Gerd Ruge zum 90. Geburtstag / WDR 09.08.2018, 23:25 Uhr / #GerdRuge #Geburtstag #Weltspiegel #Reportage

TV-Tipp WDR 09.08.2018, 23:25 Uhr

Dieses fetzige Jingle – und die beiden Kommas, die aus der Weltkugel herortraten und in Schüben immer größer wurden, bis sie fast den ganzen Bildschirm ausfüllten. Die originale Titelmusik (Tamm-tamm-tamm-tamm-tamm-tatata-tamm oder so ähnlich) ist so klassisch und gut, das sie noch heute verwendet wird, nur werden die Zuschauer nicht mehr mit diesen Satzzeichen erschreckt, die wirken, als wollten sie gleich aus dem Fernseher mitten in den Raum hopsen. Wieso eigentlich nicht? Wäre in 3D doch echt knorke.

Jedenfalls war dieser Einstieg in die Sendung ein klares Signal: Diese Welt ist ein spannender, thrilliger Ort.

Meine politische Bildung begann mit Gerd Ruges (und Klaus Böllings) Weltspiegel. Ich glaube, es war die erste Sendung nach der mit der Maus, die ich problemlos anschauen durfte, da waren Spielfilme oder Serien aller Art noch lange nicht genehmigt. Es war also Sonntagabend (oder lief der Weltspiegel damals noch samstags?), ich saß frisch gebadet  und mit Handtuch um den  Kopf quer auf dem Sofa und etwas weiter vorne im Sessel mein Vater und wir schauten zusammen Weltspiegel. Kommentiert wurde wenig, nur geschaut und den faszinierenden Blick in die Welt genossen – und meine Mutter war nie dabei. Weltpolitik war Männersache. In Schwarz-Weiß, denn fernsehmäßig waren wir echt konservativ. Noch mehr als in manchen anderen Dingen des Lebens.

Aber die Reportagen aus allen Erdteilen wirkten dennoch farbig für mich, lebendig und das einzige Format seiner Art, im Zwei-Kanäle-System des damaligen deutschen Fernsehens. Nur die ARD konnte sich dieses Korrespondentennetzwerk leisten, zu dem auch und besonders Gerd Ruge gehörte. Ich erinnere mich an meine erste Weltspiegel-Zeit eher in Verbindung mit dem Gesicht von Dieter Kronzucker. Und Dagobert Lindlau. Allein der Name. Das war Autorität und geballte Kompetenz auf der Mattscheibe. Peter Scholl-Latour, war der nicht damals auch noch für den Weltspiegel tätig? Jedenfalls hatten wir „Der Tod im Reisfeld“ und eines oder zwei weitere Bücher von ihm.

Wenn Gerd Ruge berichtete, nahm ich in diesen sehr jungen Jahren noch nicht wahr, wie besonders der Mann ist. Ich habe das erst durch Specials über ihn oder von ihm, die es ja immer wieder mal gibt, viel später erfasst.

Er war wirklich eine Stimme seiner Zeit. Ich schreibe „war“, weil er ja nun doch aus dem aktiven Mediendasein ausgeschieden ist.  Unverwechselbarer, sehr sachlicher 60er-Journalismus, das kennzeichnete seinen Stil bis zum Ende. Ich kenne leider wenig von ihm aus den 1950ern, aber für mich ist er „60er“ und vielleicht „70er“, jene Zeit, in der auch Fußballkommentatorten im Fernsehen, höchstens  „Tor“ sagen (ohne Ausrufezeichen) und sonst nichts und vielleicht den Namen des Spielers, der gerade den Ball erlange, denn damals standen die Namen noch nicht auf den Rückseiten der Trikots und die Satellitenbilder waren manchmal nicht so richtig doll.

Gerd Ruges etwas dünne, aber distinguierte Stimme, oft gleichmütig, aber nie gleichgültig wirkend, ist unverwechselbar und unwiederholbar. Die Beiläufigkeit machte die Dinge groß und wichtig seine Reportagen fühlten sich an, als sei man mitten auf dem ewigen Strom des Lebens unterwegs und nach jeder Stromschnelle komme wieder ein ruhigerer Abschnitt. Bei allen furchtbaren Ereignissen, die dort gezeigt wurden, gerade der sachliche Stil des Weltspiegels kennzeichnete in als Format mit politischer Mission. Wir haben mit ihm gelernt, nicht alles aus unserer und auch nicht zu sehr aus eurozentrischer Sicht zu sehen. Die Welt war immer wichtig und von je weiter weg berichtet wurde, desto faszinierender. Ich kann mich allerdings erinnern, dass mir das europäische Klein-Klein mit einigermaßen vertrauten Szenarien mehr lag als die exotischen Gegenden und die Vorgänge dort, die immer so grundsätzlich erklärt werden mussten, weil wir ja wirklich kaum Ahnung  davon hatten.

Natürlich hat Gerd Ruge viel mehr gesagt als ein Sportreporter und war sehr genau, indem er viel und sehr beiläufig beschrieb, was man nicht sehen konnte und sehr zurückhaltend kommentierte. Meistens jedenfalls. Und natürlich ist er auch berühmt geworden, weil er während der politischen Morde 1967, 1968 in den USA tätig war und darüber auf bewegende Art und Weise Zeugnis gab.

Das war vor meiner Weltspiegel-Zeit, ich  kenne nur kurze Ausschnitte aus diesen Reportagen, die in späteren Ruge-Specials gezeigt wurden – aber für mich gehört er heute zu den letzten lebenden Legenden des deutschen Qualitätsjournalismus – ohne Anführungszeichen. Natürlich hat jede Reportage auch ein Drehbuch und eine Trendenz, aber die Wertigkeit der damaligen Weltspiegel-Beiträge zeugt von der großen Verantwortung, deren sich der öffentlichrechtliche Rundfunk bewusst war, denn diese Sendungen spiegelten in der Tat die Welt, aber sie waren auch ein Fenster in Teile der Welt, die uns verschlossen waren. Die uns heute noch verschlossen sind, soweit es um Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten geht.

Gerd Ruge lebt noch, daher nicht zur Erinnerung an ihn, aber zur Erinnerung an seine  journalistische Arbeit diese Empfehlung für morgen Abend um 23:25 Uhr, WDR.

TH

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