Am Ende des Flurs – Tatort 910 #Crimetime 466 #Tatort #München #Muenchen #Batic #Leitmayr #BR #Flur #Ende

Crimetime 466 - Titelfoto © BR, Denise Vernillo

Derpack ma’s, Franzl?

Wenn es Herbst wird in München, ist Oktoberfestzeit und am Ende wussten wir, warum immer wieder Bilder vom Okktoberfest gezeigt wurden: Weil ein Wiesnwirt in den Fall Lisa Brenner verwickelt ist. Aber auch Franz Leitmayr hat sein privates Ding, und das ist ganz schön heftig, wie wir am Ende feststellen.

Ist „Am Ende des Flurs“ der würdige Tatort für die 300. Tatort-Rezension, die wir für den Wahlberliner schreiben? Immer wieder dachten wir während des Anschauens: Beim 300. Mal ist doch vieles anders als zum Beispiel beim 30. Tatort. Fast alles, was wir hier sehen, kennen wir. Es gibt mindestens zehn Tatorte mit 90 % gleicher Plotanlage, mit involvierten Ermittlern, mit Abhängigkeit, Liebe und Freundschaft, mit einem Blick auf die Gesellschaft, mit Ermittlern, die suspendiert werden und sich anschreien und doch auf immer Freunde bleiben werden, solange sie alle überleben. Was wohl hier der Fall sein dürfte, denn der nächste Tatort der Münchener ist bereits abgedreht.

Handlung

Bei jedem Menschen gibt es einen Punkt, an dem er einsam ist. Lisa Brenner kannte ihn. Als man an einem grauen Morgen ihre Leiche vor einem Hochhaus findet, heruntergestürzt aus dem 12. Stock, hinterlässt sie eine Reihe von Männern, die sie verehrt und geliebt haben. Lisa war ihnen allen so nah und zugetan, dass am Ende keiner wusste, ob wirklich er gemeint war.

Die Zahl der Verdächtigen wächst schlagartig. Offenbar war Lisa beim Champagnertrinken auf ihrem Balkon nicht allein. Trotzdem hat die Nachbarschaft keinen Schrei gehört. Die Polizei findet große Bareinzahlungen auf Lisa Brenners Konto, aber keinen Arbeitgeber. Die ersten Spuren führen zu Harry Riedeck, einem älteren Mann mit Helfersyndrom, der sich mit Lisas Versicherungen auskannte und regelmäßig für sie eingekauft hat.

Mit Unterstützung des neuen Assistenten Kalli Hammermann verhört Batic auch die anderen Männer, die regelmäßig mit Lisa Kontakt hatten: Hansen, einen ehemaligen Hamburger Hockeystar, Lischke, einen Bankangestellten und manch unbescholtenen Familienvater. Leitmayr verbeißt sich parallel immer tiefer in den Fall, der ihn mehr und mehr an die Grenze seiner selbst führt.

Zwei Tage später findet man den bestialisch ermordeten Riedeck im Keller seines Hauses. Anders als Lisa, deren Tod lautlos und fast unsichtbar passierte, wurde Riedeck mit vierzig Hammerschlägen umgebracht. Wo liegt die Verbindung der beiden Opfer für den Täter, wenn es derselbe war, rätselt die Fallanalytikerin Christine Lerch. Und was könnte es sein, das jemand mit einer so entfesselten Gewalt aus der Welt schaffen musste? Ein vertrackter Fall, der einen Münchener Brauereibesitzer in eine Katastrophe stürzt und das Vertrauen zwischen Leitmayr und Batic tief erschüttert.

Rezension

Weil die Frage danach, ob es ähnliche Tatorte gibt, sich nicht mehr stellt; weil wir mittlerweile entdeckt haben, dass es nun einmal nur eine bestimmte Anzahl von Grundmustern gibt, die man immer variieren kann, kommt es nur noch darauf an, wie das Ganze gefilmt ist. Und „Am Ende des Flurs“ ist kinoreif. Nicht, weil es mehr Action und Krachbumm gäbe als in einem üblichen Fernsehfilm, sondern, weil Bilder, Schnitt, Ton beweisen, dass der Tatort sich immer weiterentwickeln kann. Im Lauf des Films lässt die formale Qualität leicht nach, während sich die emotionale aber steigert, vielleicht ist das ja so gewollt, dass die Inszenierung hinter diejenigen zurücktritt, die inszeniert werden. Und die Schlussminuten haben uns stark an Kiel erinnert, wo es auch solche Täterfiguren gibt wie jene in „Am Ende des Flurs“. Vielleicht hätte man deswegen auch vom klassischen Whodunnit weggehen können oder mittendrin zum Howcatchem wechseln. Das hätte vielleicht noch mehr Thrill oder den Thrill um einiges früher gebracht.

Wie auch immer, „Am Ende des Flurs“ ist wieder ein starker Münchener Tatort. Uns haben die Szenen zwischen Franz und Lisa berührt, was aber vor allem an ihrer Ausstrahlung liegt, die über den ganzen Film hinweg präsent bleibt. Durch die Erinnerungen ihrer Männer, durch deren Verhalten. Eine Figur, die zu Beginn stirbt, so stark zu zeichnen, ist mittlerweile ungewöhnlich geworden, in der frühen Tatortzeit gab es das öfter, dass jemand durch die Ermittlungen nach seinem Tod sehr lebendig wurde. Damals hatte man sich Zeit für die Figuren genommen und dazu ist man dieses Mal zurückgekehrt, ohne dass der Tatort altmodisch wirken würde. Im Gegenteil, durch einige Sprünge fordert er ein gewisses Adaptionsvermögen und das ist gut so. Um das Wichtige zu zeigen, wurde an den richtigen Stellen gerafft und an anderen hat man draufgehalten. Dadurch stimmt auch der Rhythmus des Films mit seiner Folge von Aktion, oftmals lauten und aufgeregten Gesprächen und beinahe poetischen Momenten mit Lisa.

Bei den Kommissaren merkt man, dass die Regie sie an die Grenzen getrieben hat – in ein, zwei Szenen wirken sie leicht überspielt, da kommt der rote Kopf vom Ivo, wenn er einen Verdächtigen verhört, richtig authentisch, die beiden müssen ganz aus der Ruhe heraus, die sie sonst auszeichnet, und das fällt ihnen nicht immer leicht. Ohne jeden Tadel aber Franz Xaver Kroetz mit seinem Auftritt als einer von Lisas Männern und Wiesenwirt und Bayernverkörperung. Das Amigosystem scheint bissl durch, ohne dass es ein wichtiges Thema wird. So ist eben der Freistaat und München wirkt dadurch ziemlich besonders, weil ähnliche Konstellationen in anderen Städten so austauschbar erscheinen – hier nicht, wegen der abweichenden, robusten und höchst lebendigen Art der Menschen.

Klar, die Darsteller werden an jene Linie gebracht, hinter der zu viel Theatralik liegt, aber es passt noch und gerade die manchmal emotionalen und logisch nicht nachvollziehbaren Verhaltensweisen wirken sehr lebensecht. Echt echt, und deswegen hat man auch nicht das Gefühl, dass das Drehbuch von allen guten Geistern verlassen wird. Handlungslogisch gibt es auch hier wieder ein paar Zweifelsmomente, zum Beispiel wird nicht wirklich erklärt, woher das auf einer Auktion ersteigerte Geschmeide kommt, das sich in Lisas Besitz befande, man kann es nur ahnen – aber da die Charaktere so dynamisch gezeichnet sind, gibt man ihnen für gut, dass sie nicht nur rational sein können. Das ist eines der Geheimnisse guter Filme, dass man sich mitnehmen lässt, gerade weil das Unerwartete so realistisch wirkt. Manche Autoren und Regisseure können das inszenieren, andere nicht. Man braucht dazu eine gute Beobachtungsgabe und die handwerkliche Sicherheit, aus den Beobachtungen atemberaubende Figuren und verdichtete Momente wachsen zu lassen. Wir haben uns in der Vorschau gefragt, ob der Film eine besondere Handschrift haben wird, weil Max Färberböck hier seinen ersten Tatort dreht.

Auch wenn wir sicher nicht gesagt hätten: Wow, ein Färberböck, wenn wir’s nicht gewusst hätten: Eine starke, eigenwillige Note hat der Film. Wenn man will, kann man bei der Anlage der Figuren durchaus eine Linie zu den exzentrischen Menschen in „Aimée und Jaguar“ ziehen.

Der 67. Tatort der Münchener bringt zutage, dass auch Franz eine Liebe hatte, die er dem Ivo verschwieg. Er hat sie auch dem Zuschauer verschwiegen, was sich vielleicht dadurch rechtfertigen lässt, dass über das Privatleben der Ermittler in München generell wenig gerdet wird. Umso überraschender dieser plötzliche Einblick, ebenso wie das Ende des Films. Im Grunde hätte man das Überleben von Franz konstatieren können, damit es nicht so gestellt wirkt, denn es ist wohl klar, dass er überleben muss, um weiterhin Dienst bei der Münchener Mordkommission zu tun. Beinahe endet dieser allerdings schon in „Am Ende des Flurs“. Nicht wegen der Messerattacke der Apothekerin, sondern, weil er permanent weiterermittelt, durch persönliche Emotionen getrieben, als er aufgrund seiner Involvierung schon suspendiert ist. Nicht nur die Suspendierung, auch das Weitermachen sind solche Klassiker, dass sie gut gespielt sein müssen, damit man nicht langsam davon genervt ist.

Souverän wird das wirkliche Thema rübergebracht. Lisa als Frau, die Hure ist oder sonst etwas, aber bei allem, was sie ist, den Männern das Gefühl vermittelt, sie seien bei ihr geborgen, und dabei ist sie offenbar sehr variantenreich und kann auf jeden Wunsch eingehen, sei es, dass ein einsamer alter Mann nur für sie einkaufen will, sei es, dass ein feuriger Porschefahrer Bondage mit ihr üben will – oder dass Franz Leitmayr echte Gefühle sucht. Und findet, denn für ihn will sie ja die anderen Männer lassen. Warum die beiden auseinanderkommen, wird allerdings nicht ganz klar. Manche Menschen müssen wohl sterben, weil sie ein Übermaß an Gefühlen bei anderen erzeugen oder sind deswegen zumindest immer gefährdet. Charisma und eine tiefe Seele (deswgen wird Lisa wohl auch als halbe Nordfrau mit einem schwedischen Elternteil dargestellt, das eine oder andere Klischee muss schon sein, damit es in uns wirkt) werden zu einem Fluchtpunkt für Männer, die, egal ob arm oder reich, offensiv oder schüchtern, eine Leere in sich spüren, die eine solche Frau ausfüllen kann.

Kritisiert der Film auch, dass Lisa benutzt wird oder suggeriert er das zumindest? Eher nein. Sie scheint durchaus eine Rolle zu spielen, in der sie kein Opfer ist, sondern Partnerin in verschiedenen Dingen. Selten wurde in einem Tatort das Wirken einer Liebesdienerin so wertneutral und damit frei von moralischen Fehlzündungen gezeigt. Was die Männer fühlen, wissen wir, wenn Franz vor ihr kniet, was sie fühlen kann, ahnen wir, wenn sie sich auf eine Beziehung mit ihm einlassen will, die ihr ja auch eine fantastische Position raubt – nämlich viele Männer emotional zu führen – nicht zu beherrschen, um sie auszunehmen. Den Eindruck hat man nicht.

Finale

Ein herausragend gespielter Münchener, der für uns mindestens in die Top 100 aller bisherigen 910 Tatorte gehört. Abzug leider für das Ende, das ist uns doch etwas zu derb geraten, wie der Franz da auf dem Boden liegt und sich nicht mehr rührt, als bedürfe es eines Cliffhangers für die Fortsetzung – wo doch der nächste Tatort wieder ein komplett neuer Fall sein wird.

Schön aber wieder, dass man nach vielen Tatorten, die immer mehr in die Weltverschwörung eintauchen, mal wieder bewiesen hat, dass das zwischenmenschliche Drama immer gut ist für einen guten Krimi, wie es schon seit hundert Jahren und mehr ist. Es muss eben immer etwas Neues und gleichzeitig etwas Wiedererkennbares drin sein, etwas Stimmiges und etwas Besonderes.

Was wir uns wünschen: Dass das Team in der jetzigen Zusammensetzung bleibt. Da ist ein Swing drin, mit dem Jungpolizisten und vermutlichen Kommissaranwärter und der neuen Kollegin. Andere Tatortstädte haben auch diese größeren Teams, warum also nicht München?

8,5/10

© 2019, 2014 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

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