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Soeben hatte ich die Gelegenheit, die Direktwahlergebnisse der Bundestagswahl in meinem Bezirk zu checken. Es ist vollbracht. Jan-Marco Luczak, der Immobillienlobby-Unterstützer Nr. 1 in Berlin mit Bundestagsmandat, ist abgewählt. Kevin Kühnert (SPD) hat ihn abgelöst.

Wenn Kühnert es nicht gewesen wäre, hätte es die altbekannte Renate Künast von den Grünen geschafft, die beiden liegen dicht beieinander. Das ist wieder ein riesiger Erfolg für die Stadtgesellschaft. Dieser Stachel in unserem Fleisch ist entfernt. Ob Luczak über die Landesliste doch in den Bundestag kommt, trotz der heftig geschrumpften CDU-Fraktion, braucht uns nicht mehr zu kümmern, es ist nicht unser Bier und unterliegt nicht unserer Wahlmöglichkeit. Er hat kein Mandat mehr von den Menschen in unserem Bezirk, das ist wichtig. Kevin Kühnert ist für Linke nicht der perfekte Ersatz, aber es ist ja auch alles relativ und so gesehen, haben wir uns auf jeden Fall verbessert.
Es ist der konservative Süden von Tempelhof-Schöneberg, der Luczak bisher die Direktwahl beschert hatte und wir im Norden haben vor Wut gekocht und uns gewünscht, man hätte uns lieber mit Neukölln oder gar mit Charlottenburg-Wilmersdorf zusammengelegt. Niemand, den ich kenne, wählte jemals Luczak, außerdem hatten wir durch die Reihen- und Eigenheimbesitzer:innen im Süden das Problem, dass unser Bezirk mit „Oh, hier ist die AfD (fast) zweistellig, schaut an, was ist das denn für ein Schandfleck im Westen von Berlin!“ wahrgenommen wurde. Das war 2017. Da erhielt die #noAfD im Süden ca. 14 Prozent, während sie in meinem Wahlkiez nicht einmal auf fünf Prozent kam. Auch das ist Geschichte, das Gesamtergebnis für Tempelhof-Schöneberg liegt für die #noAfD bei 6,2 Prozent.

Damit können sie die anderen Fraktionen in der BVV (Bezirksverordnetenversammlung) weiterhin nerven, aber sie ist geschlagen, wie es sich gehört.
Selbst die FDP hat hier bei den Zweitstimmen leicht verloren, liegt aber immer noch viel zu hoch. Es ist also noch einiges zu tun. R2G hat bei den Zweitstimmen zur Bundestagswahl in meinem Bezirk jedoch 57,5 Prozent eingesammelt.
Das ist respektabel und damit kann man auch den Menschen aus dem Süden des Bezirks wieder ohne allzu großen Ärger im Bauch begegnen. Schon klar, es geht um Individuen, aber auch um das Gepräge eines Gebiets, das größer ist als viele komplette Großstädte, es geht um weit über 100.000 Wähler:innen in Mariendorf, in Tempelhof, in Lichtenrade. Und wir hätten schon gerne, dass auch die Kleinhäusle-Besitzer:innen und auch die Genossenschaftswohner:innen mit uns Mieter:innen solidarisch sind. Wir rufen auch nicht nach der Enteignung von selbstgenutzten Eigentumswohnungen und Reihenhäusern und dass die Genossenschaften enteignet werden sollen, waren oberfiese Fake News von wem? Genau, von der CDU mit Politiker:innen wie dem Herrn Luczak.
Wir hatten 2017 ins Kissen geheult, weil solche Leute Direktmandate bei uns im schönen Schöneberg holen können, weil ihr das ermöglicht, trotz des damals schon negativen Bundestrends für die Union. Wir waren ohnmächtig dagegen, obwohl wir im Schöneberger Norden die negativ Betroffenen der politischen Spins und Aktivitäten dieser Klasse von Helfern des Großkapitals sind. Das hat uns aber auch aktiviert und kämpferischer gemacht. Das hat uns endlich dazu gebracht, ein wenig mehr zu werden wie die Menschen in Kreuzberg und Neukölln: zivilgesellschaftlich denkend und manchmal sogar handelnd.
Uns geht es nur um die Immobilienhaie, wenn wir für „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ stimmen. Euch geht es vor allem um Ruhe und Sicherheit, um euer persönliches, in vieler Hinsicht eigenes Ding. Wir kommen euch bisher nicht in die Quere, ihr uns nicht, aber helft uns bitte, unsere Kieze zu bewahren, wir sitzen nämlich alle im selben Boot.
Ihr werdet das dann merken, wenn wir in der Innenstadt wegen des Mietenwahnsinns unsere Wohnungen verlieren. Wenn wir es machen, wie der Herr Luczak sagt: Zieht halt in die Außenbezirke, wenn ihr mit dem Kapital nicht mithalten könnt. Es können halt nicht alle wohnen bleiben, wo sie wohnen, die Innenstadt ist nicht für Normalbürger:innen, auch wenn sie die Stadt am Laufen halten. Die Verdrängung sei ein ganz natürlicher Vorgang, wollte der Herr Luczak die Menschen glauben lassen und hat deswegen auch an führender Stelle der CDU-Bundestagsfraktion gegen den Mietendeckel Front gemacht. Auch das ist falsch, aber wir wollen hier nicht zu weit ausgreifen, sondern bei euch und uns bleiben, Menschen in dieser Stadt und diesem Bezirk.
Werden wir nämlich von dieser künstlich angeheizten Immobilienblase vertrieben aus unseren Kiezen, dann ziehen wir in eure gemütlichen Eckchen und plötzlich gibt es da draußen, jenseits des S-Bahn-Ringes, viel mehr Linke und Grüne. Dann werdet ihr sehen, was Gentrifizierung und Majorisierung bedeuten, auch wenn es sich bei uns nicht um das Großkapital, sondern maximal um die durchaus vielfältige innerstädtische Mittelschicht handelt, die, anders als die Beton-„Investoren“, wenigstens Nachbarn sind. Aber Nachbarn, die etwas anders gestrickt sind als viele von euch, daran müsst ihr euch dann gewöhnen oder wegziehen nach Ostbrandenburg.
Einstweilen haben auch viele von euch diesen Herrn Luczak endlich abgewählt, in eurem eigenen Interesse, aber ihr habt uns damit, gewollt oder nicht, eine sehr große Freude gemacht. Wir hatten darauf gehofft, darauf spekuliert, obwohl wir sonst nicht gerne spekulieren, schon gar nicht mit Wohnungen, also nicht mit dem Leben anderer.
Ihr habt uns gestern geholfen gegen diese Immobilienblase. Dafür ein dickes Danke! Und noch eines: Danke! Und zum dritten Mal: Danke!
Nachtrag: Haben wir gerade auf Twitter gesehen: Einige von euch haben gegen „DWenteignen“ gestimmt, obwohl ihr doch gar keine Profiteure des #Mietenwahnsinns seid. Darüber müssen wir nochmal reden, ganz entspannt, denn der Volksentscheid hat eh gesiegt. Wir könnten euch mal besuchen, um zu diskutieren. Oder wir ziehen doch zu euch, wenn bei uns die privaten Großvermieter weiter so die Preise in die Höhe treiben. Zum Beispiel, wenn SPD-Giffey einfach den Volksentscheid missachtet. Dann könnte es gefühlt und vielleicht sogar real enger werden im Süden, wenn wir alle mit unseren Fahrrädern, Lastenrädern, Kinderwagen, LGBTI*Fahnen, mit denen wir die Balkone dekorieren, mit unserer jederzeitigen Lebendigkeit und unserer Eigenart, alles zu hinterfragen, was gegen eine Zukunftspolitik gerichtet ist, wenn wir also mit all dem zu euch kommen. Dann ist es vorbei mit dem ruhigen Aussitzen. Dann kommen die Folgen eurer eigenen antisoldarischen Entscheidungen direkt zu euch. Denkt an 2025, 2026 und bleibt uns bis dahin gewogen!
Trotzdem erst einmal: Danke!
TH
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Schluss mit dem Wahlticker. Denn nach der Wahl ist vor der Wahl. Nach der Ära Merkel beginnt eine neue. Jetzt haben die Grünen die Wahl, mit wem sie eine Bundesregierung bilden. Mit der Union oder mit der SPD? Die FDP wird auf jeden Fall dabei sein.
Civey hat den Trend des Tages und das Thema der nächsten Wochen wieder einmal super schnell erkannt und bietet dieses Thema als Umfrage an:
Gegenwärtig steht es in etwa 2:1 für eine Koalition mit der SPD. Vor der Wahl waren genau diese beiden Möglichkeiten sehr unbeliebt, die Koalition, die von den meisten Abstimmenden bei verschiedenen Befragungen vorzogen wurde, wäre Rot-Rot-Grün gewesen. Das haben die Linken und die Grünen mit ihren schwachen Ergebnissen leider gemeinsam vereitelt und ich habe schon etwas reingeschaut, wie in der Linken diskutiert wird. Oh je. Das wird ein schmerzhafter Lernprozess, falls er überhaupt stattfindet, falls er überhaupt mit den gegenwärtig dort Tätigen möglich ist.
Vorbei ist vorbei, vorerst jedenfalls. Es bedeutet aber, dass nicht die absolute, jedoch die relative Mehrzahl vor der Wahl eine Koalition bevorzugt hatte, die dem Mindset der Mehrzahl der Grün-Wähler:innen zu entsprechen scheint. Falls die Grünen nun stattdessen Armin Laschet zum Kanzler machen, haben sie dieses Signal von ihrer Basis nicht verstanden: Den Wahlverlierer des Jahrzehnts (die 2010er eingerechnet) doch noch auf den Sessel des Regierungschefs zu hieven, ist ein No-Go!
Wir sind wahrhaftig keine Ampel-Fans, aber da es nur noch Schwarz-Grün-Gelb und diese Möglichkeit zu geben scheint, müssen wir uns positionieren. Das haben wir getan und bitten Sie, mangels anderer Möglichkeiten, ebenso abzustimmen. Machen Sie den Grünen klar, dass sie von Beginn der Regierungsarbeit an signalisieren, dass sie mit progressiver Politik nicht so viel am Hut haben, wenn sie mit der CDU zusammengehen. Dass Robert Habeck in Schleswig-Holstein in einer Schwarz-Grün-Gelb-Koalition eingebunden ist, sagt übrigens gar nichts aus: Dort sind die Verhältnisse anders als im Bund und für die soziale Karte ist jetzt ohnehin Annalena Baerbock zuständig, die jene Karte gestern Abend in der früher „Elefantenrunde“ genannten ARD-ZDF-Show aller Parteivorsitzenden nach der Wahl auch gespielt hat.
Diese Runde war übrigens ziemlich enttäuschend, aber das lag u. a. daran, dass die Fragesteller die falschen Fragen gestellt haben. Es ist klar, dass die Parteifrüher:innen keine Aussagen zu Koalitionen machen, solange in Berlin noch Menschen in den Schlangen stehen und auf Einlass in Wahllokale warten. Kleiner Scherz, aber nur knapp an der Realität vorbei. Es wär viel wichtiger gewesen, die Parteien mehr auf rote Linien festzulegen oder aufzuzeigen, dass es diese roten Linien bei politischen Kräften, denen Regieren wichtiger ist als alles andere, gar nicht gibt.
Falls die FDP die Grünen zwingen will, mit der Union ins Boot des ewigen Verharrens zu steigen, in dem also gar nicht in Richtung Zukunft gerudert wird, sondern das am vergammelten Steg einer vergangenen Ära festliegt (so konnte man besonders Christian Lindners Verhalten durchaus interpretieren), gibt es sehr wohl eine ehrenhafte Alternative: Die Grünen könnten sich verweigern, ihrerseits eine neue GroKo oder Deutschlandkoalition erzwingen und als größte Oppositionspartei viel mehr Einfluss nehmen, als es als Regierungspartei von Gnaden der FDP möglich wäre. Mit einer so ethisch abgehalfterten Truppe aus SPD und Union und einer hinhaltend klimaschutzfeindlichen FDP hätten die Grünen leichtes Spiel und könnten 2025 unter eigener Führung übernehmen oder wenigstens unter Kanzler Scholz das beschissene Rot-Grün von 1998 bis 2005 etwas vergessen lassen, dessen Wiederholung mit der FDP jederzeit zu befürchten ist. Oder, wenn die Linken endlich ein wenig Realitätssinn zeigen, werden sie 2025 wieder so stark, dass R2G doch möglich sein wird.
Vor allem, dass diese Wahl eine Klimawahl war, darf nicht vergessen werden. Auch, wenn die Grünen davon nicht so stark profitiert haben, wie es hätte sein können, wenn ihr Wahlkampf gut gelaufen wäre: Die Grünen haben in der Tat das, was Baerbock in der Abendrunde mindestens zwanzigmal gesagt hat. Einen Auftrag. Und der lautet, die Koalition zu bilden, in der nicht ganz so viele Stolpersteine in Sachen Zukunftspolitik herumliegen.
Für uns ist das letztlich doch eher eine mit der SPD, die schon schlimmere Jahre hinter sich hat als eine Union, die sich an der Stagnation der letzten Merkel-Legislatur festklammert, an einem Bewahrungsmodus, der zwar kurzfristig die Stabilität gesichert hat, aber unzählige Problemlösungen in die Zukunft verschob. Vor allem in Bezug auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik schrieben wir schon im Jahr 2011, dass Angela Merkel uns vor einen Berg von Zukunftsproblemen stellt und daran hat sich nichts geändert. Im Gegenteil. Es wird immer klarer, dass zur Klimaherausforderung auch ein heftiges Wackeln des Wirtschaftssystems getreten ist, das nur noch durch Notbeatmung am Leben erhalten wird. Olaf Scholz ist am ehesten zuzutrauen, dass darauf eine halbwegs passende Antwort gefunden wird, wenn sich die Krisen summieren und es mal richtig eng wird. Wir haben ihn hier als „Tricky Scholz“ bezeichnet und es in Bezug auf seine tiefe Verankerung in Wirtschaftsskandalen wie CumEx und WireCard gemünzt. Das könnte in seiner Position als Kanzler jedoch ein wichtiger Vorteil gegenüber dem nicht weniger lobbylastigen, aber unbedarft wirkenden Laschet sein, wenn es um das internationale Ausfeilschen wichtiger Weichenstellungen in der Wirtschafts-Geopolitik geht, die eine grüne Evolution (von Revolution können wir leider nicht sprechen, gleich, wie die Koalition nun aussehen wird) ermöglichen, ohne dass das Geld dafür ausgeht.
Damit das nicht passiert, müssen unbedingt die Reichen stärker eingebunden werden und das können die Grünen unmöglich mit der Union und der FDP durchsetzen. Sehr wohl aber können sie mit einer nach vielen zu neoliberalen Abstiegsjahren etwas sozialdemokratischer gewordenen SPD zusammen die FDP einigermaßen in Schach halten, die das Land am liebsten ausbluten lassen würde, nur, damit ein paar Prozent Profiteure immer mehr Kapital ansammeln können.
Wenn sie aber unbedingt regieren wollen, die Grünen: Dass sie eine Zukunftsvernichtungspolitik nicht mittragen wollen, dass man sie dazu zwingen will, sollten die Grünen ruhig schon während der Verhandlungen öffentlich machen bzw. es durchsickern lassen und die FDP brandmarken, wenn sie sich gegen jede Vernunft stellt. Dass sie uns alle in der Hölle des Turbokapitalismus verheizt, darf man dieser „liberalen“, im Herzen gestrigen, bezüglich ihrer inhaltlichen Statur höchst einseitigen Klein- und Klientelpartei der Profiteure nicht erlauben. Es zu verhindern, ist mit der SPD trotz all ihrer Fehler eher möglich und fast das gesamte Land wird den Grünen dafür dankbar sein, dass sie gut und hart verhandelt haben und dabei auch uns, die Wähler:innen, auf ihre Weise durchaus als „Bande“ eingebunden haben. Es ist im Sinne der Demokratie fragwürdig genug, dass derzeit wieder über uns und nicht mit uns verhandelt wird, aber was wir immer schreiben: Es riecht nicht, alle paar Jahre zu wählen und dann das Heft wieder aus der Hand zu geben. Demokratie ist zum Mitmachen und dazu da, Politiker:innen jeden Tag daran zu erinnern, was ihr wirklicher Auftrag ist: Uns zu dienen, nicht, uns als Stimmvieh und Karriere-Steigbügelhalter zu verwenden. Die Menschen, also wir, wir wollen kein Schwarz-Gelb-Grün und diese Ablehnung wollen wir respektiert sehen!
TH