Filmfest 700 Cinema – Die große Rezension
Diese Figur wird uns noch beschäftigen
Der Golem, wie er in die Welt kam ist ein expressionistischer deutscher Film von Paul Wegener und Carl Boese aus dem Jahr 1920. Er ist nach Der Golem (1915) und Der Golem und die Tänzerin (1917) Wegeners dritte Bearbeitung des Golem-Motivs und gilt als Klassiker des deutschen Stummfilms.
Es wäre nun logisch gewesen, den ersten Film zu suchen, denn chronologisch spielt er ja nach dem dritten, nämlich im 20. Jahrhundert – während der Golem schon im 16. Jahrhundert in die Welt kam und dann viele Jahre verschüttet und vergessen unter einer Straße lag. Bis Bauarbeiter ihn ausgruben und er für einigen Horror sorgen konnte. Leider gibt es aber von dem Film aus dem Jahr 1915 nur noch Fragmente, die bisher nicht zusammengestellt und restauriert wurden. Vermutlich, weil zu wenig Material da ist, um einen vernünftigen Eindruck von diesem ersten aller Golem-Filme und dem wohl ersten Vorbild für so viele Monsterfilme zu erhalten, die im Laufe des folgenden Kinojahrhunderts entstanden. Schade. Sehr schade, aber dafür schiebt sich etwas anderes immer mehr in den Vordergrund. Um was es geht und mehr zum dritten Golem-Film (der zweite lautete „Der Golem und die Tänzerin“, entstand im Jahr 1917 und stammt vom selben Team), das steht in der –> Rezension.
Handlung[1]
Prag im 16. Jahrhundert: An der Stellung der Sterne erkennt Rabbi Löw, dass große Gefahr für das jüdische Ghetto droht. Er entschließt sich daraufhin, den Golem, einen künstlichen Menschen aus Lehm, zum Leben zu erwecken. Der Golem soll laut alten jüdischen Legenden Unheil abwenden. Und tatsächlich verkündet der Kaiser ein Dekret gegen die Juden. Diese sollen die Stadt verlassen. Die Urkunde wird von Junker Florian der jüdischen Gemeinde und Rabbi Löw übergeben. Bei dieser Gelegenheit verlieben sich der christliche Junker und die Tochter des Rabbi Löw mit Namen Mirjam. Rabbi Löw möchte den Kaiser umstimmen und schreibt ihm eine Nachricht, in der er auf seine Verdienste verweist und um eine Audienz bittet. Diese wird ihm während eines Festes gewährt. Der Rabbi nimmt den Golem mit, und als die Kaiserburg durch magische Kräfte einzustürzen droht, kann der Rabbi dies mit Hilfe des Golems verhindern. Zum Dank nimmt der Kaiser das Dekret gegen die Juden zurück.
Während der Rabbi sich in der Kaiserburg aufhält, schleicht Junker Florian unerkannt zu Mirjam ins Haus des Rabbi. Als der Rabbi in sein Haus zurückkehrt, nimmt er dem Golem (gegen dessen Willen) den lebensgebenden Stern von der Brust, woraufhin dieser nach hinten umkippt und liegenbleibt. Dann wird der Rabbi zu einer Dankesfeier in den Tempel gerufen. Der Gehilfe des Rabbi bemerkt den christlichen Eindringling, erweckt aus Eifersucht den Golem wieder zum Leben und gibt ihm den Auftrag, den Junker zu vertreiben.
In einem Kampf wirft der Golem den Junker vom Dach des Hauses. Danach setzt er das Haus in Brand und schleift Mirjam fort. Der Golem bricht das Tor der Stadt auf und geht aufs freie Feld hinaus. Er hebt eines der Kinder, die auf den Wiesen spielen, zu sich hinauf. Das Mädchen ist von dem Stern auf der Brust des Golems fasziniert und nimmt ihn an sich. Daraufhin stürzt der Golem leblos zu Boden.
Rezension
„Wegeners Film war einer der künstlerisch wie geschäftlich größten Erfolge der deutschen Stummfilmproduktion, dessen außergewöhnliche, von Jugendstil und Expressionismus bestimmte Bild- und Dekorgestaltung bis heute nichts von ihrer suggestiven Wirkung eingebüßt hat.“ – Lexikon des internationalen Films[1]
„Berühmte Golem-Verfilmung von Paul Wegener aus der expressionistischen Periode des deutschen Stummfilms. Die beispielhafte Bildgestaltung verleiht dem Werk hohen künstlerischen Rang. Ein Klassiker, den alle Filmkunstfreunde sehen müßten.“ – Evangelischer Filmbeobachter (Kritik Nr. 79/1967)
Auftrag am 22.02.2022 erfüllt. Besser spät als nie, und die Sterne standen günstig. Denn das, was sich seit einigen Monaten abzeichnet, nimmt mit dem „Golem“ immer mehr Fahrt auf: Mich faszinieren diese frühen Klassiker des deutschen Films dermaßen, dass ich immer mehr davon sehen möchte. Ich spüre das, was in unserem kollektiven Unterbewusstsein noch vorhanden ist, was aus jener Zeit stammt, was in jener Zeit schon lange vorhanden war und auf die Leinwand gebracht wurde und fortwirkt. Die bisher gesehenen Filme sind sehr unterschiedlich, sind auf ihre Art alle außergewöhnlich und innovativ, aber es fehlen ja noch so viele. Ich fürchte, wenn ich mit allen, die einigermaße gut zugänglich sind, fertig bin, werde ich bei heutigen Kinoprodukten nur noch abwinken und sagen: Alles schon dagewesen, und zwar lange, lange vor der Zeit, an die sich heutige Cineasten erinnern können.
Sie müssen sich speziell mit dem Werden des Kinos und seiner Genres befassen, sonst verstehen sie zum Beispiel nicht, warum wir in der IMDb und anderswo moderne Filme tendenziell überbewertet finden. Sicher, die Technik hat sich weiterentwickelt und manches am Spiel, an der Dramaturgie, an Schnitt und Gestaltung muss heute dated wirken. Manches reizt sogar zum Lachen, obwohl es nicht so gemeint gewesen sein dürfte, schon gar nicht in einem ganz ernsten Film wie dem dritten über den Golem. Wenn z. B. der sonst so herausragende Paul Wegener die geschlossenen Lider nicht ganz geschlossen halten kann, obwohl die Figur, die er spielt, noch nicht zum Leben erweckt wurde und dass man diese Szene nicht wiederholt hat, ist ähnlich entspannend und entzaubernd zugleich wie bei Conrad Veidt in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ aus demselben Jahr.
Es ist abseits davon sehr auffällig, dass in jenem Jahr gleich zwei Figuren dieser Art zum Leben erweckt wurden. Die eine, in Cesare in „Caligari“, von einem verbrecherischen Mastermind, um von Beginn an Unrecht zu tun, die andere, um ein jüdisches Viertel von Prag zu retten. Am Ende gerät der Golem ein wenig außer Kontrolle, aber es geht noch einmal gut, wenn man von dem Feuer absieht, das auf das gesamte Städtel überzugreifen droht. Der Golem wird – heute würde man es deaktiviert nennen. Weil ein süßes blondes Kind ihm sozusagen den Stecker zieht, ohne Böses damit zu wollen. Welch eine Symbolik. Und wie viel steckt schon von dem in diesem Film, was bald mit den Juden in Europa geschehen sollte. „Caligari“ ist viel abstrakter, was die Zielrichtung des Verbrechens angeht, wird eher mit dem Einbruch des Wahns ins Bürgertum in Verbindung gebracht, der die aus den Fugen geratene Vorkriegsordnung versinnbildlicht, „Der Golem“ hingegen nimmt ein Menschheitsverbrechen auf atemberaubende Weise vorweg. Es wirkt, als habe Paul Wegener ganz tief in die Sterne geschaut, zusammen mit Rabbi Löw, und ermittelt, dass es bald zu Unheil kommen wird. Nicht so bald wie im Film, aber auf eine unfassbar grausame Weise. Außerdem ist der Rückgriff in eine andere Zeit, das ausgehende Mittelalter, von großem Belang, denn er zeigt etwas von der anhaltenden, jahrhundertelangen Diskriminierung der Juden. Sie hausen in einem engen, verwinkelten Getto, das sie offenbar nur zu bestimmten Anlässen verlassen müssen, zum Beispiel um beim Kaiser (gespielt von Otto Gebühr, der bald darauf mit den Fridericus-Filmen zu Ruhm kommen sollte) als Partylclowns aufzutreten. Warum nicht mit dem Golem? Der Golem rettet denn auch die Party nach einer wirklich aufsehenerregenden Szene. Rabbi Löw visualisiert der versammelten Rosenfestgemeinschaft den Auszug der Juden aus Ägypten (so habe ich es gedeutet), auch wenn der Anführer der Gruppe nicht Moses heißt. Rabbi Löw weist die Partygäste darauf hin, dass während dieses Films im Film nicht gelacht oder gesprochen werden darf. Doch ein Hofnarr, der sich zurückgesetzt fühlt, weil der Rabbi ihm die Show gestohlen hat (so kann man es interpretieren) bringt eine junge Frau zum Lachen und bald lachen alle. Der Anführer der wandernden Juden wird im Bild immer größer, tritt quasi in den Raum hinein und will ihn zum Einsturz bringen. Der superstarke Golem kann das gerade noch verhindern. Diese Szene ist für damalige Verhältnisse extraordinär und noch heute beeindruckend.
Zum Dank kassiert der Kaiser das Verdikt, das er zuvor über die Juden ausgesprochen hat, ebenfalls aufgrund einer Sternedeutung, nicht etwa, weil die Juden etwas verbrochen hätten. Die Sterne sind aber insofern gerecht, als sie Rabbi Löw frühzeitig genug warnen, dass er eine alte Arbeit zu Ende bringt, die ihm bisher nie geglückt ist: Die Erschaffung des Golem. Neben dem aktuellen Modell, zunächst noch ohne Gesicht, sieht man auf dem Boden eine Figur liegen, offenbar war dies der erste, misslungene Versuch mit dem „Monster“, das ebensowenig im Sinne eines bösen Charakters eines ist wie Frankensteins Kreatur in der Verfilmung von James Whale (1931). Die Golem-Filme gelten demnach als die Mutter, Tanten und Großmütter aller künftigen Filme, in denen Menschen sich Kreaturen erschaffen, wie z. B. in „Metropolis“. Eine Abwandlung davon sind Filme, in denen Menschen sich selbst wandeln und janusköpfig auftreten, oder auch als verbrecherische Masterminds hinter allen möglichen Fassaden versteckt agieren, etwa Dr. Mabuse, der im folgenden Jahr (1921) das Licht der Welt erblicken sollte, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde und all die Spiegelungen des Ichs in seine verzerrte, wenig beglückende Variante hinein, die Paul Wegener, der Erschaffer von „Der Golem, wie er in die Welt kam“, schon 1913 in „Der Student in Prag“ erstmals vorführte. Der Golem ist vielleicht auch ein Stück von uns. Auf jeden Fall ist die aufgeregte, angstvolle und, man mag es kaum glauben, schon mit einem Signet auf der Kleidung versehene jüdische Gemeinschaft ein Stück von uns und dem, was weitgehend zerstört wurde und dessen Überlebende uns heute noch an dies alles erinnern.
Der Golem konnte die Ordnung des Kaiserreichs noch gerade aufrecht erhalten, war eine Stütze der Gesellschaft, wenn man so will, einer Gesellschaft, welche die Juden ausgrenzte. Aber die Kultur in Deutschland verzeichnete schon in den kommenden Jahren einen Exodus, der sich mit der Herrschaft der Nazis noch einmal verstärkte. Die Ordnung war brüchig und die geballte Kreativität der frühen Weimarer Zeit, an der so viele jüdische Künstler:innen beteiligt war, konnte kaum ins Tonfilmzeitalter gerettet werden und nach 1933 war es damit zu Ende. Das kann man ebenso aus „Der Golem, wie er in die Welt kam“ herauslesen, dass sich die imperiale Ordnung auch auf die Juden stützte und ohne sie verarmen würde wie auch die Shoah selbst. Das ist aus der Nachbetrachtung natürlich recht einfach, aber kein anderer Film, den ich bisher gesehen habe, greift so direkt in die Zukunft wie „Der Golem, wie er in die Welt kam“, in dem er in die Vergangenheit zurückgeht und die Mythen ausgräbt, die von Ohnmacht und von Selbstermächtigung gleichermaßen künden, von Inspiration und Selbstbescheidung, von geistiger Tiefe einerseits und einem poshen, verblödelten Hofleben der Mainstream-Privilegierten andererseits. Ein Ritter der Prager Tafelrunde ergreift die Initiative, und mag er anfangs auch ein Pfau sein und irgendwie ein homosexuelles Gepräge haben, er verliebt sich in die Tochter des Rabbi. Er kann sie nicht vor dem Golem retten, aber er kriegt sie am Ende. Dieser Wunsch nach Versöhnung wirkt nicht so falsch wie die Klassenfreundschaft am Ende von „Metropolis“, sondern ist der uralte Ausdruck einer Harmonie, die wir uns alle wünschen, wenn wir mal Pause machen von unseren eigenen Vorurteilen und Aggressionen. Es ist ein etwas märchenhaftes Ende, aber es steht in seinem eigenen Recht und macht den Film erträglicher. Denn die eigentliche Identifikationsfigur, der Golem, wie er langsam ein Bewusstsein für seine Existenz erlangt und versucht, seine Abschaltung zu verhindern, der einem Kind gegenüber Emapthie zeigen kann, der liegt am Ende vor dem Tor der Judenstadt und kann mit geschlossenen Augen seinem ungewissen Schicksal nicht einmal entgegensehen. Sein Geist, der sich gerade zu erheben begann, ist erloschen für Jahrhunderte.
Während zeitgenössische Kritiker die gezeigten Schauspielleistungen unterschiedlich bewerteten, konnten sie sich über den Stil des Films gar nicht einkriegen. In der Tat, so etwas muss man gesehen haben, und wie es fast aus dem Nichts entstand. War das so? Nicht, wenn man einbezieht, dass in jenen Jahren der Expressionismus eine Stilrichtung war, die sich aber nicht so sehr in den Bauten ausdrückte, der Jugendstil aber eine andere, die gerade zu Ende gegangen war und Bauwerken, auch und gerade Profanbauten, eine oft mit floralen Ornamenten unterstützte Leichtigkeit gab, die in der vorausgehenden Gründerzeit-Architektur noch nicht zu bemerken war. In Berlin gibt es noch erhaltene Jugendstil-Häuser. Nach allgemeiner Ansicht ist „Der Golem“ mit seinen fantastischen Dekorationen architektonisch eher vom Jugendstil geprägt, anders als der formal geradezu schreiend expressionistische „Caligari“. Die Innenräume und die Gassen des Judenviertels sind trotzdem, weil sie wirken, als kippten sie nach oben über und verschlössen beinahe vollständig die Sicht auf den hohen Himmel, auch expressionistisch und erinnern an die mit einem Eigenleben ausgestatteten Gegenstände etwa bei Alfred Döblin. In irgendeinem expressionistischen Film tun sie das dann tatsächlich, sich düster ins Bild schieben und Wege verschließen, mir fällt aber gerade nicht ein, in welchem. Vermutlich habe ich dieses Werk noch nicht gesehen und es war nur ein kurzer Ausschnitt davon zu bewundern in „Von Caligari bis Hitler“, einer wichtigen Dokumentation zu jener Epoche des deutschen Films, die ich kürzlich angeschaut habe.
Die Innenräume, die wir sehen, sind eine geradezu einmalige Kombination aus ebenjenem Jugendstil und einem jüdisch angehauchten Mittelalter, in dem es keine geraden Linien gibt, nichts, woran sich das Auge klammern kann, um sich mit Symmetrie oder strikter Vertikalität an seinen Rezeptionsgewohnheiten zu orientieren. In diesem Film ist zwar die Kamera noch nicht kompeltt entfesselt, wie es wenige Jahre später in Deutschland üblich wurde, wohl aber das, was die Kamera abtastet: Menschen in Bewegung in Räumlichkeiten, die jene Bewegungen aufnehmen oder umgekehrt. Ob daran nichts Zufälliges ist und nicht auch der Spieltrieb dabei half, Höhlenhaftes und Katakombenmäßiges, dekorativ Geschnitztes und mächtig Gebogenes zu installieren, das ist sicherlich Ansichtssache. Es wirkte auf mich, als sei es unmöglich, in dieser Welt, die eine Art Parallelgesellschaft beherbergt, in der es eben keine in Weiß gekleideten Kinder mit leuchtendem Haar und mit Blumenkränzen in ebenjenem Haar zu besichtigen gib,t sondern Menschen, die so sehr von Gott abhängig sind, wie man nur abhängig sein kann, wenn man keine andere Hoffnung auf Erlösung hat als eben Jehova, in denen man inbrünstig um Vergebung betet und sich die Hand auf die Brust schlägt oder mit nach oben gereckten Armen und verzücktem Blick, wenn auf eine ekstatische Weise dankt, wenn man der Gefahr der Vertreibung gerade wieder entronnen ist – es schien mir unmöglich, in jener Welt wahre Freiheit zu finden. Nachdem der Golem seine Aufgabe erfüllt hat, bleibt sie weiter hinter sehr, sehr hohen Mauern verschlossen und den Sicherungsbalken der massiven Holztür, den der Golem bei seinem Ausbruch zerstört hat, den wird man ersetzen. Der Aufbruch, der Ausbruch, den der Golem für mich ebenfalls symbolisiert, ist nur ein Moment in der Geschichte eines unterdrückten Volkes, in dessen Seele es so viel zu entdecken gibt und das sich selbst nicht finden darf. Kein anderer Film hat dies alles für mich bisher so klar ausdrücken können wie einer, der auf die Geschichte zurückgreift, um das Kommende wie ein Mentekel an die Wand zu malen. Der Dämon ist nicht der Golem, sondern er beherrscht diese tumbe und mental vergiftete Gesellschaft, die keinerlei Respekt vor dem historischen Leiden und den historischen Verdiensten der Juden hat, die menschlich nicht funktioniert und damit der Spiegel der Tatsache ist, dass das Leben der Juden institutionell nicht funktioniert, weil es sich nicht gleichberechtigt entfalten darf. Dieser Geist bleibt in der Flasche, gefangen im Getto. Der Golem ist entseelt und kann nicht dabei helfen, ihn in die Welt hinauszutragen.
Steigen wir noch ein wenig in die Gestaltung des Films ein, weil es sich so anregend liest:
„Nichtahnend, dass man Wegener einen Gegenwarts-Golem aufgezwungen hatte [der erste Film von 1915], hat Arnold Zweig in seiner Schaubühnen-Kritik geklagt: ‚Gäbe es für einen Film etwas Dankbareres und ihm Zugordneteres als die furchtbare und mittelalterliche Atmosphäre der Legend durch Architektur und Beleuchtung beklemmend festzuhalten?‘ Beim Golem, wie er in die Welt kam von 1920 konnte Wegener dann zeigen, dass er nie etwas anderes im Sinn gehabt hatte, vor der Premiere erklärte er: ‚Es ist nicht Prag, was mein Freund, der Architekt Poelzig, aufgebaut hat. Sondern es ist eine Stadt-Dichtung, ein Traum, eine architektonische Paraphrase zu dem Thema Golem. Diese Gassen und Plätze sollen an nichts Wirkliches erinnern; sie sollen die Atmosphäre schaffen, in der der Golem atmet.‘“[2]
Einige leiteten daraus etwas ab, das dann nicht eintra, wie etwa der berühmte zeitgenössische Kritiker Herbert Jhering:
„‘(…) Wegener und Poelzig bewiesen, dass nur das streng gegliederte, rhythmisch konzentriere Bild, das alle Zufälligkeiten der Natur ausschaltet, im Film eine Zukunft hat. (…) Es war entscheidend, dass der neue Golem dies nach dem Caligari, nach der Genuine, bestätigte. Die Bilder waren im Licht oft hervorragend, in der Perspektive faszinierend, in der Gruppierung oft hinreißend, trotz einiger verkleinender Naturalismen. Wegener hat, was man erst jetzt übersehen kann, für den deutschen Film mehr getan als irgend jemand, weil er an seinem Anfang stand und seine speziellen Bedingungen als erster erkannte.“
Letzteres würde ich so unterschreiben, wenn man davon ausgeht, dass „Der Student von Prag“, wie von Wegener selbst im Vorspann angekündigt, der „erste deutsche Künstler-Film“ ist, das war im Jahr 1913.
Finale
Im Grunde kam es dann doch anders. Die dämonische Leinwand, die Lotte Eisner ausrief, als sie von Paris aus das deutsche Kino betrachtete, verschwand nicht alsbald, sie kehrte sogar 1933 noch einmal mit „Das Testament des Dr. Mabuse“ zurück, dem Abschiedsgeschenk Fritz Langs, bevor er Deutschland doch lieber verließ, als sich von den Nazis weiter hofieren und künstlerisch einengen zu lassen.
Aber der Film ging nach der expressionistischen Phase erst einmal den Weg in die „Neue Sachlichkeit“, wollte geradezu antiexpressionistisch sein. Sehr interessant, dass dies mit der kurzen Phase der Prosperität in den 1920ern zusammenfiel, in der es gerade angezeigt erschien, den Blick mehr auf die soziale Realität zu richten: Ein Volk unter einem Fluch wandelte sich wieder zurück in Klassen und Schichten und es gab so viel anzupacken, auch filmisch. Denn eines ist „Der Golem, wie er in die Welt kam“ sicher nicht: Ein Manifest der Moderne. Er ist absolut ein Spiegel der Zeit, in welcher er spielt und setzt dafür exorbitant gut gemachte Mittel ein, gemessen an den technischen Möglichkeiten der Zeit, er ist prophetisch, aber nicht nach vorne weisend, denn gerade das, was er prophezeit, ist der schlimmste kulturelle Rückfall, den es vermutlich in der Geschichte jemals (in so kurzer Zeit wie der Spanne, die dem Nazi-Regime beschieden war) gab. Diese Antimodernität trägt dazu bei, dass der Film so atemberaubend ist, diese Gefangenheit, die sich in einer retardierten Ideologie letztlich gegen die neue Sachlichkeit, gegen Modernität und Bürderlichkeit, gegen Internationalismus und sozialen Fortschritt behaupten wollte.
Der Blick in die Zukunft als Spiegel der Vergangenheit ist kein erfreulicher, das ist kein helles Licht, auch nicht im jüdischen Tempel, in dem nur die siebenarmigen Leuchter eine bescheidene Illuminierung darstellen. Ich war nach dem Film von erheblicher Trauer erfüllt, auch wenn das Ende auf den ersten Blick nicht so schrecklich wirkt. Das ist es aber, denn die Chance, sich mithilfe des Golems selbst zu ermächtigen, nur, weil man ihn nicht auf das unterdrückende Draußen loslassen möchte, weil man so lange in Demut und Angst gelebt hat, die ist erst einmal vorbei und was das für Folgen haben sollte, wissen wir. Für mich war „Der Golem“ der bisher beste dieser frühen deutschen Filme, insbesondere wegen seiner Tiefenwirkung und weil er mir gesagt hat, ich muss weiterforschen, wenn ich die Gegenwart und damit dieses heutige Land, diese heutige Welt besser verstehen will. „Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?“, fragte Rüdiger Suchsland in seiner oben erwähnten Dokumentation. Sicher einiges, zumindest wurde es damals nicht komplett entschlüsselt und schon gar nicht als dringliche Warnung verstanden. Es lohnt sich aber, seinen Rätseln heute auf der Spur zu bleiben.
84/100
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Paul Wegener, |
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Besetzung |
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· Paul Wegener: Golem · Albert Steinrück: Rabbi Löw · Lyda Salmonova: Löws Tochter Mirjam · Ernst Deutsch: Löws Gehilfe · Lothar Müthel: Junker Florian · Otto Gebühr: Kaiser · Hans Sturm: Rabbi Jehuda · Dore Paetzold: Kebse des Kaisers · Max Kronert: Tempeldiener · Greta Schröder: Mägdelein mit Rose · Loni Nest: das kleine Mädchen |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Golem,_wie_er_in_die_Welt_kam
[2] Zitiert nach Christa Bandmann, Jörg Hembus: Klassiker des deutschen Stummfilms, Goldmann-Citadel-Filmbücher 1983, S. 67.