Über den Tod hinaus – Polizeiruf 110 Fall 189 / Crimetime 350 // #Polizeiruf #Hinrichs #Groth #Schwerin #NDR #Tod #Rentner #Seniorenheim #Altenheim #Armutsrente #Altersarmut

Crimetime 350 - Titelfoto © NDR

Welch eine wunderbare, illegal und legitim handelnde Gemeinschaft

Wenn wir alt sein werden und wenn wir trotzdem menschenwürdig leben wollen, wenn die kapitalistische Verwertungslogik uns bedrängt, aber wir eine Gemeinschaft bilden können, in der man sich vertraut und fair und einander zugewandt ist, was könnte dann geschehen? Etwa das, was wir in „Über den Tod hinaus“ sehen? Vielleicht hat der Film einen etwas märchenhaften Charakter, aber es sind seit seiner Erstausstrahlung über 20 Jahre vergangen und wir erleben immer mehr, wie das, was Ende der 1990er unwidersprochen war, in Frage gestellt wird. Es gibt Hoffnung. Aber worauf bezieht diese sich? Mehr dazu steht in der -> Rezension.

Handlung

Hauptkommissar Jens Hinrichs ist frustriert, muss er doch einen wiederholten Einbruch in einen Kiosk untersuchen und damit erneut einen Fall von Versicherungsbetrug. Er beschwert sich bei seinem Vorgesetzten Dr. Stuber, hat er neben einer sehr guten Ausbildung doch auch zahlreiche Weiterbildungen absolviert. Die wirklich wichtigen Fälle werden jedoch vom LKA übernommen, sodass Hinrichs jegliche Aussicht auf beruflichen Aufstieg fehlt. Auch sein nächster Fall ist kaum besser, so muss er sich mit Rassehundfälschungsimporten aus Dänemark auseinandersetzen. Obwohl er als Mensch mit Angst vor Hunden dabei gerne Kommissar Kurt Groth an seiner Seite wüsste, muss er allein recherchieren. Groth hat sich entschlossen, Urlaub zu machen. Er hat beim Angeln zufällig das ehemalige Gästehaus der Gewerkschaft besucht, das nun unter dem Namen Haus Humanitas als Altenheim fungiert. Hier war er zum Essen eingeladen worden und hatte seinen alten Schulfreund Kurt wiedergetroffen. Seine Urlaubszeit will er damit verbringen, auf einem ungenutzten Rasenstück des Altenheims einen Garten anzulegen. Im Heim lässt man den passionierten Hobbygärtner gerne gewähren, weiß doch niemand, dass Groth Kriminalbeamter ist.

Eines Tages sucht eine junge Frau aus Amerika das Heim auf, um ihren Großvater Weber zu besuchen, der jedoch laut Heimleiterin Elisabeth von Esterhazy gerade verreist ist. Sie zeigt Wegers Enkelin sein Zimmer. Der Frau kommen jedoch Zweifel, da viele Einrichtungsgegenstände nicht zu ihren Großvater passen. Sie gibt bei Hinrichs eine Vermisstenanzeige auf. Ein Grund ist auch, dass es ihr bereits ein Jahr lang nicht gelungen ist, ihren Großvater telefonisch zu erreichen. Am nächsten Tag lässt die Heimleitung Weber offiziell sterben, es findet eine Trauerfeier statt und auch ein Traueressen. Bald darauf erscheint Hinrichs im Heim und ist erstaunt, Groth bereits im Garten vorzufinden. Vor Elisabeth gibt sich Hinrichs spontan als Groths Sohn aus, der seinen Vater mal im Urlaub besuchen wollte. Groth will von Ermittlungen nichts wissen, habe er doch Urlaub. Auch ihn macht der plötzliche Tod Webers kurz nach dem Besuch der Enkelin stutzig, zumal die Altenheimbewohner keinerlei finanzielle Schwierigkeiten zu haben scheinen, obwohl die Zimmer teuer und das Essen dank dem ehemaligen Fernsehkoch und jetzigen Bewohner von Haus Humanitas erlesen ist. Kurt meint auf Nachfrage, dass die Bewohner des Hauses auch über den Tod hinaus füreinander da seien; eine nähere Erklärung gibt er Groth nicht.

Kurt wird in Kürze Geburtstag feiern, sodass die Heimbewohner schon seit einiger Zeit eine kleine Feier samt Bühnenprogramm einstudieren. Zwei Tage vor seinem Geburtstag stirbt er überraschend. Sofort greift der Plan, wie er bei allen Toten des Heims eingesetzt wird: Kurt wird in den Kühlraum des Heims gebracht, wo bereits fünf andere Leichen lagern. Die Bewohner überlegen, wer Kurts freien Platz im Heim einnehmen könnte, und wollen ihn Groth anbieten. Ein Privatdetektiv erscheint, der von Kurt zu Lebzeiten mit Recherchen zu Groth beauftragt worden war. So erfahren die Bewohner, dass Groth bei der Polizei war – die Daten waren für den Detektiv nur bis 1990 und damit zu Groths Vorruhestand abrufbar. Sicher wissen sie nun jedoch, dass Hinrichs nicht Groths Sohn sein kann, weil der nach Datenlage nur eine Tochter hatte. Unruhe macht sich breit und so beschließen die Heimbewohner, die im Keller des Hauses liegenden Leichen verschwinden zu lassen.

Bis auf den letzten Absatz, den wir weggelassen haben, ist die Handlungsberschreibung aus der Wikipedia übernommen.

Rezension

„Über den Tod hinaus“ ist der erste Polizeiruf mit Hinrichs und Groth, den wir angeschaut haben und der erste aus den 1990er Jahren.* Damit können wir ein erstes Häkchen machen. Wir kenne jetzt aus jedem Jahrzehnt, seit es den Polizeiruf 110 gibt, mindestens einen Film der Reihe.

Die Machart dieser Seniorenoperette ist vergleichweise betulich, das Thema wie auch die Entstehungszeit tragen dazu ihren Teil bei. Letzte Tage sind außerdem nicht rasant, der Film hat uns ein wenig an „Leben wie ein Hund“, einen Köln-Tatort, erinnert, der neun Jahre später entstanden ist. Auch in diesem Film waren die Macher auf ein groß aufspielendes Senioren-Ensemble angewiesen, damit ein lebendiger und anrührender Film entstehen konnte.Al

Auf diese Karte setzte man auch bei „Über den Tod hinaus“. Außerdem ist der Film leider alles andere als verstaubt, denn es geht um Altersarmut und auch heute noch sind die niedrigeren Ostrenten ein besonderer Aspekt dieses Problems. Die Lösung, die man dafür findet, ist ebenso witzig wie – unrealistisch. Nicht, dass man erwartet hätte, dass so etwas wirklich funktioniert, aber warum es nicht klappen kann, ist leider sehr offensichtlich. Dass Angehörige misstrauisch werden, wie wir in einem Fall  auch sehen, liegt zu sehr auf der Hand. Mag es noch angehen, dass der Staat nicht nachguckt, ob er Rente an Tote auszahlt, wenn es keinen Totenschein gibt, dass jemand, der immer wieder vergeblich versucht, mit einem im Heim lebenden Opa oder Onkel Kontakt aufzunehmen, anreist, um zu schauen, was los ist, dürfte in der Realität so häufig vorkommen, dass sich das reizvolle Geschäftsmodell nicht lange aufrechterhalten ließe.

Mehr oder weniger zufällig werden Groth und Hinrichs in die Sache involviert, weil Groth in der Nähe des alten Schlosses, das zu einer Seniorenresidenz umfunktioniert wurde, angelt. Die beiden Polizisten wirken ziemlich skurril und der Osten zeigt sich in seiner ganzen Andersartigkeit, ohne fremd zu wirken. Letztlich sind es immer wieder findige Überlebensstrategien, die in Umbruchzeiten eine besondere Bedeutung gewinnen. Gegenüber der Politik, die Menschen mit einer langjährigen Erwerbsbiografie so geringschätzt, dass die Rente nicht für die Heimunterbringung ausreicht, ist der Film sehr kritisch, aber sehr zugewandt seinen Figuren und die betagten Darsteller_innen geben eine wunderbare Performance, zu der auch ein Auszug aus „Die Zauberflöte“ von W. A. Mozart zählt. Allerdings kommt im Film die Handlung, anders als in Mozarts Singspiel, nicht zu einem guten, erleuchteten Ende, sondern das Geschäftsmodell der Menschen im Altersheim, die dieses Modell kollektiv, von der Leiterin aus Bayern bis zum Koch aus MeckPomm, getragen haben, muss vertuscht werden, indem die aus dem Eiskeller entnommenen Leichen in einem brennenden Kleinbus vernichtet werden.

Bezüglich des Plots gibt es einen weiteren Umstand, der zumindest erwähnt werden muss: In der Regel reichen Rentenbezüge nicht für die Unterbringung in Seniorenresidenzen aus. Entweder haben die Rentner_innen Vermögen, das verbraucht werden kann, oder das Sozialamt muss unterstützend tätig werden. Da künftig immer mehr Menschen im Alter kein Vermögen gebildet haben werden, sind also nicht nur die viel zu  niedrigen Rentenleistungen ein Zukunftsproblem, sondern auch die viel zu kleinen oder nicht vorhandenen Vermögen der Senior_innen.

„Über den Tod hinaus“ ist trotz der Unmöglichkeit seiner Handlung ein Kleinod, das sich im Stil einer schwarzen britischen Komödie zum ebenso chaotischen wie traurigen Ende bewegt. Die Selbstverständlichkeit, die Unverfrorenheit und auch die moralische Rechtfertigung des allfälligen Versicherungsbetrugs sind skurril und in sich doch logisch.

Finale

Wie bei fast jedem neuen Team, ob in der Reihe „Tatort“ oder dem Parallelprodukt „Polizeiruf 110“, ist eine Eingewöhnungsphase erforderlich, so auch bei Hinrichs und Groth. Die ans Kabarett angenäherte Darbietung des blonden Jungkommissars mit dem starken sächsischen Akzent zeigt uns in der Tat einen ganz anderen Charakter als den von Kollege Groth, die beiden sind schön antagonistisch und passen fantastisch gar nicht zueinander, Reibungen sind vorprogrammiert. Unterschiedliche Lebensabschnitte bedingen unterschiedliche Herangehensweisen an den Job und unterschiedliche Einstellungen zu alltäglichen Delikten. Bereits vor dem Start des eigentlichen Falls wird das deutlich, wenn man falschen Bränden und falschen Hunden operiert wird. Dem älteren Polizisten ist nichts Menschliches fremd, schon gar nicht das, was sich aus den Wendebrüchen ergeben hat, der Jüngere ist eher ein Apparatschik, der alles wichtig nimmt, auch die eigene Karriere, die erst einmal stecken geblieben ist.

Auch wenn gemäß Angaben in der Wikipedia das in Rostock, nicht mehr in Schwerin angesiedelte Mecklenburg-Nachfolgeteam Buckow / König (Charly Hübner, Anneke Kim Sarnau) höhere Einschaltquoten erreicht als seinerzeit Hinrichs und Groth, sind die beiden unverwechselbare Originale und mit 31 Einsätzen liegt Hinrichs, der 2010 abgelöst wurde, an zweiter Stelle hinter den unangefochtenen Nachwende-Königen Schmückle und Schneider (Jaecki Schwarz, Wolfgang Winkler).

8/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

*Bezüglich Hinrichs und Groth stimmt die Angabe noch, aber da diese Rezension nach einer Wartezeit von etwa 6 Wochen veröffentlicht wurde, trifft es nicht mehr für Polizeirufe aus den 1990ern zu.

Regie Manfred Stelzer
Drehbuch Gerd C. Möbius
Manfred Stelzer
Produktion Barbara Beauvais
Musik Hans-Jürgen Buchner
Kamera Oliver Jakob
Schnitt Hedy Altschiller
Besetzung

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2 Kommentare

    1. Vielen Dank! Der Film wurde am 25.04.19 vom RBB anlässlich des 90. Geburtstags von Kurt Böwe (Kommissar Groth) ausgestrahlt, aber weder in der RBB-Mediathek, noch in der ARD-Mediathek habe ich ihn gefunden und leider auch nicht auf Youtube.

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