Mister Radio (DE 1924) #Filmfest 891

Filmfest 891  Cinema

Mister Radio ist der Titel eines Sensationsdramas, das Nunzio Malasomma 1924 für die Berliner Phoebus-Film nach einem Drehbuch, das er zusammen mit Ernest Bouthley verfasst hatte, mit dem italienischen Schauspieler-Artisten Luciano Albertini in der Hauptrolle inszenierte. Titel und Handlungsverlauf heben deutlich ab auf die Begeisterung für das neue Nachrichtenmittel Radio, die seinerzeit weltweit um sich griff.[2]

 
Handlung (1)
 

Der Erfinder Gaston de Montfort hat in jahrelanger Forschungstätigkeit ein innovatives Verfahren entwickelt, das mit Hilfe von Radiowellen Zusammenstöße von Eisenbahnzügen verhindern soll. “Mister Radio” nennen ihn deswegen die Leute in der Gegend, in der er zusammen mit seiner Mutter hoch oben auf einem einsamen Felsen lebt. Diese will ihn vor dem Geheimnis bewahren, das den Tod seines Vaters umgibt. Doch die Ankunft des Bankiers Swalzen zwingt ihn, wieder mit der Außenwelt in Verbindung zu treten und sich der Vergangenheit seines Vaters zu stellen. Er verliebt sich in die Tochter des Mörders seines Vaters und kämpft um ihr gemeinsames Glück. 

Produktionsnotizen (1)

Mister Radio war eine Produktion der Berliner Phoebus Film. Die Dreharbeiten fanden in der Sächsischen Schweiz, im Elbsandsteingebirge bei Rathen an der Elbe und in Dresden statt. Die Aufnahmeleitung hatte Gustav Renz. Die Photographie besorgten Willy Großstück und Edoardo Lamberti. Die Bauten entwarf Willi A. Herrmann.

Der ursprünglich 1902 Meter lange Film war viragiert und gefärbt.[4] Er lag am 7. August 1924 der Reichsfilmzensur vor und wurde unter der Nr. B. 08798 mit Jugendverbot belegt. Die Uraufführung fand am 5. September 1924 in Berlin im Bafag-Theater am Ku’damm[5] statt.

Mister Radio lief auch in Österreich, Dänemark und in Brasilien. Sein späterer Verleihtitel in Österreich lautete Der Zusammenstoß des Nord-Expreß,[6] in Dänemark hieß er Doktor Radio.[7]

Der Film wurde vom Österreichischen Filmmuseum restauriert, so dass er nun wieder aufführbar ist. Die Kopie entstammte den Beständen der Tiroler Verleihanstalt “Waldmüllers Alpenländische Filmzentrale” in Innsbruck.[8] 

Rezension

Warum war der „Sensationsfilm“ nicht in der Lage, auch im Tonfilm sein Publikum zu fesseln? Weil die Tontechnik es zunächst nicht ermögliche, die Kamere so frei und trickreich agieren zu lassen, wie man es in „Mister Radio“ sieht. Dabei hatte ich ein seltsames Gefühl: Dass nämlich dieser Schinken, um es mal aufgrund seiner kolportagehaften Handlung so auszudrücken, viel mehr die Mainstream-Produktion in Europa und im deutschsprachigen Raum spiegelt als die unzählige Male besprochenen Meilenstein-Kunstwerke, die im Weimarer Kino doch recht zahlreich hergestellt wurden und ebenfalls ihr Publikum fanden. Ob die Kritiker damals wirklich glaubten, die Action sei „echt“? 

Der Film-Kurier Nr. 211 vom 6. September 1924 pries den Hauptdarsteller: „Man kann Albertini den Gentleman unter den Sensationsdarstellern nennen. Nicht alleine daß er den Zuschauer durch seine überragenden artistischen Fähigkeiten fasziniert, er besticht das Auge des Publikums durch die vollendete Eleganz, mit der er seine Parforcestücke vollführt. Es gibt Sensationsdarsteller, angesichts derer man förmlich den Schweiß riecht, der sie ihre Arbeit gekostet hat. Bei Albertini ist alle Schwere der Materie in spielende Leichtigkeit eingelöst. Und als Schauspieler gewinnt er immer wieder durch die Schlichtheit und Liebenswürdigkeit seines Naturells, das ohne alle Starallüren seine Menschlichkeit auswirkt. Nicht zuletzt ist es der Zauber der Gebirgswelt, der dem Film seine Wirkungskraft verleiht. Eine volle Resonanz beim Publikum ist diesem Film sicher.“

Für deutsche Verhältnisse ist der Film in der Tat sehr wenig theaterhaft, nicht nur, weil er draußen in der Natur spielt, überwiegend jedenfalls, sondern auch, weil der Hauptdarsteller, anders als viele Größen der Zeit und bis heute, nicht vom Theater kam, sondern bereits eine Karriere als Zirkusartist hinter sich hatte, als er zum Film ging und in der Folge nach Deutschland.

Mister Radio war der erste von drei Filmen, bei denen Nunzio Malasomma als Regisseur mit dem Artisten Albertini zusammenarbeitete. Dieser drehte bei der Phoebus Film in Berlin noch vier weitere Filme.[9] 

In Turin wurde der durchtrainierte, muskulöse Artist und Sportler im Jahr des Kriegseintritts Italiens (1915) aufgrund seiner körperlich stattlichen Erscheinung von der Filmproduktionsfirma „Società Anonima Ambrosio“ als Schauspieler verpflichtet. [Francesco] Vespignani erhielt den Künstlernamen Luciano Albertini und trat bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in diversen unbedeutenden Historienspektakeln auf, in denen einzig seine körperlichen Attribute im Vordergrund standen. Mit dem Zirkus- und Artistenstoff La spirale della morte, in dem Albertini sein zirzensisches Können unter Beweis stellen konnte, gelang ihm 1916 der Durchbruch beim Publikum. Sein größter Erfolg wurde ab 1917 die Darstellung des athletischen biblischen Helden Samson (im Original: Sansone), mit dem Albertini bis 1920 in Filmserie ging. Oftmals stand nunmehr seine zweite Ehefrau Linda Albertini in der Rolle der „Sansonette“ an seiner Seite.

Inzwischen hatte Albertini 1918 in Turin seine eigene Produktionsfirma gegründet, die „Albertini Film“. Eine seiner letzten italienischen Filmrollen wurde 1920 der Baron Frankenstein, der ein Monster erschafft. Im Jahr darauf ging der Schauspieler nach Berlin, wo er Heldenrollen in deutschen Sensationsfilmen spielte. Trotz zeitweilig beträchtlicher Popularität konnte er sich auf Dauer nicht gegen den ungleich einfallsreicheren, sportiveren, wagemutigeren und eloquenteren deutschen Kollegen Harry Piel durchsetzen.

An Harry Piel, der damals in etwa das Bild von „Menschen, Tiere, Sensationen“ prägte, dachte ich sofort, als ich den Begriff „Sensationsfilm“ las, aber, siehe oben, mir war nicht klar, dass ausgerechnet im Land der grüblerischen Kunstfilme und philosophisch-psychologischen Grenzgänger die Sensation vielleicht eher gelebt wurde als damals in den USA, wo es im A-Film immer auch um die Pracht und den Einfallsreichtum von Hollywood ging, wie etwa in den Filmen mit Douglas Fairbanks, dem Actiondarsteller Nr. 1 seines Landes in jener Zeit, der mit Albertini eine Gemeinsamkeit hatte: Er war schon über 40 Jahre alt, als er seine größten Erfolge feierte. Dabei ist es keineswegs abwegig, dass das deutsche Kino damals gar nicht als so langsam und handlungsarm galt, wie man es kennt, denn z. B. auch die großen Filme von Fritz Lang waren in den 1920ern reich an Sensationen und oft „Genres“, Agentenfilme, Heldensagen-Verfilmungen oder Science Fiction. 

Aber eines hatten sie alle nicht: Die Unbekümmertheit mit der z. B. in „Mister Radio“ sich Trash mit Akrobatik paart. Ansehnlich ist das alles durchaus und es erinnert so sehr ans heutige Mainstream-Kino, in dem es vor allem um Spannung und um das Übersteigen der physischen Machbarkeit geht. Selbstverständlich sind viele der Kletter- und Rettungsszenen in dem Film tricktechnisch bearbeitet, aber die Athletik, die der Hauptdarsteller Luciano Albertini in seine Rolle einbringt, hilft dabei, eine für jene Zeit vermutlich überdurchschnittliche Authentizität, nun ja, vorzuspiegeln trifft es nicht ganz, es war ja eine Kombination aus echter Körperlichkeit und deren Erweiterung durch gar nicht so übel ausgeführte technische Mittel. Dadurch, dass Albertini in der Tat recht mühelos agiert, hat das Ganze auch schon etwas von James Bond und dessen Art, lässig durch jede Situation zu kommen. 

Umso simpler ist die Handlung gestrickt. Dabei muss man allerdings aufpassen, dass man nicht an den Film höhere Maßstäbe anlegt, weil er nicht zum „Kanon“ gehört, als an die ewigen Leitsterne jener Tage. Der Stil, in dem der Plot zusammengebastelt ist, vor allem diese nicht näher erklärte Geschichte um den Bankier und den Einsiedler-Edelmann, wirkt wie der gequetschte Zufall an sich, aber mit einem gewissen Ernst dargeboten, denn komödiantische Elemente beinhaltet das Werk nicht, wenn man von dem möglicherweise unfreiwillig witzigen Moment absieht, in dem man glaubt, die Bankierstochter hätte eine Erleuchtung, pudere sich die Nase und schreite zur Tat. Zur Rettungstat für ihren Galan. In Wirklichkeit pudert sie sich die Nase und tut gar nichts, während die Artistin (!) sich aufs Höchste für Gaston einsetzt. Da steckt doch so etwas wie ein sozialer Kommentar drin: Die Kreativen und die Performer, nicht die Bankiers und die Eisenbahn-Mogule sorgen für den Fortschritt. Erstaunlich, dass eine solche Technik, wie sie hier gezeigt wird und die Zusammenstöße von Zügen verhindern soll, nicht wirklich erfunden wurde, ähnlich einem Radarsystem. Vielleicht nicht in der Form, dass es automatisch bremst, aber doch die Zugführer warnt. 

Finale

Fast alle deutschen Stummfilme, die ich bisher angeschaut habe, unterfallen der Kategorie „Künstler-Film“, die mit „Der Student von Prag“ sozusagen namentlich ins Leben gerufen wurde, stammen von Regisseuren, die jeder Cineast kennt und zeigen Darsteller:innen, die man zu den Superstars ihrer Zeit rechnen kann. Das ist bei einem Gebrauchsprodukt wie „Mister Radio“ anders, der aber deshalb nicht weniger interessant ist, weil er die Alltagskultur oder die Mode der Zeit doch recht gut wiedergibt. Das Radio spielt aber leider keine Rolle in dem Sinn, dass jemand Radiosendungen hört oder man sich gar per drahtloser Kommunikationstechnik zwischen dem Einsiedlerturm und anderen Orten verständigt. Es muss reichen, dass man einen Apparat im Turm sieht und einen bei der Bankiersfamilie und dass das Gerät im Turm dabei hilft, ein Kollisionswarnsystem für die Eisenbahn zu entwickeln. Man kann auch sagen, die Radiotechnik wirkt aus Modegründen in den Film implementiert als die Athletik, die ein genuines Merkmal des Hauptdarstellers und des Genres war, dem der Film zugeordnet wird.

Obwohl der Stab und die Besetzung viele italienische Namen zeigen, ist der Film als rein deutsche Produktion ausgewiesen.

66/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Nunzio Malasomma
Drehbuch Nunzio Malasomma, Ernest Bouthley
Produktion Phoebus-Film Berlin
Kamera Willy Großstück, Edoardo Lamberti
Besetzung
  • Luciano Albertini … Gaston de Montfort, Erfinder
  • Agnes Nero … Gräfin Jeanne de Montfort, Gastons Mutter
  • Evi Eva … Marion
  • Magnus Stifter … Joe Swalzen, Bankier, ihr Vater
  • Fred Immler … Girondin, sein Sekretär
  • Annie Gorilowa … Edy Duflos
  • Robert Scholz … Industrieller
  • Angelo Rossi … Bergführer
  • Mario Fossati … Journalist
  • M. Leonhard … Apache[1]

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