Der Kampf gegen Gender-Apartheid, Hoffnung durch Rechenschaft – zur Situation der Frauen in Afghanistan (Verfassungsblog)

Briefing Geopolitik, Menschenrechte, Afghanistan, Frauenrechte, CEDAW-Initiative, IGH, IStGH, Deutschland, Europa, Demokratieverteidigung am Hindukusch, UNHCR, Madrassa, Abschiebung, Folter, Amnesty International, Human Rights Watch

Wir mussten dem Titel eine kurze Erklärung beifügen, damit der Beitrag, den wir heute vom Verfassungsblog übernehmen, nicht für einen Beitrag zur westlichen Wokeness-Diskussion halten.

Nein, hier geht es nicht um Gleichstellung, Diskriminierungsfreiheit, bessere Sprache, sondern darum, dass Frauenrechte gänzlich zerstört werden, in einem anderen Land namens Afghanistan, das sich in einer anderen Zeit zu befinden scheint.

Auch wenn der Bogen zu den Entwicklungen bei uns zum dortigen Regime, das sich zu einer härtesten Diktaturen der Welt entwickelt hat, von uns aus sehr weit gespannt scheint – der Eindruck, wir rücken alle näher zusammen und überall sind Menschenrechte bedroht, dürfte nicht ganz falsch sein. Und wir müssen dringend den Blick wieder weiten, uns auch Staaten anschauen, die angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza aus dem Fokus gerückt sind. Das liegt in diesem Fall auch nicht so fern, wie man geografisch gesehen vermuten könnte. War Afghanistan, war der Hindukusch nicht vor wenigen Jahren noch der Verteidigungs-Vorposten der Demokratie?.

Von dieser expansiven Ausrichtung der Demokratieverteidigung ist nichts mehr übrig. Vollständiger konnte eine Mission des Westens mit dem Ziel des Exports seiner Werte nicht scheitern. Was dieser riesige Fail für Frauen in Afghanistan im Jahr 2025 bedeutet, beschreibt das aktuelle Editorial des Verfassungsblogs. Wir kommentieren dieses Mal nicht, sondern machen nur auf die Zustände in diesem Land mit dem folgenden Artikel aufmerksam.

Unterhalb des Artikels aber eine Liste aller Publikationen mit internationalem Bezug, die vom Verfassungsblog stammen und die wir im Wahlberliner besprochen oder republiziert haben.

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Der Kampf gegen Gender-Apartheid

Hoffnung durch Rechenschaft / von Shaharzad Akbar auf Verfassungsblog

Vier Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban verschwindet Afghanistan zunehmend aus der öffentlichen Debatte – in Europa wie weltweit. Einer der wenigen verbleibenden Wege, sich mit den Frauen Afghanistans solidarisch zu zeigen und die Hoffnung auf Veränderung am Leben zu halten, ist internationale Verantwortlichkeit. Für Millionen afghanischer Frauen und Mädchen, deren Träume und Ambitionen durch die Taliban-Verbote von Bildung, Arbeit, Bewegungsfreiheit und Zugang zur Justiz zunichtegemacht wurden, sind völkerrechtliche Konsequenzen die letzte Hoffnung. Ansätze, die Taliban vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zur Verantwortung zu ziehen, ein mögliches Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) oder die Initiative zur Kodifizierung von Gender-Apartheid sind wichtige Schritte. Doch sie müssen intensiviert werden, um ernsthaften Wandel anzustoßen.

Im September 2024 erklärten vier Staaten – Deutschland, Australien, Kanada und die Niederlande –, dass sie rechtliche Schritte einleiten wollen, um die Taliban für Verstöße gegen das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) völkerrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Afghanische Frauenrechtsgruppen und die internationale Menschenrechtsgemeinschaft begrüßten diesen Schritt, äußerten aber auch Besorgnis und legten weitere Empfehlungen vor: Sie forderten sicheren und ernsthaften Austausch mit den betroffenen Gemeinschaften innerhalb und außerhalb Afghanistans, wirkliche Teilhabe und Transparenz im Verfahren sowie eine breite internationale Rückendeckung, auch durch Staaten des Globalen Südens und mehrheitlich muslimische Länder. Ein Jahr später warten afghanische Frauen und Menschenrechtsverteidigerinnen noch immer auf konkrete Fortschritte. Während die Taliban ihre Repressionen verschärfen, deutet zugleich vieles auf eine beunruhigende Normalisierung ihres Regimes in der Region und darüber hinaus hin. So unterläuft Deutschlands Praxis, Afghan*innen abzuschieben und hierfür „technische Kontakte“ zu den Taliban zu nutzen, das gegebene Schutzversprechen und den Geist der CEDAW-Initiative.

Im August 2025 jährte sich die illegale und gewaltsame Machtübernahme der Taliban zum vierten Mal. In dieser Zeit ist es ihnen gelungen, ihre Vision eines religiös-autoritären Unterdrückungssystems durchzusetzen. Frauen und Mädchen sind vom Zugang zu Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit ausgeschlossen. Gesichter und Stimmen von Frauen sind in den Medien verboten; ihnen wird der Zutritt zu Parks, Museen, Restaurants, Sportstätten und selbst zu Frauensalons verweigert. Diese Unterdrückung trifft auch Kinder: Schon Mädchen ab neun Jahren riskieren Strafen wegen ihrer Kleidung und werden vom Schulbesuch ausgeschlossen. Weil eine koordinierte internationale Reaktion ausbleibt, verankern die Taliban ihre Verbote zunehmend in repressiven Gesetzen und greifen selbst die wenigen Ausnahmeräume an, etwa die Arbeit weiblichen UN-Personals. Zuletzt wurde diesen der Zugang zu ihren Büros verweigert, woraufhin das UNHCR seine Arbeit einstellen musste – ein weiterer Schlag gegen die Rechte von Frauen und das Völkerrecht.

Afghanische Frauen beschreiben dieses System seit Langem als „Gender-Apartheid“. Die diskriminierenden und unterdrückenden Maßnahmen der Taliban sind systematisch, institutionalisiert und Kernbestandteil ihrer Herrschaft. In ihrer Weltsicht sind Frauen und Mädchen Männern und Jungen untergeordnet. Schulen, Universitäten und Medien dienen ihnen als Werkzeuge zur Durchsetzung dieser Ideologie. Ende 2024 hatten die Taliban bereits 130 Edikte erlassen, die sich direkt gegen Frauen richten. Mit dem Gesetz zur „Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters“, das im August 2024 in Kraft trat, wurde schließlich die Auslöschung von Frauen aus dem öffentlichen Leben kodifiziert.

Meine Organisation Rawadari dokumentiert die Umsetzung dieses Gesetzes und seine Folgen für die Gesellschaft. Eine junge, entfernte Verwandte, Nargis (Name geändert), arbeitete als Hebamme in abgelegenen Regionen Südafghanistans, wo sie für Frauen und Neugeborene lebenswichtige medizinische Hilfe leistete. Ungeachtet von Angst und Einschränkungen blieb sie nach der Machtübernahme der Taliban im Land und setzte ihre Arbeit fort, auch wenn das bedeutete, sich stärker verhüllen zu müssen und nur noch in Begleitung eines männlichen Verwandten reisen zu dürfen. Nebenbei studierte sie Medizin. Doch nach Inkrafttreten des Gesetzes im August 2024 und der Schließung medizinischer Ausbildungsgänge für Frauen im Dezember desselben Jahres sah sie keinen Ausweg mehr und floh Anfang 2025 nach Pakistan. Dort lebt sie nun allein, arbeitslos und von Abschiebung bedroht – ohne ihre Beschäftigung, ihre Gemeinschaft, rechtlichen Schutz und ihre Heimat. Afghanistan hat damit eine engagierte, erfahrene Hebamme verloren. Ihr Schicksal ist eine von tausenden erschütternden Geschichten aus Afghanistans Gender-Apartheid.

Die Taliban bestrafen mithilfe ihrer Institutionen – allen voran dem Geheimdienst und dem Ministerium für die „Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters“ – jeden Widerstand durch unrechtmäßige Haft, Verschleppung und FolterUnabhängige Medien und zivilgesellschaftliche Freiräume werden von ihnen eingeschränkt, während sie mit tausenden neu gegründeten Madrassas eine neue Generation von Anhängern heranziehen. Gleichzeitig gewinnen sie diplomatisch an Boden, zuletzt mit der offiziellen Anerkennung ihres Regimes durch Russland im Juli 2025.

Für die Frauen in Afghanistan zeichnet sich eine düstere Zukunft ab, und die Welt scheint dem gleichgültig gegenüberzustehen. Internationales Handeln ist vor diesem Hintergrund mehr als Symbolik – es ist existenziell. Es bekämpft eine Kultur der Straflosigkeit, kann weitere Verbrechen eindämmen und erhält die Hoffnung derjenigen Frauen aufrecht, die unter einem der repressivsten Regime der Welt für ihre Würde und Rechte kämpfen. Alle Bemühungen um Rechenschaft müssen verstärkt werden, um eine Normalisierung der Taliban im In- und Ausland zu verhindern.

Auch Deutschland muss ein Jahr nach Ankündigung der CEDAW-Initiative seinen Worten Taten folgen lassen, zum Beispiel, indem es ein Verfahren vor dem IGH anstößt. Glaubwürdigkeit, Konsequenz und die Verpflichtung zum Völkerrecht verlangen aber auch, dass Deutschland Abschiebungen nach Afghanistan stoppt und sich insbesondere unter Staaten des Globalen Südens und mehrheitlich muslimischen Ländern um umfassende Unterstützung für die Initiative bemüht. Breite Allianzen für das CEDAW-Vorhaben zu schmieden, ist zuletzt auch dadurch erschwert worden, dass Deutschlands Position im Verfahren Südafrika gegen Israel vor dem IGH seinen internationalen Ruf untergraben hat. Ein breites Bündnis von Staaten unterschiedlicher Regionen und politischer Prägungen würde ein deutliches Signal an die Taliban senden, die stärker auf die Positionen regionaler muslimischer Staaten achten. Deutschland muss nun beweisen, dass es diese Initiative ernst nimmt und nicht lediglich als symbolische Geste oder Druckmittel für Abschiebungen nutzt.

Die CEDAW-Initiative ist aber nur ein Teil der laufenden Bemühungen, Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan aufzuarbeiten, und ergänzt andere wichtige Ansätze. Die Kampagne afghanischer Frauen zur völkerrechtlichen Anerkennung von Gender-Apartheid ist ein Teil davon. Amnesty InternationalHuman Rights Watch und der UN-Sonderberichterstatter zur Menschenrechtslage in Afghanistan haben diese Forderung befürwortet und mitgetragen. Nun ist es an Deutschland, dasselbe zu tun. Der aktuell diskutierte Vertrag über Verbrechen gegen die Menschlichkeit bietet die Gelegenheit, diese Lücke im Völkerrecht zu schließen und Frauenrechte zu schützen. Deutschland sollte sich an die Seite der afghanischen Aktivistinnen sowie Überlebenden stellen und auf die rechtliche Verankerung von Gender-Apartheid im Rechtsrahmen des IStGH-Statuts drängen.

Im Juli 2025 erließ der IStGH Haftbefehle gegen zwei Taliban-Führer – ein bislang seltener Schritt, um nach Jahrzehnten der Straflosigkeit in Afghanistan Rechenschaft einzufordern. Deutschland und andere Staaten müssen das Mandat des Gerichtshofs unterstützen, um die Taliban für geschlechtsspezifische Verfolgung verantwortlich zu machen und von weiteren Verbrechen abzuschrecken. Zudem fordern afghanische Menschenrechtsorganisationen seit Langem einen unabhängigen, internationalen Rechenschafts-Mechanismus für Afghanistan, der zur Aufarbeitung vergangener wie aktueller Verbrechen beiträgt. Eine solche Einrichtung – idealerweise in der laufenden Sitzung des UN-Menschenrechtsrats geschaffen – könnte die Arbeit eines IGH-Verfahrens, die Ermittlungen des IStGH und Verfahren auf Grundlage universeller Gerichtsbarkeit maßgeblich unterstützen, indem sie verlässliche Dokumentationen und Beweise bereitstellt.

Afghanische Frauen und Menschenrechtsverteidigerinnen geben nicht auf. Neben Appellen an die Staaten haben sie selbst gehandelt und das People’s Tribunal for Women of Afghanistan in Kooperation mit dem Permanenten Völkertribunal ins Leben gerufen. Dieses Tribunal soll Überlebenden mit einem „Tag vor Gericht“ eine Plattform bieten, um die systematische geschlechtsspezifische Verfolgung durch die Taliban darzustellen und sichtbar zu machen sowie zugleich neue Solidarität und Unterstützung für Afghanistans Frauen zu mobilisieren. Im Oktober finden in Madrid die Anhörungen statt, bei denen Afghaninnen erneut ein umfassendes Vorgehen einfordern werden, einschließlich konkreter Schritte bei der CEDAW-Initiative.

Während afghanische Frauen unter den Bedingungen der Gender-Apartheid trotz Unterdrückung, Gefahr und Verzweiflung für Hoffnung und Freiheit kämpfen, müssen sich Deutschland und die Welt diesem Kampf anschließen. Gerade in einer Zeit, in der mächtige Staaten das Völkerrecht und die Menschenrechte angreifen, sollte Deutschland nicht seine Versprechen brechen und damit sowohl seine eigene Glaubwürdigkeit unterlaufen als auch die Taliban stärken, sondern seinen Kurs ändern und für Rechenschaft eintreten.

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Liste der besprochenen Artikel des Verfassungsblogs mit internationalem Bezug

  1. Der Kampf gegen Gender-Apartheid (zur Situation der Frauen in Afghanistan, der vorliegende Artikel)

  2. Doppelfolge der „Double Standards“ (Verfassungsblog und Kommentar: Die Standards, ihre Durchsetzung, ihre Relativität oder ihr Wert an sich)

  3. Das Gesetz der Gesetzlosigkeit (Verfassungsblog zur letzten Sitzungsperiode des US Supreme Courts + Kurzkommentar

  4. Das Versagen des NATO-Gipfels und die Zukunft des Friedens – Warum die Unterwürfigkeit Europas seine Sicherheit und das Völkerrecht untergräbt (Verfassungsblog + Kommentar)

  5. Update: „Troops in L.A.“ (Verfassungsblog) +++ Demokratiedämmerung in L. A. – und was sie mit uns zu tun hat (Chronologie, Analyse, Kommentar)

  6. Auch deutsche Beamte könnten sich strafbar gemacht haben“ (Gazakrieg, Israel, Waffenexporte, IStGH – Verfassungsblog, Kai Ambos + Zusatzinfos + Kommentar) (Gazakrieg, Waffenexporte nach Israel, der vorliegende Artikel)

  7. Auf dem Friedhof des Völkerrechts – von Straußen, Eulen und Oktopussen (von uns beigefügt: wie verhalten sich Völkerrechtler, wenn das Völkerrecht zusammenbricht?)

  8. Narrowing the Estonian Electorate (von uns beigefügt: Die Stellung Estlands als Demokratie, estnisches Wahlrecht, deutsches Kommunalwahlrecht)

  9. Die mit den Waffen hungern zuletzt“ (Verfassungsblog zum Gazakrieg) + Leitkommentar und Osterbotschaft (zum Gazakrieg, Blockade von Hilfsgütern seit 02.03.2025)

  10. Wie die Trump-Regierung Wissensinstitutionen angreift

  11. Trumps Gegenverfassung

  12. Das Militär einzusetzen ist eine echte politische Zäsur (Trumps Migrations- und Grenzregime und Anmerkungen  zum Staatsbürgerschaftsrecht)

  13. Es sieht eher nach einem gesteuerten Übergang als nach einer Revolution aus (zum Regimewechsel in Syrien)

  14. Der Messias und seine Oligarchen (US-Präsidentschaftswahl 2024)

  15. Auf Messer Schneide (US-Präsidentschaftswahl 2024)

  16. Navigieren durch die Dunkelheit (in erster Linie zum Nahostkonflikt)

  17. Im Grunde war das eine für österreichische Verhältnisse ganz normale Wahl

  18. Trump vs. United States und Roe vs. Wade

  19. Von verfasstem Recht und verstecktem Gift – ein Brief aus London

  20. Taiwans verfassungsrechtlicher Showdown

  21. Das EU-Projekt auf der langen Bank?

  22. Georgiens Rechtsstaatskrise

  23. Unboxing the EU Body for Ethical Standards

  24. Unfrei, unfair und unsicher – ein Brief aus Ankara

  25. Herkules oder Sisyphus? Vom Erbe des gesetzlichen Unrechts im post-autokratischen Polen

  26. Argentiniens gefährliches Experiment

  27. Netanjahu in Berlin, Scholz besorgt → “In der Existenz bedroht“ – Israel auf dem Weg zur faschistischen Theokratie?

     

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