75 Jahre Grundgesetz: Welche Grundrechte sind den Menschen wichtig, wie sieht die Realität aus und Europawahl voraus, Verhältnis von GG und europäischem Recht (Leitkommentar) | Briefing 534 | Recht, Gesellschaft, 75 Jahre Grundgesetz, BVerfG, Politik, EuGH, DiG Demokratie in Gefahr

Briefing 534 Recht, Gesellschaft, 75 Jahre Grundgesetz, BVerfG, Politik, EuGH, Rechtsetzung, Menschenwürde und andere Grundrechte, Priorisierung, Ewigkeitsgarantie, Demokratie in Gefahr, DiG

Heute ist ein ganz wichtiger Tag, das wissen Sie sicher. Heute vor 75 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft. Es ist ein  historischer Tag für ältere Menschen, die mit ihm erwachsen wurden, für noch ältere, die noch unter ganz anderen Bedingungen gelebt haben.

Das Vermächtnis dessen, was durch das Grundgesetz, das am 23.05.1949, mehrere Monate vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, ist vor allem aber ein Auftrag für diejenigen, die sein 100-jähriges Besetzen ebenfalls noch feiern wollen.

Ist dieses nächste große Jubliäum selbstverständlich? Wir meinen, das ist es nicht. Das Grundgesetz ist noch nicht in direkter Gefahr, abgeschafft zu werden, aber, wie es angewandt, ausgelegt, wie die Prioritäten der Grundrechte gesetzt werden, das prägt die Verfassungswirklichkeit. Diese weicht erheblich von der Dogmatik des Grundgesetzes ab – und auch von dem, was den Menschen gemäß einer Umfrage wichtig ist. Deshalb zunächst zur 75-Jahre-Grundgesetz-Grafik von Statista:

75 Jahre Grundgesetz: Menschenwürde am wichtigsten

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erlassen. Es ist die Verfassung auf der unser Land, wie wir es heute kennen, seit jeher fußt. In den insgesamt 146 Artikeln finden sich allgemeine Regelungen zu Bund und Ländern, Verfassungsorganen, Gesetzgebung, Rechtsprechung und dem Finanzwesen.

Der wohl wichtigste Bestandteil des Grundgesetzes sind die in den ersten 19 Artikeln festgehaltenen Grundrechte. Sie garantieren etwa Meinungs- und Pressefreiheit, Glaubensfreiheit oder Gleichberechtigung. Der erste Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Dieser Grundsatz wird von der allgemeinen Bevölkerung als wichtigstes Grundrecht in der Verfassung angesehen, wie die Statista-Grafik auf Basis einer YouGov-Umfrage zeigt. Demnach zählen mehr als die Hälfte der Befragten den ersten Artikel zu den drei für sie persönlich bedeutendsten Grundrechten. 49 Prozent wählten das Prinzip der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, die Gewährleistung der Meinungs- und Pressefreiheit wurde mit 40 Prozent am dritthäufigsten genannt. Weniger Gewicht haben laut Umfrage hingegen die in Artikel vier vermerkte Glaubens- und Religionsfreiheit sowie die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht (jeweils 13 Prozent).

Kommentar

So, wie die Menschen es sehen, sinnigerweise wurden solche im Alter bis 75 befragt, die also sozusagen mit dem Grundgesetz geboren wurden. So, wie die Menschen es sehen, steht es auch im Gesetz selbst. Die Abfolge der obigen Balken entspricht zwar nicht exakt derjenigen der Artikel im Grundgesetz, außerdem ist Diskriminierungsfreiheit in implizites Recht, keines, das einen eigenen Artikel hat. Grundsätzlich ist dies Priorisierung aber eine gute Basis für das Verständnis des Grundgesetzes.

Am wichtigsten ist die Menschenwürde. Sie ist ein Meta-Grundrecht, an dem sich alle anderen Grundrechte und auch das einfache Recht auszurichten haben. Sie seht ganz vorne und klammert alles andere. Sie ist der reinste Ausdruck von „nie wieder“. Nie wieder die totale Entwürdigung so vieler Menschen wie bis 1945. Deswegen steht die Menschenwürde ganz vorne.

Art. 1 GG zählt  zu den wenigen Regelungen, die eine „Ewigkeitsgarantie“ haben, also von keiner noch so großen Mehrheit abgeschafft werden können. Die weiteren so geschützten Regeln stehen allerdings nicht im Grunderechtekatalog von Art. 1 bis 19, sondern sind in den folgenden Regelungen festgehaltene Staatsprinzipien: Demokratie, Bundesstaat, Sozialstaat. Sie gelten als konstitutiv für den deutschen Staat  und sind nicht verhandelbar. Es sei denn, man würde das Grundgesetz im Ganzen abschaffen. So, wie es der Weimarer Verfassung nach einer viel kürzeren Zeit ergangen war.

75 Jahre Stabilität hingegen sind in Deutschland etwas ganz und gar Außergewöhnliches, das man nicht hoch genug einschätzen kann. Auf dem Gebiet der DDR merkt man deutlich, wie viel es im Sinne einer gefestigten Demokratie ausmacht, wenn davon 40 Jahre fehlen. 

Das bedeutet nicht, dass es nicht auch im Westen gefährlich für diese Demokratie werden kann. Ganz und gar nicht, wie wir an den letzten vorliegenden Wahlergebnissen aus dem Herbst 2023 (Landtagswahlen in Bayern und Hessen) gesehen haben. Außerdem gehen fragwürdige Einstellungen bezüglich der Demokratie weit über das Wählen von Parteien hinaus, die demokratiefeindlich sind.

Und in etwas mehr als zwei Wochen sind Europawahlen. Wir sollten alle in die Wahlkabine gehen mit dem Grundgesetz im Herzen und das, was national und in der EU geschieht, an seinen Zielen messen, an diesem Gesetz ingesamt, das eine der besten Verfassungen der Welt darstellt. Ist deswegen Verfassungsstolz angesagt als eine mögliche Form von Patriotismus? Wir meinen, nein. Wir beziehen das Grundgesetz stark in unsere politische Denkweise ein, aber wir haben es nicht gemacht und Sie alle  haben es auch nicht gemacht. 

Es wurde uns nämlich geschenkt, uns, den Nachfahren derjenigen, die eine der brutalsten Diktaturen aller Zeiten nicht verhindert oder sogar gewollt haben, die sie funktionabel gemacht, ihre Menschenrechtsverletzungen exekutiert haben. Das Grundgesetzt ist, auch wenn die „Väter und Mütter der Verfassung“ Deutsche waren, buchstäblich vom Himmel gefallen, der sich in einem sehr günstigen Moment der direkten Nachkriegssituatioin auftat. Die Westalliierten brauchten Westdeutschland und wollten ein Land nach ihrem eigenen Vorbild schaffen und beauftragten den Entwurf einer Verfassung. Dass dabei so viel Eigenständigkeit herauskam, ist aber das eigentliche Wunder. Denn das Grundgesetz schreibt nicht eine Ordnung wie in den USA oder Großbritannien vor, sondern ist offen für viele Entwicklungen. Leider wurden viele Chancen vertan, diese Möglichkeiten zu nutzen und es wird schlimmer. 

Der Artikel, der in der Realität der wichtigste ist, wird weder im Text von Statista genannt, noch ist er bei den wichtigsten Grundrechten auf der Grafik  zu sehen. Dies, obwohl die Religionsfreiheit mit nur 13 Prozent „Besonders-wichtig-Anteil“ nicht gerade sehr hoch eingeschätzt wird. Man kann natürlich auch sagen, die Menschenwürde umfasst ja das alles auch, wer sie hochhält, der kann nicht fehlgehen, wenn es um die Menschen- und Bürgerrechte geht, die unter ihrer Ägide als dem höchsten der Grundrechte ausgestaltet werden. So viel zur Theorie.

Wir haben bei der Beobachtung von Politik und sozialen Kämpfen leider sehen müssen, dass die Menschenwürde und alle anderen Grundrechte im Zweifel einem einzigen Grundrecht geopfert werden, das weder mit Ewigkeitsgarantie versehen ist und das sogar selbst in seinem zweiten Absatz Beschränkungen enthält. Schon diese Beschränkungen werden nicht ernstgenommen. 

Es handelt sich  um Art. 14 GG, Grundrecht auf Eigentum. Dieses Recht ist mittlerweile zur realen Staatsideologie geworden und steht über allem anderen. Auch dann, wenn damit vor allem in der Wohnungswirtschaft viele andere Grundrechte verletzt werden, inklusive der Menschenwürde. Ein kleiner Haufen von Neoliberalen hat es geschafft, das Grundgesetz weitgehend als Waffe im Sinne von Art. 14 Abs. 1 einzusetzen und damit gegen die Mehrheit der Menschen zu richten, die nicht zu den Kapital Eignenden gehören und vielleicht auch Mieter:innen sind. Auch Art. 2 GG, freie Entfaltung der Persönlichkeit, wird im Grunde diesem Artikel untergeordnet, obwohl er viel weiter vorne steht. Die Reihenfolge der Artikel ist eine wichtige Auslegungsgrundlage, wennn es um die Priorität von Grundrechten geht, die aber konsequent missachtet wird. Bei Artikel 2 ist es sogar so: Er wird umgedreht in der Form, dass freie Entfaltung der Persönlichkeit nur einer kleinen Gruppe möglich ist, die über andere verfügen kann.

Das Grundgesetz ist nach 75 Jahren in einer gefährlichen Schieflage, seine Auslegung, und praktische Anwendung betreffend. Es dient Minderheiten immer mehr dazu, sich die Politik zu kaufen, die nach dem Grundgesetz alle schützen sollte, die Mehrheit zu dominieren. Je mehr die Ungleichheit wächst, desto mehr geraten viele Grundrechte ins Abseits, ebenso wie das Sozialstaatsprinzip, das, anders als das Eigentumsrecht, zu den nicht verhandelbaren Regeln des Grundgesetzes zählt.  Bei vielen Dingen des Lebens herrscht schon jetzt keine echte Wahlfreiheit mehr und Gleichheit in aktueller Ausprägung meint weder Gleichheit vor dem Gesetz noch Chancengleichheit.

Das Bundesverfassungsgericht mit seiner überwiegend konservativen Besetzung arbeitet daran mit, das Grundgesetz weniger ehrenhaft wirken zu lassen, als es aus seinen Artikeln hervorgeht, wenn man sie ganz unbeleckt von der hiesigen Rechtswirklichkeit liest und mit dem Idealismus, welcher den die Politik Gestaltenden längst abhandengekommen ist. Einige einst klare und einfache Regeln im Grundgesetz selbst wurden aufgeblasen und verwässert. Von der schlichten Schönheit dieses Werks ging dadurch einiges auf eine sehr offensichtliche und symbolische Weise verloren, anderes wird durch einfache Gesetze so verschoben, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes mit Sicherheit sehr traurig darüber wären, wie man mit ihrem Werk umgeht. 

Die Verstöße gegen die Prinzipien und der immer deutlicher hervortretende Unwille der Politik, das Grundgesetz in seiner Gesamtheit zu achten, machen diese Gesellschaft anfällig für autoritäre Tendenzen und letztlich auch das Grundgesetz anfällig für seine Abschaffung.

Es gibt keine Gemeinschaft der es schützenden Demokraten, sondern nur eine Gemeinschaft von jenen, die es als Mittel zur Durchsetzung von Partikularinteressen gerne weiterhin ausnutzen wollen und dabei zutiefst gegen seinen Geist handeln und somit dafür sorgen, dass diese Gesellschaft unzufriedener wird, mehr von Gewalt, Hass und Intoleranz und immer weniger von humanistischen Ansätzen geprägt wird. Diese Ansätze zur Ermöglichung einer besseren Gessellshaft sollten nach der NS-Diktatur nicht nur wichtig anhaltend wichtig, verpflichtendes Erbe, sondern heilig sein für alle, die sich Demokrat:innen nennen. Das sind sie aber erkennbar nicht.  Auch viele Mitbürger:innen haben ein komplett verengtes und falsches Verständnis des Grundgesetzes und der Demokratie, wie sie nach dessen Regeln gestaltet sein sollte.  

Hingegen wird das Grundgesetz mehr und mehr einseitig in die Wirklichkeit eingearbeitet, es wird ausgehöhlt, am Ende kann die leere Hülle weg. Man kann sie auch behalten, wenn es keine Grenzen dafür gibt, viele der in ihre enthaltenen Bestimmungen zu missachten. Das Grundgesetz ist dann eine Fassadenverfassung. 

So weit ist es trotz der dramatischen Einseitigkeit, mit der das Grundgesetz in Richtung Neoliberalismus getrieben wurde, noch nicht. Man darf sich noch einigermaßen frei äußern.

Das Dumme ist: Es nützt nicht viel. Nie war das Gefühl der Menschen in Deutschland seit der Einführung des Grundgesetzes so groß, ohnmächtig dem Lauf der Dinge gegenüberzustehen und dem, was die Politik macht. Und wir meinen, dieses Gefühl ist berechtigt. Wir sagen aber auch: Warum wählt ihr immer wieder dieselben Parteien, deren Vertreter euch nicht mehr dienen?  Noch gibt es die Möglichkeit, etwas Neues zu versuchen.

Wir haben in vielen Artikeln festgehalten, dass wir Demokratie nicht für den Terror der Mehrheit halten, das lässt sich auch gut mit dem Grundgesetz begründen. Der Minderheitenschutz ist in vielen seiner Artikel implizit verankert. Zum Beispiel in der Religionsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, dem Gleichheitsgrundsatz, der freien Meinungsäußerung für alle, auch wenn sie nicht die Mehrheitsmeinung vertreten. Aber es ist sehr gefährlich, wenn die Wirklichkeit immer mehr von der Wirksamkeit dieser Rechte abgekoppelt wird. 

Dieses Phänomen sehen wir in vielen Demokratien und einige sind in den letzten Jahren dramatisch gescheitert oder werden gerade gekippt. Warum ist das so? Oben steht es. Die Gesellschaften sind nicht mehr überzeugt davon, dass zu erwarten ist und haben Angst, dass es schlimmer wird, fühlen sich nicht ernstgenommen. Da kann man die Demokratie auch gleich offiziell abschaffen. Das ist natürlich sehr pointiert, aber die Unruhe in den westlichen Demokratien und der permanente Abstieg von wichtigen Ländern des demokratischen Clusters im Konzert der konkurrierenden Systeme bei wichtigen Rankings, die sich mit Demokratie und Freiheit befassen, ist alarmierend. 

Deutschland ist von dieser Entwicklung keinesfalls ausgenommen. Es zählt zum Beispiel nicht mehr zu den Spitzenreitern in Sachen Pressefreiheit. Wegen vieler Einwirkungen auf die Demokratie und auch wegen solchere Beobachtungen haben wir deshalb ein Hashtag beim Wahlberliner, das #DemokratieinGefahr heißt oder #DiG. Wir setzen es selten so ein,  sondern trennen die drei Wörter, weil wir nicht beanspruchen, hier einen Trend setzen können, der zur Verselbstständigung, zur „Viralität“ führt. Wir erstellen aber gerade das Gesamtverzeichnis aller bisherigen, fast 6.000 veröffentlichten Artikel des Wahlberliners, das am Ende auch ermöglichen soll, zum Beispiel alles, was für uns mit Demokratie in Gefahr zu tun hat, schnell ermitteln und damit mehr in Zusammenhängen schreiben und besser verweisen zu können als nur mit der Suchfunktion.

Es ist mittlerweile eine dreistellige Zahl von Artikeln, die mit „Demokratie in Gefahr“in Verbindung stehen, auch der vorliegende. Es ist nicht schön, es bereitet Sorge, dass man das 75-Jährige des Grundgesetzes nicht einfach feiern kann, sondern einen Zustand seiner Umsetzung in die Wirklichkeit beschreiben muss, an dem viel zu kritisieren ist, vor allem eines: Noch 75 Jahre wird das Grundgesetz nicht halten, wenn es weiterhin von der Politik so behandelt wird wie im Moment, inklusive der Tendenz, nach immer weiteren Möglichkeiten zu seiner Aushebelung zu suchen, ohne es formal abschaffen oder auffällig in Richtung Freiheitseinschränkung ändern zu müssen. 

Leider hat diese Entwicklung auch mit der EU zu tun, deren Normsetzung über allen nationalen Normsetzungen steht, zumindest ist das die herrschende Meinung auch bezüglich der deutschen Verfassung. Das wiederum hat dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht in manchen Entscheidungen quasi in die Regression gegangen ist, sich nicht mehr für zuständig erklärt hat und damit angedeutet hat, dass es sich selbst für nicht mehr so relevant hält. Vor allem nach der Bankenkrise wurde das sichtbar. Seitdem ist die Rechtsprechung des BVerfG viel konservativer geworden. Auch beim höchsten deutschen Gericht scheint der Idealismus weg zu sein, der sich aus dem Selbstverständnis einer wichtigen Machtposition heraus ergeben hat, die es ermöglichte, wirklich um das Recht zu ringen, fast frei von allen Einflussmöglichkeiten von außen. 

Nach unserer Ansicht müsste die hiesige Verfassung immer noch über allem anderen Recht stehen, an ihren Grenzen zeigen sich die Grenzen jedweden anderen Rechts. Niemand darf Recht setzen, das nicht dem Grundgesetz entspricht, niemand sollte das Grundgesetz beugen müssen, um zum Beispiel EU-Recht in nationale Regeln zu transformieren. Dass diese Umsetzung oft nicht glatt läuft, zeigt, es gibt noch Schranken, aber eine Verfassung, die sich einfachem Recht einer als höher angesehenen Ordnung beugen muss, ist im Grunde ihrer Schutzfunktion beraubt. In vieler Hinsicht wäre es gut, wenn in Deutschland das glelten würde, was in anderen Ländern selbstverständlich ist, zum Beispiel eine stärkere Stellung des Staates gegenüber dem Kapital, es wäre auch problemlos grundgesetzkonform. Aber nur, wenn man es für sich nimmt und zurückdrängt, was sich an Einseitigkeiten bei seiner Implementierung in die Realität inzwischen ergeben hat.

Eigentlich müsste das Grundgesetz auch eine Schranke gegen eine zu ewartende Rechtslastigkeit der EU sein. Was dort zum Beispiel dann unter der Ägide von Rechtspopulisten beschlossen wird, müsste sich am Grundgesetz messen lassen. Das wird aber nicht der Fall sein, wenn man das Grundgesetz als nachrangig gegenüber EU-Recht ansieht. Wir haben ein wenig bei der KI nachgefragt, weil wir es genauer wissen und nicht an einem Narrativ festkleben wollten:

Das Verhältnis zwischen EU-Recht und dem deutschen Grundgesetz ist komplex und kann nicht eindeutig als Über- oder Unterordnung definiert werden1.

Obwohl das EU-Recht grundsätzlich Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht genießt (auch gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht), steht es nicht »über« dem Grundgesetz1Es besteht kein Über- oder Unterordnungsverhältnis zwischen der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland und der europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung1.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) pflegen ein »Kooperationsverhältnis« und keines der beiden Gerichte erhebt den Anspruch, rechtlich über dem anderen zu stehen1.

Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass das BVerfG sich prinzipiell vorbehält, als letzte Instanz Recht sprechen und gegebenenfalls sogar europäisches Recht und Rechtsprechung ignorieren zu können, falls der europäische Grundrechtsschutz das laut Grundgesetz erforderliche Schutzniveau unterschreiten sollte1.

Auf der anderen Seite hat es bereits wichtige Entscheidungen des EuGH gegeben, die dazu geführt haben, dass das Grundgesetz geändert werden musste, weil einzelne Artikel nicht gemeinschaftsrechtskonform waren1.

Das Verhältnis von Grundgesetz und EU-Recht wird in Zukunft entscheidend davon abhängen, inwieweit der EuGH willens und in der Lage ist, den europäischen Grundrechtsschutz weiterzuentwickeln1.

Hier zum gesamten Artikel beim bpb, auf den sich der Copilot ausschließlich bezogen hat.

Sehen Sie, was dieser Artikel im Ganzen ausdrückt?  Selbstverständlich steht ein vorrangiges Recht auch  „über“ dem nachrangigen Recht. Man macht es sich nicht so einfach, aber konsistent ist es nicht, „über“ hier nicht gleisetzen zu wollen mit „vor“.

Im Jahr 2000 hat in der Tat der EUGH geurteilt, dass in Deutschland die Gleichberechtigung (Art. 3 GG) nicht genug verwirklicht sei, weil Frauen der Dienst an der Waffe in der Bundeswehr verwehrt wurde. Dass wir heute Soldat:innen haben, die das Gleiche tun wie Männer, den Dienst betreffend, ist also einer Intervention des EuGH zu verdanken. 

Aber wie wir sehen, ist das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH unklar, der EGMR wird dabei noch gar nicht ins Spiel gebracht (der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte). Das BVerfG könnte sich auch auf eine sehr einschränkende Position einlassen und darauf zurückziehen, diese sei grundrechtskonform. Es könnte zum Beispiel dem Drang der EU, alles privatisieren und finanzialisieren zu wollen, weiter nachgeben und damit eine weitere Vereinseitigung der Praxis der Grundrechteverwirklichung freien Lauf lassen. Ein paar formale Schutzrechte mehr, aber ökonomisch eine weitere Einschränkung für die Mehrheit. Das ist durchaus möglich und es sieht nicht so aus, als ob das BVerfG sich dem mit aller Macht entgegenstemmen würde. Wieso auch, angesichts der eigenen Tendenz zur immer konservativ-neoliberaleren Auslegung des Grundgesetzes, die sich mit der oben angesprochenen Rückzugstendenz ungut vereinigt.

Das Grundgesetz kann für eine schönere Gesellschaft eine wundervolle Grundlage sein, es bietet aber wenig Schutz vor dem Gegenteil, wenn EuGH und BVerfG, wenn EU-Recht und deutsches Recht zusammen mit großer Macht auf das Gegenteil hinwirken. Es wird für Menschen, die sich dem entgegenstemmen wollen, sogar noch schwieriger, weil die vom BVerfG erlaubte Praxis auf EU-Recht fußt, das von seinen Ersteller:innen sehr wohl für vorrangig und auch für übergeordnet gehalten wird, sonst wäre dessen Umsetzung in nationales Recht  nicht verpflichtend. Zu sagen, die Umsetzung in nationales Recht verhindert ja gerade die Überordnung, ist im Grunde Wortklauberei.

Insofern windet sich der Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung. Man will nicht so tun, also ob alles klar wäre und immer die höchsten Standards sich durchsetzen müssten, aber man scheut sich davor, auszudrücken, dass das BVerfG in einer defensiven Position ist und dazu tendieren könnte, viel Raum für eine im Grunde weitere Verschiebung der Rechtswirklichkeit in Deutschland in die Richtung zu geben, die wir oben kritisiert haben. Vielleicht ist es sogar so, dass einige sehr konservativ-neoliberale Entscheidungen der letzten Jahre antizipieren, dass eine Sache, hätte man anders entschieden, vor den EuGH gegangen wäre und man sich von diesem hätte düpieren lassen müssen, was einen weiteren nunmehr eindeutig festgeschriebenen Machtverlust für das BVerfG bedeutet hätte. Es gibt kein Machtvakuum im rechtlichen Raum. Er ist vollständig gefüllt mit Normen, selbst dann, wenn immer wieder neues Recht gesetzt werden muss, um neuartige Sachverhalte zu normieren oder anhand von Fällen erkennbar gewordene Präzisionsmängel zu beseitigen. Und er ist, wenn man dem Text der BpB folgt, vernebelt von Unklarheiten, sodass es zu Kollisionen ohne eindeutige Verkehrsregeln kommen kann.

Das Grundgesetz, und das ist seine Stärke und Schwäche zugleich, ist sehr auslegbar, ohne dass irgendwer noch einmal über das schaut, was das BVerfG und der EuGH daraus für die Rechtswirklichkeit formen. Es ist eine Verfassung, in der zwar festgeschrieben ist, dass sie widerständig gegen die Abschaffung ihrer Prinzipien sein soll, die aber, wie jedes gute Recht, den guten Willen derer voraussetzt, die es immer weiter formen, es zum Guten zu formen. Diesen Willen sehren wir derzeit als bei weitem nicht hinreichend gegeben an. 

Es tut uns sehr leid, das zum 75-jährigen Bestehen des GG schreiben zu müssen. Es hätte noch Kritik außerhalb der faktisch-rechtlichen Priorisierung des Art. 14 Abs. 1 GG gegenüber allen anderen Grundrechten gegeben, aber wir wollen nicht zu sehr in die aktuelle Weltpolitik wandern, um dafür Beispiele zu finden, wie zum Beispiel eine äußerst fragwürdige Praxis bezüglich der Versammlungsfreheit mit wiederum großen Einseitigkeiten, die sich in letzter Zeit erschreckend schnell festfrisst. Im Grunde nämlich unterfällt alles derselben Ideologie, die immer mehr über dem Grundgesetz steht: Alles den Bedürfnissen der Herrschenden anpassen zu wollen, hierzulande und anderswo. Dafür wird gerne die Entstehung von noch mehr Hass zwischen den Völkerin in Kauf genommen.

Der Zenit der Demokratie ist vorerst überschritten. Er wurde erreicht, als das Grundgesetz noch relativ jung war, Anfang der 1970er Jahre. Einige formale Gleichstellungverbesserungen können nicht darüber hinwegtäuschen und können nicht kaschieren, dass es mit diesem großen Wurf, den das Grundgesetz darstellt, immer kleiner  und engstirniger umgegangen wird. Dieser Umgang ist nur eine von vielen Gefahren für die Demokratie. Er verstärkt aber die übrigen Gefahren, weil er dem Grundgesetz Akzeptanz raubt und es damit anfälliger dafür macht, weiteren Gefahren nicht standzuhalten.

Wir wiederholen uns zum Abschluss gerne noch einmal: Keine schöne Feststellung, in einer Zeit, in der ein Werk wie das Grundgesetz mehr denn je als eine Ikone, eine Aufforderung, die beste mögliche Demokratie zu entwickeln, angesehen werden sollte, als ein Kulturgut höchster Wertigkeit, mit dem man nicht umspringen darf, wie man aus niederer politischer Gesinnung heraus gerade lustig ist. Wir hoffen, dass wir nicht das Ende des Grundgesetzes noch erleben müssen. Mehr zu wünschen, wagen wir nicht mehr, angesichts der Entwicklungen in Deutschland, die wir in den letzten Jahren gesehen haben und die jeden Tag neuen Anlass zur Besorgnis geben.

TH

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