliger politischer Leitung unterstellt ist (§ 2 Abs 1 S. 2 BVerfSchG) das Handeln der Behörde nicht zu einem (partei-)politischem Regierungshandeln im Sinne des Verfassungsgebotes staatlicher Neutralität und Mäßigung. Sicherlich bietet ein der Regierung nachgeordneter, (auch) mit verdeckten Mitteln agierender Verfassungsschutz ein gewisses Potential für seine (partei-)politische Instrumentalisierung – die Debatte ist so alt wie der Verfassungsschutz selbst und soll hier nicht erneut geführt werden. Klar ist aber auch: Im Rahmen des fachlichen Weisungsrechts wären parteipolitische und damit eindeutig sachfremde Erwägungen eklatant rechtswidrig. Erneut ist daher – bis zum Vorliegen eines Gegenbeweises – davon auszugehen, dass etwaige Anweisungen aus dem BMI im Zusammenhang mit einer Neubewertung der Verfassungsfeindlichkeit einer politischen Partei und der entsprechenden Information der Öffentlichkeit gemäß § 16 Abs. 1 BVerfSchG stets parteipolitisch neutral erfolg(t)en.
Keine Beeinträchtigung der (Chancen-)Gleichheit der Parteien
Drittens: Selbst wenn man annähme, dass das verfassungsrechtliche Gebot parteipolitischer Neutralität und Mäßigung auch auf die verfassungsschutzbehördliche Tätigkeit der Information der Öffentlichkeit nach § 16 Abs. 1 BVerfSchG Anwendung findet, läge in der oben angenommenen hypothetischen Konstellation einer Information über die Hochstufung der AfD zum Beobachtungsfall für sich noch keine für das Neutralitätsgebots relevante Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 21 Abs. 1 GG. Denn eine Beeinträchtigung der (Chancen-)Gleichheit ergibt sich nicht schon daraus, dass eine Partei wegen der öffentlichen Information über ihre gesicherte Verfassungsfeindlichkeit (selbst zu verantwortende) Nachteile im politischen Wettbewerb erleidet.
Eine beeinträchtigende Ungleichbehandlung im Sinne des Gebots parteipolitischer Neutralität und Mäßigung käme vielmehr nur dann in Frage, wenn der BfV mehrere für die nahende Bundestagswahl vergleichbar relevante Parteien als verfassungsschutzrechtliche Verdachts- oder Beobachtungsfälle einstufen, gleichwohl aber nur über einen dieser Fälle gesondert informieren würde.
Kein anderes Ergebnis bei Ermessen auf Rechtsfolgenseite
Im Übrigen wäre eine Information der Öffentlichkeit über eine hypothetische verfassungsschutzrechtliche Einstufung der AfD als Beobachtungsfall noch vor der kommenden Bundestagswahl auch dann nicht nur möglich, sondern sogar geboten, wenn man annähme, dass dem BfV auch hinsichtlich des „Ob“ einer solchen Information in § 16 Abs. 1 BVerfSchG auf Rechtsfolgenseite ein Ermessen zustünde.
Die dann eben auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfindende Abwägung zwischen dem Interesse an einer Information der Öffentlichkeit über den Umstand, dass eine gesichert verfassungsfeindliche Partei alsbald zur Wahl steht einerseits und dem Interesse dieser Partei an einer unbeeinträchtigten Teilnahme am politischen Wettbewerb andererseits, könnte nicht nur, sondern müsste wegen der verallgemeinerbaren Gefahrenlage für die freiheitlich-demokratische Grundordnung wohl (i. S. e. Ermessensreduzierung auf null) zwingend zugunsten einer Information der Öffentlichkeit ausgehen.
Auch hier würde ein Gebot staatlicher Neutralität und Mäßigung aus den oben genannten Gründen in einer Abwägung auf der Rechtsfolgenseite keine (erhebliche) Rolle spielen.
Fazit
Sollte das BfV im Rahmen einer verfassungsschutzrechtlichen Neubewertung der AfD zu deren Hochstufung zum Beobachtungsfall gelangt sein, so ist es aus § 16 Abs. 1 BVerfSchG verpflichtet, zeitnah und jedenfalls noch vor der kommenden Bundestagswahl darüber zu informieren. Dasselbe, wenngleich auf anderer und hier nicht weiter zu vertiefender rechtlicher Grundlage, würde übrigens auch dann gelten, wenn das BfV im Rahmen einer Neubewertung zu einer verfassungsschutzrechtlichen Unbedenklichkeit der AfD gelangt ist und die Beobachtung mittlerweile eingestellt hat.
Die Information der Bürgerinnen und Bürger über die (mögliche) Verfassungsfeindlichkeit einer zur Bundestagswahl stehenden Partei, ist keine Beeinträchtigung des demokratischen Wettbewerbs, sondern die Gewährleistung seiner Voraussetzungen!
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Kurzkommentar
Leider legt die (erzwungene?) Zurückhaltung des BfV den Schluss nah, dass es tatsächlich zu einer Hochstufung der AfD als Beobachtungsfall gekommen ist, obwohl man sie auch anders deuten kann: Es hat sich nichts verändert scheidet aus, sonst wäre nicht von einer Neubewertung die Rede, aber der umgekehrte Fall, dass die AfD herabgetuft wird, könnte ihr im Wahlkampf natürlich nützen. Sie werden aber aus der AfD niemanden finden, der gegenwärtig, weil er von einer so gelagerten Neubewertung ausgeht, auf eine schnelle Veröffentlichung der Ergebnisse des BfV drängt.
Wir ärgern uns über das Verhalten des BfV-Expräsidenten. Schon sein Vorgänger Georg Maaßen hatte dem Ansehen des BfV mit seinem Verhalten sehr geschadet, bei Haldenwang erstaunt die gering ausgeprägte Fähigkeit zum politischen Gespür. Erstaunlich ist das vor allem deshalb, weil sich sein Amt im Wesentlichen damit befasst, die Auswirkung des Verhaltens von Personen auf die Verfassungswirklichkeit zu untersuchen. Dazu gehört aber auch, dass jemand der Verfassung dadurch keinen Dienst erweist, dass sich von seinem Amt erstellte Berichte politische dahingehend instrumentalisieren lassen, dass man sie aufgrund seiner angestrebten politischen Funktion für die CDU als parteipolitisch gefärbt markieren kann. Für uns liegt sogar der Verdacht nah, dass, falls sich Haldenwang dessen doch bewusst ist, er offenbar der AfD einen Dienst erweisen will, wenn schon sein Amt sie möglicherweise zum Beobachtungsfall hochstuft. Denn die AfD wird ganz sicher diese Hochstufung als politisch gefärbt markieren, egal, ob sie noch vor der Wahl veröffentlicht wird oder erst danach.
Wir glauben nicht, dass diejenigen, die Bedenken gegen eine zeitnahe Veröffentlichung des BfV-Berichts haben, mehrheitlich der AfD direkt helfen wollen, sondern vielmehr die Befürchtung haben, dass die AfD durch die Veröffentlichung sogar stärker wird, weil sie wissen, dass in diesem Land ein hoher Anteil von Menschen nicht verfassungstreu ist und die AfD ihren Opfermythos zur Gewinnung dieser Menschen einsetzen kann, wann immer eine staatliche Stelle gegen sie eine Aussage trifft. Das ist jedoch eine Appeasement-Haltung, mindestens und die gleiche, die geäußert wird, wenn es sich um die Prüfung einer Verbotsmöglichkeit durch das BVerfG handelt. Selbstverständlich ist der Demokratieschaden groß, wenn man die AfD am Ende eines Verbotsverfahrens zur Auflösung zwingt, nachdem man viel zu lange nichts unternommen hat. Doch er wäre es im Fall ihres Nichtverbots bei gesicherter, vom BVerfG bestätigter Verfassungsfeindlichkeit erst recht.
Bereits mehrfach haben wir, auch im Wege unserer Entscheidung der Unterstützung von Petitionen für ein AfD-Verbot, unsere Meinung auch unter Zuhilfenahme von Artikeln des Verfassungsblogs gebildet. Diese Publikation ist in Sachen Demokratieschutz und Übung in Sachen Kenntnis des Verfassungsrechts (nicht nur Deutschlands) derzeit die beste Quelle, die öffentlich zugänglich ist und deren Artikel man sogar republizieren darf.
TH
[1] Dies betrifft die Landesverbände in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen..Die Einstufung als „gesichert rechtsextremistisch“ durch den Verfassungsschutz bedeutet, dass die Behörde zu dem Schluss gekommen ist, dass diese Landesverbände verfassungsfeindliche Ziele verfolgen.
Der Verfassungsschutz hat in mehrjährigen Prüfprozessen eine Vielzahl von Äußerungen und politischen Forderungen führender Funktionäre und Mandatsträger gesammelt, die belegen, dass die Landesverbände gegen grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen.
Konkret wird den Landesverbänden vorgeworfen, Positionen zu vertreten, die sich gegen die Menschenwürde, das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip richten. Dazu gehören beispielsweise völkisch-nationalistische, islam- und ausländerfeindliche sowie antisemitische Äußerungen.
Die Einstufung als verfassungsfeindlich ermöglicht es dem Verfassungsschutz, diese Landesverbände mit allen nachrichtendienstlichen Mitteln zu beobachten.
Dies hat auch politische Konsequenzen, da eine Zusammenarbeit mit diesen Landesverbänden für andere Parteien nun noch schwieriger zu rechtfertigen ist.
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