Der Tote im Fließ – Polizeiruf 110 Fall 6 #Crimetime 458 // #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Fließ #Fuchs #Arndt #DDR #Zernsdorf

Crimetime 458 - Titelfoto © Fernsehen der DDR / ARD

Das Böse lebt häufig im Wirtshaus

Der Name Zernsdorf, wo der Braunkohle-Tagebau erweitert werden soll, sagte uns etwas. Ist das nicht ein wunderschöner Ortsteil von Königs Wusterhausen mit einem See? Aber dort gibt oder gab es doch keinen Kohleabbau. Gemeint ist Zernsdorf im Kreis Senftenberg in Sachsen.

Es war die 6. Folge der Filmreihe Polizeiruf 110. Oberleutnant Peter Fuchs und Leutnant Vera Arndt ermittelten in ihrem 6. gemeinsamen Fall. Es war der erste Film der Reihe, in dem der Tatort konkret lokalisiert wird (Lausitzer Braunkohlerevier) und das soziale Milieu als Tatmotiv herangezogen wurde.[2] 

Wie sich das soziale Milieu in „Der Tote im Fließ“ zeigt, klären wir in der -> Rezension.

Handlung

Bei Vorbereitungsarbeiten für eine Tagebau-Erweiterung im Dorf Zernsdorf, Kreis Senftenberg, wird im Schlamm des ehemaligen Sees Fließ ein Skelett gefunden. Oberleutnant Peter Fuchs und Leutnant Vera Arndt übernehmen die Ermittlungen. Anhand einer unweit des Skeletts gefundenen Taschenuhr sowie eines Rings wird bald die Identität des Toten festgestellt: Es handelt sich um Bruno Krüger, einen im Dorf äußerst unbeliebten Gastwirt, der vor rund zehn Jahren spurlos verschwand. Als wenig später ein Brief aus dem Westen mit seinen Papieren im Dorf ankam, war klar, dass er geflüchtet sein musste. Wie er zurück nach Zernsdorf kam, wissen die Ermittler nicht. Dass er getötet wurde, zeigt sich an Schädelfrakturen.

Peter Fuchs und Vera Arndt befragen Personen vor Ort. Bauleiter Kowalski, der die Ermittler verständigt hat, macht einen nervösen Eindruck. Er verstand sich schlecht mit Krüger, nachdem er dessen Stieftochter Sandra vor den Übergriffen des betrunkenen Krüger gerettet hatte. Sandra arbeitete wie Biggi, die Tochter des Arbeiters Bigalke, als Kellnerin im Wirtshaus. Seit dem Zwischenfall mit Krüger hatte Kowalski Hausverbot im Wirtshaus, das Krüger um jeden Preis durchsetzte. Kowalski ist inzwischen mit Sandra verheiratet und auch sie sagt aus. Die Ehe der Eltern sei schlecht gewesen. In einer späteren Aussage gibt sie zu, in West-Berlin für ihren Stiefvater Geld umgetauscht zu haben. Vera Arndt befragt die gebrechliche Witwe Bruno Krügers, Lisa, die inzwischen in einem Pflegeheim betreut wird. Zu kritischen Fragen schweigt sie sich jedoch aus.

Auch Arbeiter Bigalke ist verdächtig. Er hat einst, von Krüger wegen Trinkschulden erpresst, heimlich Materialien von der Baustelle entwendet, die Krüger schwarz verkauft hat. Krüger hatte sich wegen seines Geizes und seiner Unmenschlichkeit im Dorf unbeliebt gemacht und versuchte nun, die ausbleibende Kundschaft durch Schiebereien auszugleichen. Man kam dahinter. Die Polizei erschien zuerst bei Bigalke, nahm eine Hausdurchsuchung vor und Bigalke anschließend fest. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Da Bigalke erst nach stundenlangem Verhör seinen Auftraggeber Krüger benannte, kamen die Ermittler zu spät: Krüger war untergetaucht und, wie sich durch seinen Brief ergab, in den Westen geflüchtet. Bigalkes Tochter Biggi kann nur wenig zu Krüger sagen und bricht während der Befragung in Tränen aus. Peter Fuchs unterbricht die Befragung, zumal Untersuchungen ihn in Krügers inzwischen verfallenen Gasthof führen. Feine Blutspuren zeigen sich um den Tresenbereich.

Erneut werden alle an dem Verhaftungsabend Anwesenden befragt. Kowalski erfuhr erst zwei Tage nach der Verhaftung Bigalkes von den Ereignissen. Bigalke selbst scheidet als Täter aus, weil er zur Tatzeit bereits verhaftet war. Sandra war wie ihre auf einen Rollstuhl angewiesene Mutter von Krüger selbst zeitig zu Bett geschickt worden. Lisa jedoch sagt nun aus, dass sie noch einmal zur in den Gastraum führenden Treppe gegangen sei. Krüger habe Geld aus sämtlichen Schubladen geholt und in einem Koffer verstaut. Offensichtlich war er von der Verhaftung Bigalkes unterrichtet worden und wollte sich absetzen. Er sprach zu einer Person im Gastraum, die vom Fenster wegkommen sollte. Wer es war, kann Lisa nicht sagen. Auch ist unklar, wie die Leiche des massigen Krüger aus dem Gasthaus zum See transportiert wurde, wenn nicht von einem Mann.

Peter Fuchs hat schließlich die Lösung: Biggi war die Einzige, die an dem Abend von der Verhaftung Bigalkes erfahren hatte. Sie muss daher die Person im Gasthaus gewesen sein. Biggi bestätigt es und berichtet den Tathergang: Sie kam erst spät aus dem Gasthaus, weil sie noch eine Abrechnung zu erledigen hatte. Sie benachrichtigte Krüger von der Verhaftung und beschwor ihn, sich der Polizei zu stellen und die Schuld als Auftraggeber auf sich zu nehmen. Als sich Krüger weigerte, wollte sie die Polizei rufen, doch Krüger begann, sie heftig zu würgen. Mit letzter Kraft zerschlug sie einen Bierkrug auf seinem Kopf. Krüger war sofort tot. Bevor Biggi panisch werden konnte, stand Lisa vor ihr und schickte sie weg. Lisa selbst transportierte die Leiche ihres Mannes in ihrem Rollstuhl zum See. Später schickte sie Biggi mit Krügers Papieren nach West-Berlin, um sie von dort an sich senden zu lassen. Biggi wird nun vorläufig festgenommen. Der Abriss des Wirtshauses für die Tagebau-Erweiterung beginnt.

Rezension

Die Kritik nannte „die Umkehrung des traditionellen Krimi-Schemas [bemerkenswert], in dem die in jeder Beziehung negative Gestalt, die durch einige von den Zeugen erinnerte Episoden ständig neu belastet wird, das Opfer ist“.[3]

Nach drei Monaten Beschäftigung mit der Reihe Polizeiruf 110 (Zeitpunkt der Erstellung des Entwurfs Anfang Juli 2019) können wir etwas vermelden, was wir nach neun Jahren Tatort-Rezensionen nicht geschafft haben: Von Nr. 4 bis Nr. 8 haben wir die Kette bereits geschlossen. Wir kennen also die ganz frühen Polizeirufe nun – abzüglich der Nr. 2 und 3., die nicht mehr erhalten sind. Und leider noch immer nicht den allerersten Film, „Der Fall Lisa Murnau“. Da im Moment z. B. der HR die meisten Filme aus 1972 ausgestrahlt hat, bekommen wir vermutlich bald den Anschluss geliefert. Bemerkung am Tag der Veröffentlichung: Interessanterweise nicht. Viele Filme der beiden folgenden Jahre sind nicht ausgestrahlt worden, sodass im 10er- und 20er-Bereich weiter eine Lücke besteht.

Eine erste Einschätzung der frühen Polizeirufe ist also mittlerweile möglich. Es heißt über die Polizeirufe generell, dass sie häufiger Alltagsverbrechen als Kapitalverbrechen zeigen, auf die erste Staffel trifft das aber noch nicht zu. Es kommt in mehreren, wenn auch nicht in allen diesen Filmen zu Todesfällen („Das Haus an der Bahn„, „Blutgruppe AB„, „Ein bisschen Alibi“ und „Der Tote im Fließ“).

Nur „Verbrannte Spur“ macht hier eine Ausnahme und hat sogar einige humoristische Einsprengsel. Ermittler war das kompetente Paar Peter Fuchs (Peter Borgelt) und Vera Arndt (Sigrid Göhler) in den ersten Filmen tätig, in „Blutgruppe AB“ wurde erstmal Jürgen Hübner (Jürgen Frohriep) eingesetzt, in „Das bisschen Alibi“ stieß Lutz Subras (Alfred Rücker) hinzu. Damit war das Polizist*innen-Personaltableau für die ersten Jahre komplett. Erst 1978 kam mit Woltersdorf (Vorname unbekannt) eine fünfte Ermittlerperson hinzu.

Die Konzentration auf Vermögensdelikte, oft in Verbindung mit Körperverletzungen, zeigt sich dann aber später in den „30ern“ und „40ern“.

„Der Tote im Fließ“ ist wohl die düsterste unter den frühen Polizeiruf-Produktionen. In Schwarz-Weiß waren sie damals noch alle, was diesen Eindruck verstärkt, besonders wieder in „Der Tote im Fließ“ mit dem dunklen, teilweise in verlassenem Zustand bei Nacht gezeigten Wirtshaus und der Wüstenlandschaft des Braunkohle-Tagebaus. Nur das Hotel, in dem wenige Szenen spielen, wirkt licht und modern – symbolisch für den Werdegang von Lisa Krüger, die dem „Milieu“ durch eine Ausbildung entkommen konnte und Managerin geworden ist.

Auch das Baubüro wird in hellen Farben gezeigt, aber die Enge und die Verstrickung aller, die dort arbeiten oder sonst zugange sind, lässt keine frohgemute Atmosphäre entstehen.

Ein Wirt namens Krüger wird also durch Schläge mit einem Bierkrug auf den Schädel umgebracht, als er versucht, sich an seiner Kellnerin zu vergehen. Wenn das nicht auch symbolisch ist, wie der ausbeuterische Typ mit einem seiner Geschäftswerkzeuge traktiert wird, die er dazu verwendet, etwas zu wenig einzuschenken. Er wird niedergestreckt von seiner eigenen Frau, die körperlich bereits hinfällig ist. Ebenfalls eine Allegorie, aber da schafft sie es nochmal die Treppe runter, und zwar recht schnell, angetrieben von Hass. Ein brutaler Mensch findet das brutalste Ende, das wir bisher in einem Polizeiruf gesehen haben, blutüberströmte Opfer waren damals nicht State of the Art im deutschen Premium-Fernsehkrimi, im Osten aber noch deutlich weniger als im Westen.

Aufgebaut ist der Film aber wie ein Tatort, was dazu führt, dass die Ermittler nach wenigen Minuten ins Spiel kommen: Schon in der ersten Szene wird der Tote im Fließ entdeckt und einige vom Tagebau ahnen schnell, um wen es sich handelt. Angesichts der vielen Zeugen lässt es sich nicht vermeiden, dass die Polizei sofort informiert wird, auch wenn der Bauleiter Kowalski die Sache bzw. den Menschen lieber auf ewig begraben wüsste. Nach dem Mord wurde Krüger in den damals noch existierenden See namens „Fließ“ gezerrt, der mittlerweile verschlammt ist und nun für den Braunkohleabbau ausgebaggert wird. Eine Frau kann ihn nicht umgebracht haben, wie soll der schwere Typ weggeschleift werden?, heißt es an einer Stelle. Aber zwei Frauen hieven ihn dann doch in den Rollstuhl von Frau Krüger und es wird gezeigt, wie Frau Krüger ihn aus dem Wirtshaus schiebt. Daran, dass sowas möglich sein könnte, hatte niemand gedacht.

Wunderbar gestaltet ist die Zeitstruktur. Während der laufenden Ermittlungen entblättert sich die Vorgeschichte bis zum Mord, es handelt sich also um einen klassischen Whodunit, in den aber doch die für Polizeirufe typische Gestaltung einer Entwicklung bis zum Verbrechen eingebaut ist. Das wird komplett schlüssig gezeigt, sogar in der Form, dass Frau Krüger in ihrer Aussage zunächst eine Menge weglässt, inklusive ihrer Tat, versteht sich. Trotzdem ist man am Ende auf ihrer Seite, auch, wenn uns die allzu palaktive Betonung des negativen Charakters des Wirtes („Wie ein Vieh!“) irgendwann etwas genervt hat.

Wirte, die ihr privates Business betreiben, sind in früheren Polizeirufen sowieso verdächtig, verkommene Subjekte zu sein, aber hier wird doch etwas übertrieben konstrastiert. Auf der einen Seite die braven Braunkohlerwerker, auf der anderen dieser Kleinkapitalist, der in etwa den mieseste Persönlichkeit darstellt, die wir bisher in einem Polizeiruf gesehen haben. Insofern hält dieses Werk mehrere „Bestmarken“. In den 1980ern werden dann wieder sehr gierige Personen gezeigt, aber sie sind nicht so körperlich brutal wie Krüger.

Der Kontrast ist programmatisch, das spürt man und ist etwas verstimmt ob der Manipulation qua Holzhammermethode. Wie wird ein Wirt Wirt? Wir erfahren es nicht, aber er nimmt alle aus, besonders emotional – dafür aber wird die Entwicklung seines braven Gegners Kowalski anhand der Kaderakte minutiös und exemplarisch berichtet: Vom Hilfsarbeiter bis zum Bauleiter. Es versteht sich von selbst, dass so jemand nicht an der Tötung des Krüger beteiligt sein konnte – ein Mord war es ja nicht, möglicherweise trifft sogar Nothilfe zu.

Dafür aber kann man dem Film nicht vorwerfen, er biete keine einprägsamen Szenen, etwa, wie Krüger die Jungs, die Flaschen („Rohstoffe“) sammeln und zur Wiederverwertung bringen wollen (mittlerweile wissen wir, dass damit nicht die Abgabe bei den Getränkelieferanten, sondern ein Altstoff-Verwertungssystem namens SERO gemeint ist) abbürstet oder wie er sich Gästen und Angestellten und seiner Frau gegenüber verhält. Solch ein Benehmen geht wohl nur, wenn man ein Monopol hat: Die einzige Schänke, die für die Bergleute im näheren Umfeld ihres Arbeitsplatzes liegt.

Finale

Der pointierte Stil des Regisseurs Helmut Krätzig, der auch den ersten Polizeiruf „Der Fall Lisa Murnau“ gedreht hatte, prägte offensichtlich die frühen Filme der Reihe oder gab den Ton vor, trotzdem hatten wir Mühe, durch die 64 Minuten zu kommen. Wir rätseln weiterhin, was diese körperliche Reaktion ausgelöst haben könnte. Denn langweilig ist „Der Tote im Fließ“ nicht. Vielleicht doch etwas monoton, auf eine Art, die für uns eher unterhalb der Wahrnehmungsschwelle wirksam wurde? Oder war es eine Abwehrreaktion gegen den bösen Krüger? Dann müssten wir angesichts der überzogenen heutigen Filme alle paar Minuten vom Sofa fallen.

Wie auch immer: „Der Tote im Fließ“ ist eine Empfehlung von uns, denn hier gibt es keine halben Sachen und einen für damalige Fernsehverhältnisse recht drastischen Fall von Tötung, der auch live gezeigt wird. Das Ermittlerduo Fuchs und Arndt ist zwar darauf angewiesen, dass jemand einknickt und gesteht, sonst wäre nach so langer Zeit nicht mehr zu ermitteln gewesen, wie und durch wen Krüger ums Leben kam. Ein bisschen mehr Ideologie wird eingestreut, indem die Beteiligten inszenieren, dass Krüger Republikflucht begangen habe („Unsere Grenze war ja damals noch offen“, was aber zeitlich recht knapp hinkommt) und vorher im Westen immer mal wieder Geld getauscht hatte, weshalb die staatlichen Stellen wie etwas der ABV, das auch für realistisch halten.

Ja, und warum wenden sich diejenigen, die in Strafhandlungen verstrickt werden, ohne Verbrecher zu sein, nicht an vertrauensvoll an die VP? Diese Frage wird Fuchs in den kommenden Polizeiruf-Jahren noch öfters stellen. Vielleicht, weil sonst kein Fall für einen Polizeiruf zustande käme.

7,5/10

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Helmut Krätzig
Drehbuch Fred Unger, Helmut Krätzig
Produktion Gerd Klisch, Hans W. Reichel
Musik Wolfgang Pietsch
Kamera Manfred Marderwald
Schnitt Silvia Hebel

Peter Borgelt: Oberleutnant Peter Fuchs
Sigrid Göhler: Leutnant Vera Arndt
Gerd Ehlers: Bruno Krüger
Klaus Manchen: Gerhard Kowalski
Norbert Christian: Otto Bigalke
Ursula Braun: Lisa Krüger
Ursula Staack: Agnes „Biggi“ Bigalke
Angelika Waller: Sandra Krüger
Harald Warmbrunn: ABV Runge
Helmut Straßburger: Herr Polze
Conrad Peterhansel: Wachtmeister Barthold
Werner Toelcke: Gerichtsmediziner
Karl-Maria Steffens: Bewohner im Altersheim
Werner Wieland: Direktor des Altersheims
Hannes Stelzer: Archivar
Christl Jährig: Altenpflegerin
Manfred Müller: Kriminaltechniker
Herbert Meißner: Fahrer
Horst Hamann: 1. Arbeiter
Georg Helge: 2. Arbeiter


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