Die letzte Chance – Polizeiruf 110 Episode 56 #Crimetime 829 #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Berlin #DDR #Fuchs #Arndt #Chance

Crimetime xxx - Titelfoto Fernsehen der DDR / ARD

Hat dieser, hat jeder Mensch eine letzte Chance verdient?

Mit „Die letzte Chance“ hat Helmut Krätzig wieder einen statuarischen FIlm rausgehauen. Der Regisseur, dem man den allerersten Polizeiruf anvertraut hatte („Der Fall Lisa Murnau“, den wir leider bisher nicht gesehen haben) war bekannt für seinen pointierten Stil, den wir besonders in Filmen wie „Der Tote im Fließ“ bestaunen durften, aber mit der Zeit wurden auch eine Werke nachdenklicher und differenzierter. Wie im Polizeiruf üblich, hat er den Zuschauern aber auch nicht viel geschenkt, sondern sie durch Charakterdarstellungen getrieben wie der des Gerd Paulus, der nicht mehr studieren wollte, sondern ein loser Vogel wurde und sich und anderen nur Schwierigkeiten machte. Wie das bei uns ankam, verraten wir in der -> Rezension.

Handlung

Der junge Gerd Paulus flüchtet sich vor der Polizei auf ein Werksdach. Er droht, herunterzuspringen. Hauptmann Peter Fuchs und Leutnant Vera Arndt werden alarmiert, um ihn davon abzuhalten. Im Rückblick wird deutlich, wie es zu der Situation kam.

Gerd Paulus begann auch auf Drängen seines Vaters, Medizin zu studieren. Wegen Faulheit und Prüfungsbetrug wurde er zwangsexmatrikuliert und schlägt sich seither mehr schlecht als recht durchs Leben. Die Arbeit als Pfleger schmiss er hin, weil er alte Menschen nicht betreuen wollte. Auf dem Bau will er nicht arbeiten, schließlich hat er Abitur. Er lernt die alleinerziehende Arbeiterin Elfie Bösler kennen, bei der er unterkommt. Sie erkennt jedoch bald, dass er sie nur ausnutzt. Da er dennoch Geld nach Hause bringt, befürchtet sie, dass er kriminell geworden ist. Tatsächlich gibt sich Gerd im Warenhaus als Kaufhausdetektiv aus und kassiert Geld von Leuten, die Ware stehlen wollten. Irgendwann wird es Elfie zu viel, und sie wirft ihn raus.

Zu seinem Vater kann Gerd nicht, da dieser sich von seinem Sohn losgesagt hat. Er versucht zunächst als vermeintlicher Doktor bei Ursula unterzukommen, der er unlängst im Kaufhaus Geld geliehen hat. Deren Freund Dr. Mauser erkennt jedoch, dass Gerd ein Betrüger ist. Kurze Zeit später raubt Gerd Dr. Mausers Wohnung aus und stiehlt seine Visitenkarten und einige Rezepte. Bei einer erneuten Tour als falscher Kaufhausdetektiv stellt er die Sängerin Rosalinde Binetti und gibt sich spontan als ein Fan von ihr aus, der die Detektiv-Masche nur genutzt hat, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Er gibt sich als Dr. Mauser aus. Als die nervöse Rosalinde von ihm jedoch vor einem Auftritt ein Rezept ausgestellt bekommen will, verschreibt er ihr wahllos ein Medikament. Bei ihrem Auftritt bricht Rosalinde zusammen und wird wenig später mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus gebracht.

Gerd hat eine Arbeit als Straßenverkäufer aufgenommen. Hier findet ihn auch die Polizei, die ihm schon längere Zeit auf den Fersen ist. Ein Trick, den er beim Einbruch in Dr. Mausers Haus angewandt hat, stammt von dem ehemaligen Häftling Hans Erich Franzke. Er war einer der Männer, die im Kaufhaus von Gerd angesprochen wurden. Damals hatte er ihm von der Einbruchsmasche erzählt. Auf der Flucht vor der Polizei rennt Gerd auf das Hochhausdach. Die Ermittler haben inzwischen herausbekommen, wer Gerd ist. Sie holen Ursula und später Elfie auf das Dach, die Gerd zur Umkehr bewegen sollen. Erst ein heimlich installiertes Fangnetz lässt Gerd irritiert innehalten. Die Ermittler nutzen die Situation, um ihn zu überwältigen, und führen den tobenden Gerd ab.

Rezension

In diesem Fall passt kein Blatt zwischen die Meinung von Peter Hoff, dem Doyen unter den Polizeiruf-Spezialisten, und unsere. Wenn er schreibt, der Film sei moralisierend, dann unterschreiben wir das. Am Schluss dachten wir: Oh Mensch, spring lieber, die stecken dich sonst ins Umerziehungslager. Aber das Moralisieren geht ja genau in die andere Richtung. Was für ein Aufwand, um einen arroganten, hinterlistigen, faulen Schnösel zu retten. Gut gemacht, dass erst der Rahmen in der Gegenwart gesetzt wird und dann, während der Kampf um Gerds Leben läuft, wie er da am Dachrand lungert, wird in Rückblenden erzählt, wie es dazu kam. Geschickt, wie dann auch noch Personen, zu denen er kürzlich Kontakt hatte, genau dann erreicht werden, von der Polizei aufs Dache gebeten werden, um ihm irgendwas zu sagen, was Zeit gewinnen soll, bis die Feuerwehr das Fangnetz konstruiert hat – oder ihn gar vom Suizid abbringen soll, nachdem sie in den Rückblenden relevant wurden. Okay, die Chronologie wird gedreht und es handelt sich nur um zwei Frauen, die ihm vielleicht noch etwas Respekt vor dem Leben beibringen könnten.

Henry Hübchen gibt dem Paulus ein Gepräge, das immer wieder den Verdacht aufkommen lässt, die Macher des Films wollten den Zuschauer dazu verführen, dass er denkt: Wir haben echt Wichtigeres zu tun, als dieses kleine Arschloch in den Sozialismus zu integrieren. Soll doch rübermachen, wo Schaumschläger wie er schnell Karriere machen können. Oder – springen. Vor allem wird man den Eindruck nicht los, er spielt den Selbstmordgefährdeten und ist viel zu narzisstisch, um einfach so den Abgang zu machen und dass ihm der Auftrieb, den er da verursacht, ganz gut gefällt. Wir erfahren nicht, ob nach dieser Aktion ein Gutachten von ihm angefertigt wird und ob er behandelt oder in den Knast gesteckt wird, aber er hat, neben seinen Trickbetrügereien, auch beinahe eine fahrlässige Tötung herbeigeführt, und das wiegt schwer. Wie es dazu kam, ist sicher nicht die hellste Kerze auf der Torte der Handlungselemente in diesem Film, andererseits ist er mit einer durchaus steilen Logik ausgestattet. Ein Fail fußt mehr oder weniger auf dem vorausgehenden, auch wenn es andere Handlungsmöglichkeiten gegeben hätte. Die stehen aber jemandem wie Gerd Paulus nicht zur Verfügung, sein Wesen lässt kein Durchbrechen des Kokons zu, in den er sich eingesponnen hat.

Interessanterweise gibt es eine Parallele zu seinem Darsteller, der sein Physikstudium abgebrochen hatte, um Schauspieler zu werden, bei „Gerd Paulus“ ist es Medizin. Allerdings absolvierte Hübchen, wie so viele Spitzenschauspieler der DDR, im Anschluss die heutige Schauspielschule Ernst Busch und schloss sie ab. Trotzdem, so ein kleiner Bruch und Einblicke in eine andere Welt müssen nicht schaden. Die prägnanteste weibliche Episodenrolle hat Simone von Zglinicki inne, die eine junge Arbeiterin spielt, bei der Gerd Paulus versucht anzudocken. Wir haben sie als Vergewaltigungsopfer im zehn Jahre später entstandenen, herausragenden „Der Mann im Baum“ in Erinnerung und ihr kommt zugute, dass ihre Physionomie und ihr Ausdruck es ihr erlauben Figuren zu spielen, die um einiges jünger sind als sie selbst. Allerdings war auch Henry Hübchen schon 30 Jahre alt, als er Gerd Paulus spielt und wirkt wie ein 20jähriger, der nicht aus der Pubertät findet. Nach heutigen Maßstäben würde man ihm ohne Weiteres eine Persönlichkeitsstörung attestieren, aber im Film wird derlei nicht erwähnt.

Wenn wir aus der Schule plaudern sollten, würden wir sagen, seine Persönlichkeitsentwicklung wurde durch den massiven Druck, den sein Vater auf ihn ausübte, gestört und er endete unfertig und die Staatsmacht wird noch einiges mit ihm zu tun haben, bis er vielleicht doch, nach Erhalt der letzten Chance, noch auf einen gesellschaftsdienlichen Weg kommt. Das ist ja recht utilitaristische Zweck des Ganzen: Jemanden vor dem Sprung in den Tod zu bewahren, der jung genug ist, um noch zu etwas – sic! – nütze zu sein. Der andere Punkt ist: Nicht jeder, der eine ähnliche innere Struktur aufweist wie Gerd Paulus, gefährdet damit auch andere und die Gesellschaft. Die meisten kommen eben mit sich und dem Leben nicht recht klar. Das ist beklagenswert genug, aber in einer anderen Zeit stellt sich auch die Frage, inwieweit es Möglichkeiten gibt, so jemandem mehr gerecht zu werden und die deutlich spürbaren kreativen Anteile in ihm zu fördern. Zwischen erfolgreichen Künstlern und verkrachten Existenzen liegen oftmals gar keine Welten. Eine einzige geglückte Weichenstellung kann den Unterschied ausmachen und das, was im allgemeinen bürgerlichen Leben als großer Mangel gilt, wird als Eigenständigkeit wahrgenommen. Allerdings mit einer Einschränkung: Ohne daran arbeiten, sich auf etwas konzentrieren, ein Ding durchziehen können, wenigstens für eine Zeit fokussiert sein, geht es in der Regel nicht. Das sollte Gerd Paulus aber können, der hat ja auch das Abitur bestanden, das damals nicht solch eine Massenqualifikation war wie heute, auch in der DDR nicht.

Kinder und die Ansprüche von Eltern. Daraus kann man Dramen entwickeln. Mit einem durchaus zur Parodie einladenden Einschlag vor allem dann, wenn die Eltern ihren Kindern Dinge überhäufen wollen, die sie selbst nicht erreicht haben. Meist nicht zum Lachen: Wenn die Fußstapfen der Väter so groß sind, dass sich Söhne darin verlieren und das auch immer schön gespiegelt bekommen, wie man des bei Gerd Paulus vermuten darf. Da aber der Vater nicht einmal auftritt, erfährt man nur, dass er abweisend seinem Sohn gegenüber ist und in dem Krankenhaus, in dem er arbeitet, steht dem Sohn geradezu eine Wand gegenüber, weil alle den Vater verehren. In dieser Verehrung will sich niemand durch eine sich öffnende Familien-Blackbox stören lassen. Man kann das alles herauslesen, aber es ist viel mehr im Subtextbereich angesiedelt als das ungute Verhalten von Gerd, der jeden ehrlichen Menschen, der Sonntagsabends vor dem Fernseher sitzt, mit seiner Art zur Weißglut bringen kann.

Finale

„Die letzte Chance“ hat bei uns zwiespältige Gefühle hinterlassen. Wir mussten suchen, bis wir eine Leitlinie fanden, die es erlaubt, Gerd Paulsus auch zu verteidigen, während es sehr leicht ist, ihn zu verurteilen. Aber, wie immer in Krätzigs Filmen, gibt es starke Einzelmomente. Etwa, wie Otto Mellies als echter Arzt mit dem falschen „Kollegen“ umgeht und überhaupt diesen Typ Akademiker spiegelt, in dem Paulus seinen Vater erkannt haben dürfte. Oder wie Peter Fuchs einen Mann, der weiterhelfen kann, aber nicht auspacken will, eigens ins Krankenaus schleppt, damit er sich die schwerverletzte Frau anschaut, der Paulus eine falsche Medizin „verschrieben“ hat und der dann doch erzählt, wem er die „Leitungsprüfer-Masche“ weitererzählt hat. Was für ein Glück, dass Paulus auf eine ständig nörgelnde Hausbesitzerin aus den alten, vorsozialistischen Zeiten traf, die sich einbildete, die Freundin ihres Arzt-Sohns sei ein Flittchen und die Stromrechnung sei zu hoch.

Einen großen Moment hätte Vera Arndt – wieder, müssen wir mittlerweile schreiben – haben können, wenn sie ihre „psychologische Zusatzausbildung“ für ein echtes Duell, ein Kräftemessen mit Paulaus, hätte einsetzen dürfen. Aber sie bricht nach einem eher kurzen Versuch ab, ohne dass dafür ein Grund ersichtlich ist. Der Eindruck verfestigt sich, dass Arndt in Krätzigs Filmen (er hat für „Die letzte Chance“ auch das Drehbuch verfasst) nicht so zur Geltung kommen darf wie bei einigen anderen Regisseuren. Der im Vorgängerfilm „Schuldig“ zum Hauptmann befördete Fuchs übt die unmissverständliche Dominanz aus, die unser Anfangsbild von dieser Polizeiruf-Epoche geprägt hat, bis wir einige Filme sahen, in denen die anderen Ermittler*innen mehr aufschließen konnten.

Wir schließen mit einer kleinen Korrektur: Wir haben bisher Hans-Joachim Hildebrandt als den Regisseur mit den meisten gedrehten Polizeirufen genannt, aber Helmut Krätzig kommt auf ebenso viele – jeweils 19. Wenn man einen Film einschließt, der als Polizeiruf konzipiert war, aber außerhalb der Reihe gezeigt wurde, sind es bei Krätzig sogar 20. Besonders ist bei dem FIlm nicht nur die Plotanlage, die ein wenig an Filme wie „Die Dinge des Lebens“ erinnert, sondern auch die Musik von den Puhdys. Wir meinen, der Liedtext von „Die Gitter schweigen“ passt gut, nicht perfekt, um Gerd Paulus zu illustrieren, aber der Film ist insgesamt ansprechend und recht modern gemacht. Außerdem spielt Helmut Krätzig eine Kleinrolle und sein Kollege Manfred Mosblech zählt ebenfalls zu den Akteuren.

7/10

© 2020 (Entwurf 2019) Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Helmut Krätzig
Drehbuch Helmut Krätzig
Produktion Helga Lüdde
Musik Puhdys
Kamera Helmut Borkmann
Schnitt Bert Schultz
Besetzung

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