Crimetime 993 - Titelfoto © Fernsehen der DDR / ARD
Man kann den Zug des Lebens nicht aufhalten, aber sich vor ihn zu werfen, ist auch keine Lösung
Vorwort 2021
Am 27.06.1971 wurde der erste Polizeiruf „Der Fall Lisa Murnau“ im Fernsehen der DDR ausgestrahlt. Anlässlich des bevorstehenden 50. Jahrestages der Reihe beschleunigen wir die Veröffentlichung unserer Kritiken und werfen im Juni 2021 mindestens alle zwei Tage ein Schlaglicht auf die Reihe – in Form unserer Rezensionen zu Polizeiruf-Episoden und einigen Dokumentarfilmen.
Zu „Schranken“
In diesem 77. Polizeiruf gibt es, bis auf einen Diebstahl par Occassion, kein Delikt – und trotzdem Schuld und Verstrickung. Die Schranken des Lebens kann man nicht einfach umgehen, wie die Bahndammszenen sinnbildlich zeigen, aber man kann warten, bis sie sich öffnen, und dann beherzt weiterfahren. Das gelingt der Protagonistin in diesem Film nicht und daraus ergeben sich dramatische Folgen. Mehr dazu in der -> Rezension.
Handlung (1)
Renate Müller rennt durch ein Waldstück und hält auf der Straße einen Wagen an, der sie zu ihrem Betrieb bringt. Die Kraftfahrerin bei der GHG Technik berichtet ihrem Vorgesetzten, dass ihr Wagen gestohlen wurde. Der Wagen wird wenig später gefunden: Er ist bei einem Autounfall vollkommen zerstört worden. Ein Teil der transportierten Ware fehlt. Neben dem Wagen liegt ein schwerverletzter Mann. Der verschnupfte Hauptmann Peter Fuchs übernimmt die Ermittlungen, wobei er von Leutnant Berger unterstützt wird. Bei dem schwerverletzten Mann handelt es sich um Klaus Born, der nach zwei Jahren im Gefängnis gerade erst aus der Haft entlassen wurde. Da Klaus im Koma liegt, beginnen die Ermittler, seine ehemaligen Mithäftlinge zu befragen. Die Ermittler gehen von einem weiteren Täter aus, der fliehen konnte, und auch Renate glaubt, im fortfahrenden Wagen einen Beifahrer gesehen zu haben. Willi Kuhn hat ein Alibi, während Peter Brück angibt, in der fraglichen Tatzeit spazieren gegangen zu sein. Bei einer späteren Befragung flieht Peter zunächst vor den Ermittlern, weil er nach eigener Angabe mit dem Wagen seines Schwiegervaters und ohne Fahrerlaubnis unterwegs war. Peter wird vorläufig festgenommen.
Beim Nachstellen des Wagendiebstahls begeht Renate verschiedene Fehler und zeigt sich unsicher, so hatte sie angegeben, am Waldgebiet an einer verschlossenen Schranke gehalten zu haben. Da kein Zug kam, sei sie ausgestiegen und habe auf den Gleisen Ausschau gehalten. Sie ging kurz in den Wald austreten, als sie das Motorengeräusch ihres Wagens hörte und ihn davonfahren sah. Nun, bei der Nachstellung der Szene, geht sie nach der kurzen Pause auf den Schienen in das gegenüberliegende Waldgebiet von dem, was sie bei der Erstbefragung angegeben hatte. Beim Ablauf der Tat, bei dessen Nachstellen Peter am Steuer sitzt, identifiziert sie Peter als den damaligen Fahrer. Während Leutnant Berger Peter sofort verhaften will, hat Peter Fuchs Zweifel. Er erkennt, dass Renate etwas verschweigt, zumal sie die ganze Sache so sehr mitgenommen hat, dass sie wegen Schocksymptomen krankgeschrieben wird.
Klaus Born stirbt an seinen Verletzungen. Bei der Befragung seiner Mutter zeigt sich, dass Klaus kurz vor Haftantritt noch mit einer jungen Frau zusammen war, die ein Kind von ihm erwartete. Bei der Frau, die sich von ihm trennte, als sie von seiner Verurteilung erfuhr, handelt es sich um Renate. Sie hat ihren neuen Mann in dem Glauben gelassen, dass ihr Sohn sein Kind sei. Die Ermittler suchen Renate, die jedoch verschwunden ist. Sie hat in ihrem Haus einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie zugibt, selbst den Unfall verursacht zu haben. Sie schreibt, dass der Vater ihres Sohnes Klaus ist und dass sie sich umbringen werde. Ihr Mann begibt sich vergeblich auf die Suche nach ihr. Renate erkennt jedoch am Güterbahnhof, dass sie nicht die Kraft hat, sich umzubringen. Sie erinnert sich an die Tat, wie Klaus sie an ihrer Arbeitsstelle abgepasst hat und ihr gemeinsames Kind sehen wollte. Wie sie ablehnte und er androhte, auch ohne ihre Zustimmung seinen Sohn aufzusuchen und seine Vaterschaft bekannt zu machen. Und wie sie ungewollt das Steuer verriss und den Unfall verursachte. Sie kehrt nun zurück in ihr Haus, wo ihr Mann, ihre Mutter und die Ermittler auf sie warten und erleichtert reagieren.
Rezension
Für „Schranken“ hat Hans-Werner Honert sein zweites Drehbuch verfasst. Honert ist einer der erfolgreichsten Filmemacher mit Wurzeln in der DDR nach der Wende geworden. Geschäftlich wohl der erfolgreichste von allen, denn er hat die Saxonia Media gegründet, die heute viele MDR-Tatorte und Polizeirufe produziert und weitere bekannte Fernsehformate. Auch, als er längst die Saxonia leitete, verfasst er noch Skripte und führte hin und wieder Regie. „Schranken“ ist also ein Frühwerk. Das hat Vorzüge und Nachteile. Eine innovative Aufladung eher alltäglicher Szenen gelingt ihm zum Beispiel dadurch, dass er Menschen beinahe bildfüllend zeigt, während andere im Hintergrund so sprechen, dass man ihre Worte deutlich verstehen kann. Dadurch wirken simple Figurenanordnungen fülliger und informativer, besonders das Familienleben der Müllers wird auf diese Weise sehr dicht illustriert.
Weniger gelungen ist der Beginn – ich hatte Mühe, zu folgen und das passiert mir bei den in der Regel sehr verständlich aufgebauten DDR-Polizeirufen selten. Die Rückblende, ein wiederum klassisches Stilmittel der Reihe in jenen Jahren, erklärt dann alles – aber auf eine Weise, die dem Verstehen des Plots geschuldet ist, nicht der Erläuterung von Hintergründen des Verbrechens. Letzteres ist integriert, aber mich hat es trotzdem gestört, dass zu Beginn viele Personen eingeführt werden, für die sich kein Raumbild ergibt. Alles um Frau Müller herum aufzubauen, weist natürlich darauf hin, dass diese mehr mit dem Unfall zu tun haben muss, als dass ihr zuvor der Dienstwagen gestohlen wurde, darauf weist auch ihre Panik hin.
Witzig ist das alles andere als harmonische Verhältnis zwischen Fuchs und Berger, eine so konfrontative Aufstellung zweier eigenwilliger Polizisten habe ich bisher in keinem DDR-Polizeiruf gesehen und ich finde es auch ein wenig gewagt, weil das Bild von der sauber, harmonisch und reibungslos arbeitenden Volkspolizei hier etwas angekratzt wird. Es gibt zwar immer mal kleinere Schlagabtausche, aber richtige Auseinandersetzungen, wie hier zu sehen, sind eine absolute Ausnahme. Leutnant Berger war den Erstellern der Liste aller Polizeiruf-Folgen, die man in der Wikipedia abrufen kann, wohl so unsympathisch, dass sie ihn nicht erst als Co-Ermittler aufführen – dabei ist er eine der prägnantesten Persönlichkeiten bis zu diesem Zeitpunkt und ebenfalls bis dahin der einzige, dem man zutrauen könnte, Hauptmann Fuchs ernsthaft Paroli zu bieten, wenn er sich die Hörner etwas abgestoßen hat, wie man es früher nannte, wenn jemand allmählich trocken hinter den Ohren wurde.
Ideologisch ist der 77. Polizeiruf unauffällig. Was wir sehen, kann immer und überall passieren, hingegen hat er eine eindeutige Moral: Mann muss ehrlich sein, in der Ehe, wenigstens in den wichtigen Dingen; man darf z. B. nicht dem eigenen Mann vorspielen, ein Kind, das nicht von ihm stammt, sei das seine.
Sensibel, wie Herr Müller ist, ahnt er’s sowieso, will aber, sensibel wie er ist, warten, bis die Frau sich ihm offenbart, liebt und umsorgt den Jungen derweil, als sei’s sein eigener und man ist sicher, das wird er auch nach der Offenbarung tun. Schwierig wird es, als der leibliche Vater den Kleinen auch einmal sehen möchte, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, und außerdem Zukunftspläne zu spinnen anfängt. Es ist keine Absicht, dass Frau Müller ihn daraufhin durch einen Ausritt mit dem Auto in den Wald zur Strecke bringt, ohne selbst einen einzigen Kratzer abzubekommen, aber am Ende des Films ist die Sache nochmal gutgegangen und außerdem endgültig geklärt. Derjenige, der das Familienglück hätte stören können, ist tot.
Einige Personalien des Films sind zu vermerken: Lutz Riemann, der spätere Oberleutnant Lutz Zimmermann, spielt hier eine seiner letzten Episodenrollen, bevor er in „Im Tal“ bereits als örtlicher ABV gezeigt wird und zwei Jahre später in „Es ist nicht immer Sonnenschein“ erstmals als Lutz Zimmermann auftritt. Zusammen mit Leutnant / OL Grawe, gespielt von Andreas Schmidt-Schaller, bildete er die „nächste Generation“ nach den Urgesteinen Fuchs, Hübner und Arndt, die sich etablieren konnte, etwa zwölf Jahre nach dem Start der Reihe.
Finale
„Schranken“ ist ein kleiner, recht leiser Polizeiruf, zugeschnitten auf Hauptdarstellerin Petra Kelling, die hier in einer für sie typischen Rollen als eher zurückhaltender, einfacher Mensch auftritt, als Arbeiterin, die in einer eindrucksvollen Rangierbahnhof-Szene doch vom Suizid absieht und sich der Tatsache stellt, dass sie die Polizei in die Irre geführt hat, weil sie es nicht über sich gebracht hat, zwei Dinge zuzugeben: Dass sie ihrem Mann die Wahrheit nicht sagen konnte und dass sie gegen die Vorschrift jemanden in ihrem Dienstwagen mitgenommen hat – vielleicht. Sicher ist letzteres Motiv nicht, aber der Unfall war natürlich für die sichere Berufsfahrerin ein Schockerlebnis. „Schranken“ hat nur 76 Minuten Spielzeit und eine vergleichsweise kleine Ermittlerbesetzung, auch das kennzeichnet ihn, wenn ich die Einteilung in zwei Polizeiruf-Klassen aufgreifen möchte, die ich zwecks Orientierung nach einigen gesehenen Filmen vorgenommen hatte, zu den „kleineren“ Produktionen, die bezüglich Ausstattung, Filming, Länge und Personaleinsatz eher unspektakulär sind.
7/10
© 2021 (Entwurf 2020) Der Wahlberliner, Thomas Hocke
(1) und kursiv: Wikipedia
Regie | Richard Engel |
Drehbuch | Hans-Werner Honert |
Produktion | Lutz Clasen |
Kamera | Bernd Sperberg |
Schnitt | Marion Fiedler |
Besetzung | |
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