17 Seiten umfasst es und hat es in sich: Das Strategiepapier des Bundesinnenministeriums, das vor einem Monat zur Corona-Krise erstellt worden ist. Heute sehen wir, dass mit ziemlicher Konsequenz die Schritte so umgesetzt werden, wie sie schon dort festgelegt wurden, ohne dass man den Pandemieverlauf tatsächlich abschätzen konnte und ohne, dass man schon besonders viel über das Virus COVID19 gewusst hätte. Die Frage ist nun natürlich: Haben sich alle Annahmen bestätigt und deshalb wird gehandelt wie beschrieben, oder ist die Lenkung quasi unabhängig vom tatsächlichen Verlauf?
Die Freunde von der @HeimatNeue waren die ersten, die uns Anfang April darauf aufmerksam gemacht hatten, dass das Papier bei „Frag den Staat“ einsehbar ist. Wir waren vorsichtig mit seiner Weiterveröffentlichung, weil es keine offizielle Form aufwies. Wer hat es verfasst, warum trägt es keinen Briefkopf, keine Unterschriften etc., das hat uns beschäftigt. Nun hat „Abgeordnetenwatch“ das Papier nicht nur besprochen, sondern ebenfalls veröffentlicht. Zwar ist „Abgeordnetenwatch“ ein Partnermodul von „Frag den Staat“, aber wir sehen deren Expertise im investigativen Journalismus als hinreichend an, um für uns festzustellen: Den journalistischen Gegencheck kann man als durchgeführt ansehen, zumal mittlerweile die Leitmedien offenbar von der Echtheit des Papiers ausgehen. Wir veröffentlichen hier nur den unter einer gemeinfreien Lizenz verfügbaren Artikel von Abgeordnetenwach, nicht das Papier selbst, es kann aber auf deren Seite eingesehen werden. Selbstverständlich hatten wir uns frühzeitig einen Download des gesamten Papiers für unser Archiv gesichert.
Vor allem die Offenheit, die in diesem seinerzeit als „vs-vertraulich“ eingestuften Papier stellenweise zu vermerken ist, lässt einige Rückschlüsse zu, hier zum Beispiel zur Kommunikation, im Folgen wird auch die Rolle der Online-Community deutlich gemacht, die sie hat, um einen Schulterschluss zwischen Staat und zivilrechtlichen Akteuren zu erreichen:
Wir müssen wegkommen von einer Kommunikation, die auf die Fallsterblichkeitsrate zentriert ist. Bei einer prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate, die vor allem die Älteren betrifft, denken sich viele dann unbewusst und uneingestanden: «Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher». Diese Mechanismen haben in der Vergangenheit sicher zur Verharmlosung der Epidemie beigetragen.
Das ist noch etwas krasser formuliert, als wir es in einem Artikel getan haben, in dem wir unserem Ärger über die Ignoranz vieler Menschen Luft machten. Das Menschenbild, das hinter diesem Absatz durchscheint, ist nicht das allerfreundlichste, aber was wir in der Realität gesehen, die wir inzwischen aus Berliner Sicht beurteilen können, entspricht ihm zumindest teilweise.
Wir sind also embedded, die Verschwörungstheoretiker und Gefahrleugner hingegen schäumen. Natürlich sind die Kommunikationsstrategien manipulativ, ebenso, wie die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die in dem Papier niedergelegt sind, verblüffend genau die derzeitigen Ideen wiedergeben, die vom neoliberalen Teil der Politik in den Diskurs hineingetragen werden. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein „Weiter-wie-bisher“, was in diesem Strategiepapier niedergelegt ist, und diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen bestimmen das gesamte Bild, weil die Realität der Wirtschaft die Realität der Gesellschaft bestimmt. Wir haben aber die Möglichkeit, als Zivilgesellschaft die Coronakrise ebenfalls zu nutzen, nämlich um genau dieses Weiter-so noch mehr zu hinterfragen und dabei auch auf das Marktversagen in der Corona-Krise hinzuweisen, das sich an so vielen Stellen deutlich zeigt. Bis hin zu der Tatsache, dass immer noch nicht hinreichend Schutzkleidung zur Verfügung steht. Die industrielle Vorreiterrolle Deutschlands in Europa wird zu Recht auch im Strategiepapier des BMI herausgehoben, aber eine soziale Vorreiterrolle ist nicht zu erkennen und die industrielle Position wird für die Corona-Krise nicht hinreichend nutzbar gemacht.
Das Papier ist wie folgt gegliedert und kann unter der angegebenen Adresse heruntergeladen werden:
VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH
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