Das Mädchen mit der Puppe – Tatort 330 #Crimetime 1107 #Tatort #Duesseldorf #Flemming #Koch #WDR #Puppe #Mädchen

Crimetime 1107 – Titelfoto © WDR

Der Krieg als Schule des Lebens

Das Mädchen mit der Puppe ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort. Es ist der 14. Fall der Düsseldorfer Ermittler Flemming und Koch und die 330. Tatortfolge. Der vom Westdeutschen Rundfunk produzierte Beitrag wurde am 8. April 1996 auf Das Erste zum ersten Mal gesendet. Flemming und Koch haben es mit dem Tod eines südosteuropäischen Mädchens und den Menschenhändlern dahinter zu tun.

Die raue Luft der 1990er durchweht diesen Tatort. Während hierzulande die Menschen noch dachten, es wird alles nicht so schlimm kommen, war der eiserne Vorhang indes weg und nach kurzer Zeit war ein Menschenhandel im Gang, der bis heute anhält. Befördert wurde dieser durch den ersten Jugoslawienkrieg, der die Landesteile des Mehrvölkerstaats auseinanderriss und so viele Menschen traumatisierte und viele in den Westen trieb. Junge Männer für den Bau, junge Mädchen für die Prostitution oder, wie hier, für Kinderpornos, das ist nach heutigem Wissensstand alles andere als unrealistisch. Und mittendrin im Geschäft der Rattenkönig. Krieg herrscht überall und es ist gut, wenn man Erfahrungen nutzen kann, die man schon in sehr jungen Jahren damit gemacht hat. 

Handlung (1)

Kurt betreibt eine illegale Arbeitsvermittlung für Osteuropäer und vermittelt auch Frauen zu sexuellen Diensten. Ein junges kroatisches Mädchen, das er für erotische Fotos missbrauchen lässt, wird aufmüpfig. Als er es durch seinen Handlanger Stipe einschüchtern lassen will, kommt es zu Tode. Die Gangster legen die Leiche an einem nahe gelegenen See ab. Als die Leiche gefunden wird, erfahren Flemming und Koch, dass das Mädchen noch Jungfrau war und ihre Kleidung erst kurz vor ihrem Tod als eine Art Kostüm angelegt hat. Flemming und Koch vermuten, dass das Mädchen vom Balkan stammte und suchen ein Areal auf, auf dem Jugendliche aus der Region hausen. Dort finden sie tatsächlich die Sachen des toten Mädchens und stellen fest, dass sie regelmäßig kleine Geldbeträge an ihren Bruder Milan nach Hause überwiesen hat. Sie benachrichtigen Milan. Er reist nach Düsseldorf und identifiziert seine Schwester, zeigt sich aber sonst nicht sonderlich kooperativ den Beamten gegenüber. Flemming und Koch bringen den jungen Mann zum Bahnhof, doch anstatt die Heimreise anzutreten schleicht er sich, von den Beamten unbemerkt, wieder aus dem Zug.

Milan beobachtet am Bahnhof osteuropäische Kinder beim Stehlen und ahnt, welches Schicksal seine Schwester ereilt hat. Er zeigt ihnen ein Foto von ihr, woraufhin sie ihm einen Hinweis auf die Unterkunft seiner Schwester geben. Dort trifft er auf die Polin Babsi. Sie erzählt ihm von Kurt und, dass sie alle Angst vor ihm haben. Während Flemming und Koch ermitteln, dass das Mädchen wahrscheinlich Modell für kinderpornographische Fotos gestanden haben könnte und wo solche Fotos vertrieben werden, ist Milan ihnen einen Schritt voraus, als Babsi ihm den Hinweis auf den Fotografen Carlo gibt, der die Fotos von seiner Schwester gemacht hatte.

Milan sucht Carlo auf und bedroht ihn mit einem Messer, um Hinweise auf die Hintermänner zu erhalten. Carlo gibt ihm falsche Hinweise. Milan droht, zurückzukommen, wenn die Hinweise nicht stimmen. Carlo informiert umgehend Kurt, während sich Milan im Haus versteckt. Kurt und Stipe suchen Carlo auf und fingieren seinen Selbstmord, damit dieser Kurt nicht verraten kann. Milan schleicht sich heimlich in Kurts Van und fährt mit ihnen zu Kurts Wohnung in einem Industriegebiet. (…)

Rezension

Ein Rattenkönig ist mitnichten der aristokratische Chef der Ratten, mit dieser Bedeutung wird der Begriff aber in „Das Mädchen mit der Puppe“ ausgestattet. Absichtlich wohl nicht, oder der Film wäre viel gruseliger und tiefgründiger, als er ansonsten wirkt. Nach dem, was ein Rattenkönig wirklich darstellt, wäre die Ansammlung der Jugendlichen im Bus am ehesten damit zu vergleichen, die in einer ungewöhnlichen Art von Zufallsgemeinschaft leben, die aber zusammenbleibt und vielleicht auch symbiotisch ist und natürlich von „Kurt“ kontrolliert wird. Sie sind sogar eine Art verschworene Schicksalsgemeinschaft, aber das Bild eines Rattenkönigs passt auf sie irgendwie nicht, denn sie sind im z. B. nicht auf Hilfe von außen angewiesen, sondern sind selbst aktiv, können sich recht frei bewegen und verdienen Geld. Was die Kinder und Jugendlichen machen, erfahren wir teilweise; einige sind zum Beispiel aufs Stehlen auf Bahnhöfen spezialisiert, das Mädchen mit der Puppe macht freizügige Fotos, auf einigen davon hält sie eine Puppe. Und wer kriegt die Beute oder die Gage? Der „Rattenkönig“ mit seinen sehr unübersichtlichen Geschäften und seiner Abneigung gegen aufmüpfige Tschech:innen? Offenbar läuft sein Business mindestens dual, nämlich in Form von Vermittlung und in Form von Ausbeutung einiger der jungen Osteuropäer:innen, z. B. derjenigen, die im Bus leben. 

Wir haben oben das Business als solches mit dem Siegel „realistisch“ versehen, das gilt aber für viele konkrete Handlungselemte und Bestandteile der Inszenierung nicht. Das beginnt bereits beim „Rattenkönig“. Dass er hinter den abgedunkelten Scheiben seines Vans nicht sichtbar ist, mag angehen, aber das Auto selbst ist sicher das einzige dieses Typs in Düsseldorf und angesichts der Massenverschiebung von Menschen würde es sicher auch einmal zu Reibungsverlusten, zu „Schwund“ kommen und zu Anzeigen und die Polizei würde auf diesen Typ und sein ebenso schräges wie stummes Faktotum kommen. Aber offenbar läuft das alles recht ungehindert, es sei denn, es kommt zu einem Mord. Dann greift nämlich Flemming ein und mithilfe von sehr vielen Zufällen kommt er gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass die bösen Buben sich von selbst in den Tod stürzen. Auch die Figur des „Milan“ ist sowohl vom Typ, von der Sprache als auch von seinen Fähigkeiten und Verhaltensweisen nicht überzeugend. Die Fahrstuhlszene ist zwar spannend, aber es läuft etwas viel Blut aus dem Turnschuh und sie ist vermutlich nur einmal gefilmt, aber zweimal eingefügt worden. Vor allem aber: der Krieg! Der Krieg macht aus Bauernjungen Generalisten, die beinahe an die Fähigkeiten amerikanischer Actionhelden herankommen. Oder, sagen wir, sie haben mehr Sinne. Sie wissen, wie man Wohnungen aufspürt, ohne die Adresse zu kennen und haben auch gleich einen Koffer mit Werkzeug dabei, von dem sie gar nicht wissen können, ob sie so etwas gebrauchen können, auch das Auffinden von Haustelefonanschlüssen etc. geschieht mit einer verblüffend mühelosen Art und Weise. Der Dachboden, nicht der Keller! 

In krassem Gegensatz zu dieser lautlosen Behendigkeit steht die träge Ermittlungsleistung von Flemming und Koch, die aber wiederum durch die krasse Überzeichnung des Bösewichts ausgeglichen wird. Es endet ja nicht beim viel zu auffälligen Auto (aber wenn schon die Kunden Ferraris vom Typ Testarossa fahren …), sondern geht weiter mit gefangenen Vögeln (sehr symbolisch) und mit dem Hund, der so trainiert wird, dass er (Symbolik) genau so ein Bösewicht wird wie sein Herr und beide … ähm … essen auch vom selben Stück rohes Fleisch. Alles dies findet statt auf dem Dach eines Hauses, das zuweilen wirkt wie ein Wohnhaus, dann aber wieder wie die einzige Behausung auf einem alten Fabrikgebäude, in der Nähe werden praktischerweise auch die Container deponiert, mit denen die jungen Menschen „angeliefert“ werden. 

Möglicherweise ist „Das Mädchen mit der Puppe“ der erste Menschen-im-Container-Tatort, später kam derlei z. B. bei der Schleusung von Geflüchteten ebenfalls in Filmen der Reihe gezeigt. 

Finale

Der Film fängt ziemlich düster an, steigert sich schnell hin zum Mord, trotzdem ist der Verlauf nicht ganz typisch, weil wir das Mädchen noch kurz kennenlernen dürfen, bevor sie achtlos in den Rhein geworfen wird oder in ein Hafenbecken. Ihr Tod war nicht beabsichtigt, aber es tut dem bösen Kurt und dem rohen „Stippe“ auch nicht besonders leid, das sind halt Kollateralschäden in einem harten Geschäftszweig. Udo Kier spielt diesen Typ genauso überdehnt, wie sein ganzes Setting dargestellt wird, aber offenbar musste es mal sein, dass es wieder endlich solche Fieslinge gibt, nachdem der Tatort mehr und mehr dazu tendierte, schuldlos Schuldige zu präsentieren und keine handfesten Räuberpistolen mehr hervorzubringen, wie in der Anfangszeit. Ausnahme: Die Ost-Tatorte mit Ehrlicher, diese haben sich um die sachgerechte Porträtierung megaschlimmer Wessis sehr verdient gemacht. Exakt so einer ist Kurt, nur, dass er in Düsseldorf geblieben ist. Den Flemming, der dort ermittelt, mag ich recht gerne, weil er sein Team (anfangs mit Max Ballauf war es ein Dreierteam) immer sehr sozial behandelt und schützt, später gilt das nur noch für Miriam Koch, die in „Das Mädchen mit der Puppe“ ebenso wie Flemming recht knapp gehalten wird, spielzeitmäßig, weil der böse König und die jungen Menschen, die weit weg von zu Hause unter schlimmen Umständen klarkommen müssen, mehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Das ist vor allem möglich, weil der Film kein Whodunit ist, sondern ein Howcatchem. Man weiß als Zuschauer vom Moment der Tat an, wer das Mädchen umgebracht hat, es geht nur noch darum, wie man der Mörder habhaft wird.

Ein richtiger Thriller ist der Film aber auch nicht, denn es kommt nicht zu einem Duell zwischen Cop(s) und Verbrecher(n) und es wird auch kein Kampf gegen die Zeit als zusätzliches Spannungselement eingebaut. Dadurch kommt es durchaus zu einigem Leerlauf, der den Eindruck verstärkt, dass die gesamte Inszenierung nicht sehr rund ist und das, was wir sehen, nicht selten sehr dicht am Rande unfreiwilliger Komik verweilt. Positiv ist zu vermerken, dass man dicht an das Thema herangegangen ist, ohne es zu sehr zu exploitieren, aber es ist schwierig, solche Filme aus Täter- und Opfersicht zu machen, die Polizei hingegen mit ihrer guten alten Arbeit etwas zurückzudrängen. Das erfordert viel Präzision und auch Milieukenntnis. Der böse Kurt hingegen wirkt doch mehr wie ein Fantasieprodukt ambitionierter oder mit dem Gen zur Darstellung von dunklem Halb-Humor ausgestatteten Drehbuchautoren und am Ende wechseln sich einige berührende mit vielen Momenten ab, während der man sich auch am Kopf kratzen und denken kann: wirklich? Heute würde man das Thema sicherlich ernsthafter aufarbeiten und auf einige Mätzchen verzichten.

5,5/10

© 2002 Der Wahlberliner (Entwurf 2021) 

(1), kursiv und tabellarisch: Wikipedia

Regie Markus Fischer
Drehbuch Pea Fröhlich
Peter Märthesheimer
Produktion Veith von Fürstenberg
Musik Illi Noise
Kamera Jörg Schmidt-Reitwein
Schnitt Nina Ergang
Besetzung

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