Crimetime 281 - Titelfoto © RBB / DRA, Christian Becke
Humor ist, wenn man den Niedergang der Ideale deskriptiv behandelt
Regisseur Helmut Krätzig zeichnete nicht nur für den allerersten Polizeiruf 110 verantwortlich („Der Fall Lisa Murnau“), sondern inszenierte 20 Jahre später auch „Unter Brüdern“, den ersten Vereinigungsfilm der Reihen Tatort und Polizeiruf 110. Danach allerdings wurde es ruhig um den Regisseur, der im vergangenen Jahr im Alter von 85 Jahren verstarb. Wir haben in seiner Filmografie 21 Polizeirufe gefunden, womit er zu den profiliertesten Machern dieser Reihe gehört. Irgendwo zwischen den frühen Jahren und den wenigen Filmen, die er nach der Wiedervereinigung noch betreut hat, liegt „Draußen am See“. Der Film hat uns ziemlich verblüfft. Vor allem, weil wir so viel über den Humor darin lachen mussten. Ach ja? -> Mehr in der Rezension.
Populärpsychologe und Sachbuchautor Ralf Bohnke verabschiedet sich von seiner Frau Marianne, weil er sich in Berlin mit seinem Lektor zu Arbeitsgesprächen treffen will. Seine Frau ist ihm vor allem Hausfrau und Mitarbeiterin. Längst sieht er sie nicht mehr als gleichwertigen Ehepartner und sie ordnet sich ihm völlig und bedingungslos unter. Marianne weiß nicht, dass Ralf ein Verhältnis mit seiner Lektorin Marlies Schmauch hat. Sie treffen sich in Berlin und fahren kurze Zeit später an einen See, wo Ralf mit seinem Motorboot angibt und mit Marlies in hoher Geschwindigkeit über den See rast, bis sie ihn voll Angst bittet, anzuhalten. Am See sind auch Juliane Gerbach und ihr Freund Frank angekommen.
Die 16-jährige Juliane ist ein Heimkind und Frank ihre erste große Liebe. Beide wollen heiraten, sobald Juliane volljährig ist. Sie schwimmen auf den See hinaus. Ralf stiehlt unterdessen auf Anweisung von Marlies einige Miniaturbilder von einem Wassergrundstück, wo gerade ein Umzug stattfindet. Übermütig fliehen sie per Boot vom Tatort. Zu spät sehen sie den im Wasser schwimmenden Frank. Ralf überfährt den Jungen, hält jedoch nicht an. Das Boot versteckt er wenig später im Schilf, trägt Marlies an Land und kehrt am selben Tag zu seiner Frau zurück. Er erklärt ihr, dass die Frau eines Gesprächspartners, den er treffen wollte, überraschend verstorben sei und er deswegen vorzeitig von seiner Reise zurückgekommen sei. Spontan verreist er mit Marianne, gesteht ihr aber wenig später seine Tat. Er gibt vor, allein im Boot gefahren zu sein. Weil er der Verdiener der Familie ist, überzeugt er Marianne davon, die Tat auf sich zu nehmen. Er entwirft detailliert ihr Geständnis und übt mit ihr sogar noch einmal Motorbootfahren. Das Boot präpariert er so, dass nur Mariannes Fingerspuren auffindbar sind. Die ihm hörige Ehefrau will sich für ihn opfern.
Unterdessen wird am See die Leiche von Frank geborgen. Oberleutnant Jürgen Hübner übernimmt die Ermittlungen und es beginnt die Suche nach dem Motorboot. Nach einer Weile wird es durch spielende Kinder gefunden. Die Ermittler stellen auch die Miniaturbilder sicher, die Ralf kurz nach dem Unfall ins Wasser geworfen hatte. Ralf und Marianne werden befragt und Marianne nimmt wie verabredet die Schuld auf sich. Sie reagiert irritiert, als sie erfährt, dass Ralfs Lektor eine Frau ist, hält sich jedoch an Ralfs Anweisungen.
Ihr Mann wiederum interessiert sich nach seiner beendeten Befragung nicht einmal für das Schicksal seiner Frau, was Jürgen Hübner überrascht zu Kenntnis nimmt. Für ihn ist der Fall eindeutig, doch äußert der gerade erst Vater gewordene Unterleutnant Richter Zweifel. Er traut Marianne eine wie bei der Tat gezeigte Kaltblütigkeit nicht zu. Jürgen Hübner vermutet, dass sie nicht einmal Motorboot fahren kann, doch beweist ihnen Marianne bei einem Test das Gegenteil. Dennoch darf sie nach Hause zurückkehren, da keine Fluchtgefahr besteht. Ralf besteht darauf, dass sie falsch ausgesagt habe, da sie sonst inhaftiert worden wäre. Marianne erleidet angesichts der Vorwürfe einen Zusammenbruch und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Ralf wiederum begibt sich zu Jürgen Hübner und besteht auf einer Schuld seiner Frau.
Rezension
Vor allem Marlies fanden wir von Michèle Marian herrlich gespielt. Sicher waren wir nicht ganz unbeeinflusst davon, dass wir im gezeigten Milieu, nämlich an der Uni, jemanden kennengelernt hatten, der in seiner Art und optisch dieser Lektorin nicht ganz fern war. Man kann lachen oder wenigstens schmunzeln, mit Zeitabstand offenbaren bösartige, manipulative Charaktere mehr ihre komischen Seiten. Wenn sie nicht zu viel Schaden angerichtet haben, lacht es sich besser – diesbezüglich sind wir allerdings noch heute noch bei der Einordnung der damaligen Vorgänge unsicher.
Die Verblüffung aber rührte daher, dass der Film auf der ersten Ebene sehr politisch unkorrekt ist, weil zeigt, dass die DDR in den Zustand der Resignation übergegangen war.
Ein Typ, der sehr dem westdeutschen Playboy der 1970er entspricht, der komplett sein eigenes Ding macht, den Frauen nachstellt, ein Motorboot fährt, ein für DDR-Verhältnisse dekandetes Leben mit ebenso eingerichtetem Haus führt, wird natürlich nicht als Identifiktionsfigur angeboten, aber wie er sich wörtlich tummelt wie ein Fisch im Wasser in einem Land, in dem es solche Existenzen gar nicht geben dürfte, ist bestaunenswert und man kann nun dabei herauskommen, dass Menschen eben immer was Besonderes sein wollen, die meisten, jeder auf seine Weise, dass es den Mensch als Masse und den Mensch der Masse gar nicht gibt und dass daher ein repressionsfreier Sozialismus nicht denkbar ist. Heißt auch, es wurde nicht genug Repression ausgeübt, die dafür gesorgt hätte, dass die Menschen endlich zum System passen. Oder man sagt, es gab Gründe, dass die Menschen dem System nicht mehr vertraut und es nicht als echt sozialistisch angesehen haben. Der Ursprung der Menschheit und ihr Aufstieg liegen in der Fähigkeit zur Kooperation begründet.
Nichts gegen Autoren populärer Bücher, aber was unser Protagonist schreibt, dient nicht der sozialistischen Volksaufklärung, sondern sind Schmöker für Menschen, die einen Hang zu Küchenpsychologie haben. Auf höchst amüsante Weise spiegelt sich das in den scharf gezeichneten Figuren, dem charakterschwachen Frauenheld, der bösartigen Lektorin, der aufopferungsvollen Ehefrau, die sogar bereit ist, für ihren Mann in den Knast zu gehen, als sie schon ziemlich sicher weiß, dass und mit wem er fremdgeht.
Das Verbrechen allerdings ist ein Unfall, verbunden mit fahrlässiger Tötung und Fahrerflucht zu Wasser, was es gewiss ebenso gibt wie Variante die mit dem Auto, oder, in Berlin häufig anzutreffen, mit dem als Waffe verwendeten Fahrrad, wobei „Waffe“ darauf hindeutet, dass hier oft Vorsatz gegeben ist. Der Fall ist recht versiert aufgezogen und hat viele nette Wendungen, aber das Beste sind eben bei Weitem die Figuren. Man muss es mögen, aber wir mögen es und hatten es der Polizeiruf-Reihe der Vorwende-Phase nicht zugetraut, dass sie eine so ironische Spielart entwickeln kann.
Trotzdem ist es natürlich auch traurig. So sehr uns die Ideologisierung in „Der Mann“ gestört hat, weshalb wir die Rezension immer noch nicht überarbeitet und veröffentlicht haben, weil wir meinen, da sind wir zu harsch mit den 1975 schon ziemlich beschädigten sozialistischen Idealen umgegangen, wo sie doch gerade in diesem Film verbissen verteidigt werden, so sehen wir nur neun Jahre später den Abstand auch der Filmemacher von diesen Idealen.
Man sieht sie nur noch in Form eines Bedauerns darüber, wie alles geworden ist und dass diese Entwicklung zu nichts Gutem führen kann, das erkennt man leicht. Aber wie viele Zuschauer_innen, die damals vor dem Fernseher saßen, werden sich gewünscht haben, ein Leben wie Peter Reusse führen zu können, gespielt von Ralf Bohnke, dem „James Dean der DDR“? Auch die Kritik an der Gier, die in manchem Tatort untergebracht wurde, hat ja nicht dazu geführt, dass es zu massenhaftem Nachdenken die eigenen Werte gekommen wäre. Erst jetzt, wo der Kapitalismus immer mehr das offenbart, was ihm stets immanent war, nämlich die Unmöglichkeit, nachhaltigen Wohlstand für alle auf Dauer zu sichern, erst, seit es für viele Menschen rückwärts geht mit dem Wohlstand, kommt es vermehrt zu ernsthafter Auseinandersetzung damit, die bis in die Mehrheitsgesellschaft hinein- und damit über einen kleinen Kernbestand an Linken hinausreicht. Was wieder einmal beweist, das sich die meisten von uns erst bewegen, wenn’s an die eigene Gemütlichkeit geht.
Die Menschen in der DDR hatten aber keine Chance dazu, dafür war das System einerseits zu festgefahren und andererseits zu stark. Erst durch den Wechsel zu Michael Gorbatschow in der Sowjetunion verlor es den Rückhalt aus dem Osten, der es dann rasch zusammenfallen ließ. Was wir seitdem erlebt haben, macht „Draußen am See“ frappierend aktuell, denn es waren nicht die Solidarischen, die nach der Wende das Sagen hatten, sondern Menschen wie Reusse, die aber meist aus dem Westen kamen und mit ihrem Lifestyle und ihrer Aufschneiderei die gelernten DDR-Bürger_innen überrumpelten. So gesehen, ist „Draußen am See“ sogar ein Film, der ein typisch westliches Szenario darstellt, aber angesiedelt im Osten.
Einen Kracher gibt es noch zum Schluss: Oberleutnant Hübner und die Eismafia. Wir haben jetzt mal nachgeschaut, wann der Westberliner Tatort „Die kleine Kanaille“ gedreht wurde. Tatsächlich kurz nach „Draußen am See“. Es hätte ja auch umgekehrt sein können. Das wäre uns sogar lieber gewesen. Denn in beiden Filmen verguckt sich ein gesetzter Kriminaler in ein (Un-) Glückskind, das noch minderjährig ist und geht mit ihm Eis essen.
Doch während in „Draußen am See“ das Ganze sehr nett gemacht ist und endet, dass das Mädchen, die letzte solidarische Person außerhalb der Polizeidienststelle, drei Mit-Heimkinder anruft, die dann auch alle mit Eis versorgt werden wollen, was Hübner mit leicht grimmigem Humor quittiert – läuft es im Westberliner Tatort sogar auf Händchen halten hinaus.
Für uns eine der schrägsten Konstellationen, die wir bisher in einem Tatort gesehen haben. In der Reihe weiß man in der Regel um ihre Bedeutung und was politisch geht, provoziert aber hin und wieder. Doch selten wird eklatant daneben gegriffen, ohne dass es absichtlich wirkt. Der Unterschied ist auch, dass die Situation im Bülow-Tatort überhaupt nicht ironisiert wirkt und das Mädchen, anders als im Polizeiruf, Hauptverdächtige ist. Wir sind uns sicher, dass die Macher von „Die kleine Kanaille“ den DDR-Film gekannt haben, umso seltsamer und freakiger wirkt die gezeigt Abwandlung.
Finale
Wir finden „Draußen am See“ ziemlich gelungen und sehenswert, auch wenn die Wendungen, von denen wir gesprochen haben, etwas an den Haaren herbeigezogen wirken. Uns fiel allerdings beim Anschauen nicht auf, dass Hübner und sein Team mit einem geradezu Haferkampschen Trick arbeiten, indem sie dem Täter eine Falle stellen. Wir dachten, Marlies, die ja eine sehr dezidierte Person ist, sei aus eigenem Antrieb zum Haus von Ralf gekommen. Man darf ja mal was übersehen, wenn man so sehr auf die Rezeption des Psychologischen und des Kulturhistorischen konzentriert ist.
8,5/10
© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
| Regie | Helmut Krätzig |
| Drehbuch | Helmut Krätzig |
| Produktion | Erich Biedermann |
| Musik | Hartmut Behrsing |
| Kamera | Winfried Kleist |
| Schnitt | Renate Müller |
| Besetzung | |
| · Jürgen Frohriep: Oberleutnant Jürgen Hübner
· Peter Reusse: Ralf Bohnke · Jenny Gröllmann: Marianne Bohnke · Michèle Marian: Marlies Schmauch · Holger Franke: Unterleutnant Richter · Andreas Schmidt-Schaller: Per Nieman · Wolfgang Greese: Herr Losert · Wera Paintner: Frau Losert · Horst Weinheimer: Bootswart · Velia Krause: Juliane Gerbach · Karsten Meier: Frank · Christel Peters: Frau Ziese · Marijam Agischewa: Frau Richter · Peter Hladik: Arzt · Jörg Hengstler: Hauptwachtmeister Boll · Katja Hanusch: Mädchen · Nicole Hohensee: Mädchen · Kati Pfau: Kati · Helmut Krätzig: Bibliothekenbenutzer · Hans-Jürgen Pabst: Offizier der Wasserschutzpolizei |
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