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Crimetime 1080 – Titelfoto © SRF, Daniel Winkler

Die Schweiz: zum Sterben schön

Der elfte Tatort mit Reto Flückiger als Ermittler in Luzern  hat sich intensiv und glaubwürdig mit dem Thema der aktiven Sterbehilfe auseinandergesetzt und dabei, wie erwartet, Stellung bezogen. Auf die richtige Weise und ist dies ein guter Krimi? Das klären wir in der -> Rezension. Eine Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung der Rezension im Januar 2022: Das Recht der Sterbehilfe wurde seit der Ausstrahlung dieses Krimis in Deutschland geändert, das ist im folgenden Text noch nicht berücksichtigt.

Handlung

Als der Sarg der Deutschen Gisela Aichinger (Barbara-Magdalena Ahren) aus der Wohnung der Organisation Transitus getragen wird, müssen sich die Sterbebegleiter durch eine Menschenansammlung kämpfen. Die Mitglieder der religiösen Vereinigung Pro Vita protestieren gegen die Sterbehilfe. Da taucht plötzlich der Sohn der Toten auf. Martin Aichinger (Martin Butzke) wirkt verwirrt, bedroht die Anwesenden und behauptet, seine Mutter habe sich nicht freiwillig zum Sterben in die Schweiz begeben. Am selben Abend wird die Sterbebegleiterin Helen Mathys (Ruth Schwegler) niedergeschlagen und mit einem Plastiksack erstickt.

Die Kommissare Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) sprechen zuerst mit Dr. Hermann (Andreas Matti). Der Gründer und Leiter von Transitus erklärt den Ermittlern, wie ein begleiteter Suizid in der Regel abläuft. Die beiden ehrenamtlichen Transitus-Mitarbeiter Jonas Sauber (Sebastian Krähenbühl) und Nadine Camenisch (Anna Schinz) waren am Vortag zusammen mit dem Mordopfer verantwortlich für die Durchführung der Sterbebegleitung.

Weil der Hauptverdächtige Martin Aichinger sich gewaltsam deren Adressen beschafft hat und untergetaucht ist, vermuten Flückiger und Ritschard, dass die beiden in Gefahr sind. Ebenfalls verdächtig macht sich Josef Thommen (Martin Rapold), Leiter und charismatischer Kopf von Pro Vita. Offensichtlich hat dieser einen Informanten, der ihm sagt, wann jeweils die nächste Sterbebegleitung stattfindet. Thommen scheint jedes Mittel recht zu sein, um die Tätigkeit von Transitus zu behindern.

Auch ist er keineswegs die moralisch integere Persönlichkeit, die er nach außen gerne spielt. Die Luzerner Kommissare geraten zwischen die Fronten von Befürwortern und Gegnern der Sterbehilfe. Der elfte Schweizer „Tatort: Freitod“ handelt von der Haltung dem Tod gegenüber – von freiwilligem und unfreiwilligem Sterben. Die fiktive Organisation Transitus bereitet jenen, die extra aus dem Ausland anreisen, einen würdevollen und selbstbestimmten Tod.

Die religiöse Gruppierung Pro Vita hingegen glaubt, dass nur Gott den Todeszeitpunkt bestimmen darf, egal wie krank der Mensch ist. Und schließlich gibt es die Tötung, bei der ein Mensch brutal aus dem Leben gerissen wird. 

Zum Thema (übernommen aus der Vorschau)

Wieder ein heißes Eisen, das allerdings, wie viele andere wichtige Gegenstände, seit Jahren kaum in der Diskussion ist, weil die Finanzkrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise alles überlagert haben. Zumindest in Deutschland. Und in Deutschland ist aktive Sterbehilfe nach wie vor untersagt, den Letzte-Reise-Tourismus in andere Länder gibt es tatsächlich. Haben wir das Recht, über den Zeitpunkt unseres Ablebens selbst zu bestimmen? Der Suizid als solcher ist logischerweise nicht strafbar, auch nicht als Versuch. Die Hilfe bei der Fremdtötung oder gar die Fremdtötung auf Verlangen schon.

§ 216 StGB
Tötung auf Verlangen

(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(2) Der Versuch ist strafbar.

Auch die §§ 212, 13, 323c spielen bei der Bewertung von Tötungshandlungen im Umfeld der Sterbehilfe eine Rolle. Eine eigene Regelung für die aktive und passive Sterbehilfe, die genau auf diese Situation zugeschnitten ist, existiert in Deutschland hingegen nicht.

Tötung auf Verlangen ist also strafbar, nur ist das Strafmaß geringer als bei Totschlag oder gar Mord. Letztlich geht es um die Frage, ob wir in Gottes Plan eingreifen dürfen und weniger, wie bei anderen Tötungs- und den Körperverletzungstatbeständen darum, was das Leben und die körperliche Unversehrtheit als Rechtstgüter wert sind.

Wenn man so will, die ebenfalls zunehmend relevante Thematik der Eingriffe in den genetischen Bauplan von Menschen aufs Lebensende übertragen. Im Grunde muss jemand, der sagt, Sterbehilfe ist erlaubt, auch Pränataldiagnostik inklusive Genome Editing bis zu einer gewissen Grenze befürworten. Oder sogar über die Grenze der Eugenik hinausgehen. Denn letztlich handelt es sich zum dieselbe weltanschauliche Fragestellung. Selbstbestimmung und Verminderung von menschlichem Leid oder Demut vor der Natur oder der Schöpfung und Fügung in deren Ordnung. Es gibt vieles, was für beide Ansichten spricht und in dieser Vorschau werde ich keine eigene Meinung dazu abgeben, aber vielleicht nach dem Film, wenn er das Thema hinreichend beleuchtet hat. Und vor allem, falls er selbst Stellung bezieht. Eine gewisse Idee habe ich schon, in welche Richtung er tendieren könnte, aber wir werden sehen, ob das stimmt.

Zum Film mit dem Thema

Wer gegen die Sterbehilfe ist, der könnte ein bigotter, doppelmoraliger und arroganter „Lebensschützer“ sein, der vom göttlichen Ratschluss faselt und ohne erkennbare Motivation Aktivismus gegen das frei gewählte Scheiden aus dem Leben betreibt. Wer dafür ist und dabei mitmacht, der könnte auch ein Todesengel sein, der alle, die sich nicht freiwillig und rechtzeitig selbst vom Acker und auf den Gottesacker bringen, einfach umbringt.

Es ist nicht so leicht, sich angesichts solcher radikalen Auswüchse für eines der beiden Prinzipien zu entscheiden. Glücklicherweise kann ich noch nicht nachvollziehen, wie es ist, wenn man nur noch mit Schmerzen lebt, aus Schmerz besteht und die natürliche Angst vor dem Tod dahinter zurücktritt und man sein Leiden und vielleicht sogar die Verantwortung anderer, die sich aus permanenter Pflegebedürftigkeit ergibt, beenden will. Und wem man damit alles einen Gefallen tun würde. Der Pflegeversicherung, der Krankenversicherung, der Rentenkasse, dem überlasteten Klinikpersonal, den eigenen Erben. Wer freiwillig geht, kann sich eines positiven Nachrufs sicher sein, sofern er im Leben kein ganz miserabler Charakter war. Man tut seinen Dienst für andere und darf dann abtreten, wenn man nicht mehr optimal gebrauchsfähig ist.

Vielleicht ist es das, was mich an der freiwilligen und begleiteten Selbsttötung noch mit einem Aber zurücklässt, die Befürchtung, dass es eines Tages umgekehrt sein könnte: Man wird geradezu aufgefordert, endlich den Löffel abzugeben, wenn man nicht mehr so richtig gebrauchsfähig ist – und weniger der Eingriff in den göttlichen Plan. Unfreiwillig liefert der Tatort dazu eine Vorlage, nämlich das Schicksal von Zubrunner, dem Dialysepatienten. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass dieser mit einem Spenderorgan wieder ein normales Leben führen könnte.

Und damit aufgrund eines Eingriffs in den göttlichen Plan. Solche Eingriffe nehmen wir nämlich jeden Tag vor. Wann immer wir uns medizinisch behandeln oder bloß eine Vorsorgeuntersuchung machen lassen, greifen wir in den göttlichen Plan ein oder lassen  zumindest erkennen, dass wir dies im Ernstfall tun werden, wenn also dieser Plan für uns nicht das beste Schicksal, dasjenige langanhaltender körperlicher und geistiger Gesundheit vorsieht. Wann immer wir uns vor irgendeinem Naturereignis schützen oder die Sicherheit von Gegenständen aller Art verbessern, tun wir das auch, wie im Grunde mit allem, was wir tun.

Entweder wir akzeptieren also, dass alles, was wir heute können, Teil des göttlichen Plan ist oder von der Evolution natürlicherweise vorgesehen, oder wir begeben uns wieder auf die Bäume. Wenn ich jetzt auf das Thema des Genome Editing als andere Seite dieser Medaille eingehe, muss ich sagen: so unangenehm es ist, Menschen als Designobjekte zu sehen, gibt es wirklich nur diesen Ablehnungsgrund. Nämlich, dass Menschen zu Objekten werden könnten, sozusagen aus dem Warenhaus der genetischen Upgrades ausgewählt und nur nach Bestfunktion bewertet. Aber jede Hilfe, die heutige Möglichkeiten gegen Erbkrankheiten und genetische Defekte aller Art bieten, müssen genutzt werden, das sind wir denen schuldig, die wir damit belasten würden, wenn wir ihnen diese maximale Vorsorge nicht angedeihen lassen würden.

Damit ist auch die Linie für das andere Ende des Lebensfadens klar. Wer glaubt, es nicht mehr auszuhalten, muss in Würde gehen dürfen und wer ihm dabei ohne dunkle Absichten hilft, darf dafür nicht bestraft werden. Deswegen wäre es besser, die aktive Sterbehilfe auch in Deutschland  zu erlauben und sie ins offizielle Gesundheitssystem einzubinden als den Tourismus in andere Länder notwendig zu machen, der stark an den Abtreibungsourismus früherer Jahre erinnert – den es vermutlich ebenfalls noch gibt, nur steht er nach diversen Lockerungen des Abtreibungsrechts nicht mehr so im Fokus und hat wohl nicht mehr die Dimensionen früherer Zeiten.

Zum Krimi und zur Sprache

Wenn es im Moment ein Ermittlerteam gib, das die grauen Themen der Welt gut umsetzen kann, dann sind das sicher Flückiger und Ritschard. Die Tatortgemeinde würdigt diese Sonderstellung viel zu wenig. Natürlich sind die Schweiz-Tatorte oft etwas zäh und leiden erheblich unter dem Minus an Originalität, das durch die Synchronisierung entsteht, aber sie haben auch etwas Ehrenwertes, in dieser effektgeladenen Tatortzeit, in der visuell prächtig gestaltete Filme kaschieren, dass inhaltlich alles zum Einheitsbrei wird. Das Gefühl habe ich bei den Schweizern nie. Und da am nächsten Sonntag mit Münster schon wieder das Gegenteil des Schweizer Ernstes zu sehen sein wird, finde ich die Sendefolge dieses Mal gelungen.

Aber nochmal zur Synchronisierung. Die Macher vom SRF sind mitschuldig daran, dass die Flückiger-Tatorte in Deutschland nicht optimal rezipiert werden. Die Schauspieler werden ja so ausgebildet sein, dass sie Schwyzerdeutsch auf eine Weise sprechen können, die auch in Deutschland verstanden wird, ähnlich wie das Österreichisch, das beim ORF für den deutschsprachigen Raum so gestaltet wird, dass man auch als Norddeutscher normalerweise mitkommt oder allenfalls ein paar unwichtige kleine Wörter verliert. Warum geht das in der Schweiz nicht? Und wenn ein Figur aus dramaturgischen Gründen vollen Dialekt spricht, aber nur wenige Sätze hat, warum diese nicht mit Untertiteln versehen, wie bei Dialogteilen in anderen Sprachen, die es ja in Tatorten auch immer wieder gibt? Dieser Zuwachs an Authentizität sollten sich und uns die Schweizer Filmer und die Produzenten wirklich gönnen, denn nicht jeder empfängt das SRF, um vergleichen zu können. Ich zum Beispiel in Berlin mit meinem speziellen Senderpaket bekomme kein SRF geliefert.

Ob ein düsteres Thema wie die Sterbehilfe mit dem lustigen Schwyzerdeutsch besser funktioniert, lasse ich allerdings an der Stelle mal offen – wie das Schwäbische und wie jeder Dialekt marginalisiert es Dinge auch ein wenig, die im Prinzip Theatersprache erfordern. Das liegt an unseren Rezeptionsgewohnheiten, die darauf ausgerichtet sind, dass die hohen Gegenstände in hoher Sprache artikuliert werden.

Der Krimi als solcher, ja, er ist langsam, und das ist die richtige Wahl. Gestorben ist in Tatorten immer schnell, aber die Befassung mit dem Sterben an sich ist ein langwieriger Prozess, ein elegisches Gleiten von einem Daseinszustand in einen anderen oder ins Nichts, und dafür eignet sich die reißerische Filmweise nicht, die der eine oder andere Zuschauer vielleicht gerne gesehen hätte. Und den Todesengel fand ich auf seine Art sexy, was beweist, dass in uns etwas Nekrophiles und dem Schrägen zugewandetes wohnen könnte. Obwohl die junge Frau im Grunde die einzige glaubwürdige Verdächtige war, hatte ich sie doch nicht als logische Täterin identifiziert, das Ende jedoch war stimmig. Es gibt ja Menschen, die aus einem absurden Selbstbild und einer dadurch besonders subjektiven Wahrnehmung heraus Grenzen überschreiten und auch die Tötungshemmung verlieren können. Wie wir wissen, gab es Todesengel, die für weit mehr vorzeitiges Ableben verantwortlich waren als die etwas lispelnde Nadine Camenisch, und diese Menschen habne oft überhaupt kein Schuldgefühl, weil sie sich als Erfüllungsgehilfen eines höheren Auftrags wähnen oder einfach nur sagen, sie handelten aus Mitleid, und beides lässt sich durchaus innerhalb der christlichen Lehre begründen, wenn man sich einzelne Aspekte herausnimmt und alle anderen ausblendet, die einem solchen Handeln entgegenstehen.

Da kann es auch passieren, dass man mit einem Theologiestudenten, der ebenfalls aus Überzeugung in der Sterbehilfe tätig ist, einen Flow findet und ihn dann doch gleich umbringen muss. Sehr schade, und es zeigt sich, dass das Leben als vermeintliches Werkzeug eines größeren Willens meist ein sehr einsames ist, denn wer, der nicht berufen ist, kann Verständnis für das sich daraus ergebenede todbringende Handeln haben?

Finale

Die Figur des Lebensschützers finde ich zu undifferenziert-negativ dargestellt, wie der bipolare Martin Aichinger immer die Orte findet, die er gerade braucht, erschließt sich nicht, es sei denn, man nimmt einen siebten Sinn zum Ausgleich für seine bipolare Störung an, weil es ja kein Gesamtminus geben kann und die Schöpfung eben doch immer gerecht ist. Ist sie nach unseren Maßstäben, und die sind nun einmal unsere Maßstäbe, gerade nicht, sonst empfänden wir es ja nicht als angezeigt, auf oben beschriebene vielfache Weise in sie einzugreifen. Auch wenn das Thema unangenehm ist und mich der Verdacht beschleicht, dass einige den Film auch deshalb nicht so recht mögen werden, weil er uns an unsere eigene Sterblichkeit erinnert, ist er ein gelungener, wenn auch in manchen Punkten nicht überragender Beitrag zum Thema.

7,5/10

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)

Reto Flückiger Stefan Gubser
Liz Ritschard Delia Mayer
Corinna Haas Fabienne Hadorn
Eugen Mattmann Jean-Pierre Cornu
Nadine Camenisch Anna Schinz
Jonas Sauber Sebastian Krähenbühl
Dr. Hermann Andreas Matti
Martin Aichinger Martin Butzke
Josef Thommen Martin Rapold
Vikinesh Jeyanantham Kay Kysela
Daniela Aichinger Susanne-Marie Wrage
Mike Zumbrunn Lukas Kubik
Helen Mathys Ruth Schwegler
Sandra Maier Lotti Happle
Debbie Zurbuchen Rebecca Indermaur
Gisela Aichinger Barbara-Magdalena Ahren
Musik: Fabian Römer
Kamera: Michael Saxer
Buch: Josy Meier
  Eveline Stähelin
Regie: Sabine Boss

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