Dirty Harry (USA 1971) #Filmfest 717 #DGR

Filmfest 717 Cinema – Die große Rezension

So eine gekonnt abgelassene Scheiße

Dirty Harry ist ein US-amerikanischer Polizeifilm aus dem Jahre 1971. Der in San Francisco spielende Thriller wurde von Regisseur Don Siegel inszeniert und zählt zu den bekanntesten und einflussreichsten Polizeifilmen. Er zeigt den von Clint Eastwood dargestellten unkonventionellen Inspektor „Dirty Harry“ Callahan auf der Jagd nach einem psychopathischen Serienmörder. Der Film wurde 2012 in das National Film Registry der Library of Congress aufgenommen.

Die ersten Filme kamen schon 1989 in diese Sammlung, mit „Dirty Harry“ hat man sich offenbar nicht so leich getan. Es ist ja auch ein dreckiger Film und nicht leicht, darüber zu schreiben, weil seine Eigenschaften so zwiespältig zurücklassen. Das zeigt sich nicht nur in unserer Rezension, sondern auch in der allgemeinen Rezeption. Während aber viele Kritiker:innen dann doch zu einer Seite tendieren, versuchen wir, den Film an uns selbst zu vermitteln. Wie das ausschaut, vor allem, wenn man sich überwiegend mit dem Inhalt befasst und dann die formalen Meriten doch berücksichtigt, zeigt die –> Rezension.

Handlung (1)

 Ein unbekannter Killer tötet vom Dach eines Wolkenkratzers aus ein ahnungsloses Mädchen. Der Täter hinterlässt eine Nachricht, in der er verkündet, jeden Tag einen Menschen zu töten, sollte ihm die Stadt nicht 100.000 Dollar zahlen. Er gibt an, als Nächstes einen „katholischen Priester oder einen Nigger“ zu töten, unterschrieben ist die Nachricht mit Scorpio. Der Bürgermeister beauftragt Inspektor Harry Callahan damit, den Killer schnellstens zu fassen. Callahan, ein zynischer Einzelgänger, ist für seine harten, wenn auch effektiven Ermittlungsmethoden bekannt und hat regelmäßig Ärger mit seinen Vorgesetzten.

Mit seinem jungen Partner Gonzales, der dem widerwilligen Inspektor zwangsweise zugeteilt wird, nimmt Callahan die Ermittlungen auf. Inzwischen gibt die Stadt an, das Geld zahlen zu wollen, um Zeit zu gewinnen. Der Killer lässt sich mit der Antwort, man sei bereit zu zahlen, brauche aber Zeit, um das Geld zusammen zu bekommen, nicht abspeisen und versucht einen schwarzen Jugendlichen zu erschießen. Dabei wird er von der Polizei gestört, er kann aber fliehen. Später erschießt er einen zehnjährigen Schwarzen. Die Polizei vermutet, dass Scorpio als Nächstes einen Priester töten möchte, wie angekündigt, und stellt ihm eine Falle. Nach einer Schießerei mit Callahan entkommt er und tötet dabei einen Polizisten.

Am nächsten Tag entführt Scorpio ein 14-jähriges Mädchen, er vergewaltigt es und begräbt es lebendig. Er erhöht seine Lösegeldforderung auf 200.000 Dollar. Bei der aufwändigen Lösegeldübergabe wird der Inspektor von Scorpio, einem jungen Psychopathen in Hippie-Aufmachung, durch die Stadt gehetzt und später brutal misshandelt. Sein Partner Gonzales wird schwer verletzt. Callahan kann Scorpio sein Springmesser ins Bein stoßen, dieser entkommt ohne das Geld. Er flieht in ein nah gelegenes Krankenhaus. Dort erfährt Callahan, wo das Versteck des Killers ist und stellt diesen im Kezar Stadium. Angewidert presst Callahan durch Folter den Aufenthaltsort des Mädchens aus dem Killer heraus. Das Mädchen kann nur tot geborgen werden, die Obduktion ergibt, dass sie von Scorpio kurz nach ihrer Entführung ermordet wurde. (…)

Anmerkungen und Interpretationen (1)

  • Zunächst sollte Frank Sinatradie Rolle des Harry Callahan spielen.[1] Als Sinatra wegen einer Handverletzung ausschied, waren Steve McQueenPaul Newman und John Wayne für die Rolle im Gespräch. Schließlich wurde sie von Clint Eastwood übernommen. Die Rolle des Scorpio sollte zunächst von Audie Murphy gespielt werden, der dann aber bei einem Flugzeugabsturz verstarb. Bevor Don Siegel die Regie übernahm, waren auch Irvin Kershner und Sydney Pollack in der engeren Wahl.
  • Dirty Harry erwies sich weltweit als Hit und wurde zu einem der erfolgreichsten Filme des Jahres 1971. Nachdem Clint Eastwood durch seine Western und Action-Filme bereits sehr populär geworden war, gelang ihm mit diesem Film der Durchbruch zum Hollywood-Superstar.
  • Doch während in den New Hollywood-Filmen derselben Zeit die Gesellschaft aus einer linken Perspektive kritisiert wurde, vertrat Callahan in der Rolle des überlebensgroßen Revolvermannes eher konservative Ideale. Callahan „löste“ die Probleme mit seinem riesigen Revolver (eine Smith & Wesson Mod. 29, Kaliber 44 Magnum) – „Die bläst einem den Kopf weg“; „Das ist eine .44-er Magnum, die stärkste Handfeuerwaffe der Welt.“ (Callahan); „Wir drei… Smith, Wesson und ich.“ (Dirty Harry kommt zurück).
  • In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass der Skorpion-Killer ein Hippie ist und der Film in der Flower-Power-Metropole San Francisco spielt. Die naheliegende Deutung ist, dass Dirty Harry auch ein – in bürgerlichen Kreisen – weit verbreitetes Unbehagen gegenüber der Gegenkultur der 1960er Jahre ausdrückt. Immer wieder gibt es im Film auch abfällige Bemerkungen zur Homosexualität.
  • Dirty Harrywurde kontrovers diskutiert und zum Beispiel von der einflussreichen Filmkritikerin Pauline Kael scharf angegriffen, da er ihrer Ansicht nach Selbstjustiz Clint Eastwood wies diese Deutung zurück und ließ für die Fortsetzung Dirty Harry II – Calahan (1973) eine Handlung entwerfen, mit der er die Kritik an Dirty Harry entkräften wollte: Callahan bekämpft hier eine Gruppe von Polizisten, die Lynchjustiz praktizieren.
  • Der harte, zynische Grundton von Dirty Harry prägte den internationalen Kriminal- und Polizeifilm der 1970er Jahre. Einflüsse sind zum Beispiel in dem sehr erfolgreichen Selbstjustiz-Film Ein Mann sieht rot (1974) mit Charles Bronson oder in dem französischen Thriller Angst über der Stadt (1974) mit Jean-Paul Belmondo zu erkennen.
  • Die letzte Szene des Films nimmt Bezug auf das Ende von Fred Zinnemanns Western Zwölf Uhr mittags.

Rezension (Thomas Hocke):

  • Der Kritikerstar Roger Ebert hat sich noch klarer geäußert als Pauline Kael, war aber damals noch nicht so bekannt: „Die Position des Films ist faschistisch. Kein Zweifel.“ Und hat ihm dennoch drei von vier Sternen gegeben. 
  • Damit ist im Grunde das Problem mit diesem Werk umrissen. Seine Einstellung ist rückwärtsgewandt, sein Stil nach vorne gerichtet. Keine Frage, dass er die Cop-Thriller nicht nur der 1970er, sondern bis heute beeinflusst hat. Auch French Connection, der schon im Folgejahr erschien, zeigt Spuren – andererseits darf man nicht der Erzählung glauben, „Dirty Harry“ sei aus dem Nicht entstanden. Don Siegel hat mit Clint Eastwood schon drei Jahre zuvor „Coogan’s großer Bluff“ gedreht, in dem Eastwood selbstverständlich genauso den Unangepassten spielt, der seine Cowboy-Art, mit Verbrechern und dem Gesetz gleichermaßen umzugehen, an die Ostküste mitbrachte. Der Film wird heute weit weniger gepriesen als „Dirty Harry“, der eine sehr gute Wertung von 7,8/10 in der IMDb vorweisen kann (Coogans großer Bluff hingegen erhält nur 6,5/10). Eastwoods Figuren aus den berühmten Italowestern von Sergio Leone „Für eine Handvoll Dollar“ und „Für ein paar Dollar mehr“ (1964, 1966) waren bereits ähnlich ausgerichtet wie sein „Dirty“ Harry Calahan, Polizeifilme wie „Shaft“ sind stilistisch ähnlich orientiert, konnten aber aus Gründen der Zeitabfolge keine Einflüsse von „Dirty Harry“ zeigen. Aber es ist keine Frage, dass Eastwoods Cop-Flic von 1971 der modernste aller dieser Filme ist.
  • Interessanterweise fehlen in der Rezension von Ebert zwei Absätze, die ein Nutzer von der Originalquelle ergänzt hat und in der viel ausführlicher auf den faschistischen Aspekt eingegangen wird als in diesem einen Satz oben. Er leistet die Rezension tatsächlich im Original mit der Erwähnung des Buches „Von Caligari zu Hitler“ von Siegfried Kracauer ein und meinst das durchaus ernst. Ebert konstatiert, dass dieser Film einen Zustand der amerikanischen Gesellschaft charakterisiert, die auf dem Rückweg von den hohen Zielen der 1930er und der frühen1960er zu archaischeren Formen des Zusammenlebens ist. Und er hält fest, dass man nicht einen Film wie „Dirty Harry“, also den Überbringer der Botschaft, für deren Inhalt verantwortlich machen kann. Dass diese Botschaft Don Siegels Thriller zu einem der erfolgreichsten Filme von 1971 machte, sagt aber viel über die Resonanz und auch die heutige Bewertung sagt einiges über sie. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Linksliberale in den USA, zu denen damals auch die Mehrzahl der FIlmkritiker gehörte, wirklich Angst hatten, die USA könnten sich zu einem faschistischen System wandeln. Wenn man überlegt, was in diesem Land zwischen 1963 und dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, der damals gerade erreicht war, alles geschah, der schaut auf eine rasende Abwärtsbewegung zurück, die gekontert und gebrochen wurde durch den Summer of Love und alle alternativen Lebensformen – die aber auch erstmals nach dem Krieg eine Spaltung der US-Gesellschaft sichtbar machte, die sich in den 1980ern wieder zu schließen schien. Heute wissen wir, wie sehr das Land in die Träger hochstehender wissenschaftlicher und kultureller Leistungen und eine Masse äußerst simpel denkender Menschen gespalten ist. Diese Spaltung ist systembedingt, vom System gewollt und wir beobachten bei uns ähnliche Tendenzen. 
  • Faschistisch von der Idee sind für mich ohnehin alle Superhelden-Filme, die aus den USA kommen und aus keinem anderen Land. Die in Europa im Grunde gar nicht denkbar sind, es sei denn, sie reflektieren ebenjene Übermenschen- oder Überwesen-Kultur der USA. Manchmal tun sie das auf ironische Art. Die Filme und Comics aus den Staaten, auf denen die Filme oft basieren, sind Legion, ich zähle keinen einzeln auf, weil ich keine subjektive Auswahl vornehmen will, aber allein das Marvel-Universum bietet Dutzende davon. In keinem anderen Land wird die Demokratie, für die es doch stehen soll, so durch Figuren aus der Popkultur und im Film diskreditiert wie dort. Dass das irgendwann aufs System selbst durchschlägt, ist nur natürlich. Mit dem Unterschied, dass die Mächtigen eben keine Helden sind, sondern Manipulatoren, die sich an der naiven Freude des Volks über solche Helden ergötzen. Man kann die Welt nur simplifizieren, um sie zu erklären – und folgt dabei falschen Spuren. Hinzu kommt natürlich die Gewaltkultur dieses Landes, die älter ist als der Film an sich. Wenn man sieht, dass schlimmste Massaker an Schulen nicht dazu führen, dass endlich die Waffengesetze verschärft werden können, weil die Lobby der Ballermänner im eigenen Land zu stark ist, hat man ein treffendes Bild einer in weiten Teilen brutalisierten Gesellschaft. Kürzlich habe ich eine Dokumentation über die Amtszeiten Barack Obamas gesehen, der schon riesige Mühen hatte, eine gesellschaftlich so logische Gesundheitsreform durchzubringen, aber an jener Waffenlobby scheiterte, als es darum ging, lediglich kleinste Verbesserungen im Waffenrecht durchzusetzen, zwischen dem Entwurf dieses Textes weiterhin die Dokumentation von Werner Herzog „Into the Abyss“ („Tod in Texas“), die das Dämonische und die Zerrüttung ganzer Milieus durch Gewalt kennzeichnet, ohne dass der Sonderfall der Organisierten Kriminalität auch nur angesprochen worden wäre.
  • Von einer linken Position aus müsste man Eastwoods Figuren und die vielen sonstigen Aussagen in diesem Film komplett ablehnen, zumal sie in der Tat mit einer unübersehbaren Feindschaft gegenüber progressiven Lebensformen verknüpft sind. Aber ich hätte den vorherigen Absatz nicht geschrieben, wenn ich nicht den Bogen zwischen diesen künstlichen Superhelden und Cops schlagen könnte, wie Eastwood hier einen darstellt. Kombiniert mit der Ideologie, dass nur ein Mann mit der Waffe in der Hand, der sich mit dieser Waffe selbst verteidigen kann, ein wahrhaft freier Mann ist, kann man sagen, „Dirty Harry“ ist die fleischgewordene Polizisten-Comicfigur, die ganz vielen im konservativen Teil Amerikas aus dem Herzen spricht. Der Bürgermeister, der auf die Bürgerrechte pocht, die Stadt San Francisco, damals wie heute eine der fortschrittlichsten in den Staaten, deren legendärers „If You’re Going to San Francisco“ kurz zuvor ein Riesenhit wurde. das alles war und ist noch heute vielen Amerikanern verhasst. Es funktioniert in  Kalifornien, weil dieser Staat anders tickt als viele andere, es funktioniert auch in den Intellektuellenhochburgen im Osten, aber dazwischen? Kein Wunder, dass gewisse Kreise das alles gerne „Flyover Country“ nennen und es am liebsten von der Landkarte der USA streichen würden. Genau aus diesem Flyover-Country kommen aber die FIguren, die Eastwood spielt. Sinnfällig wurde das in „Coogan’s großer Bluff“, in dem Eastwood tatsächlich mit Sporenstiefeln und riesigem Hut in der Großstadt auflief.
  • Für die damalige Zeit enthält der Film in der Tat brutale Szenen, besonders diejenige, in welcher sich „Scorpio'“ selbst für 200 Dollar heftig misshandeln lässt, um es der Polizei unterzuschieben. Heute sind wir an solche Szenen gewöhnt und es gibt auch nur eine von dieser Brutalitätsstufe in „Dirty Harry“, aber es ist ein harter Thriller geblieben, weil er eine dementsprechende Mentalität verkauft. Auch diese Szene lässt sich übrigens perfekt in die politisch-soziale Deutung einpassen: Eine Bestie, die keinen menschlichen Hemmungen Tribut zollen muss, fingiert Polizeigewalt, um nicht nur freizukommen,sondern auch seinem Gegner Calahan eins auszwischen. Schönen Gruß an und ein Arschritt seitens Don Siegel, Clint Eastwood und Co. für alle diejenigen, die tatsächlich Opfer von Polizeigewalt wurden und immer noch werden. Obenauf kommt aber hier, dass diese Gewalt hier nicht nur als möglicherweise gar nicht vorhanden, sonder, falls doch, einem Typ wie dem Zodiak-Killer gegenüber gerechtfertigt angesehen wird, wie sich in einer anderen Szene zeigt, in der Harry Calahan wirklich grob wird. Eine weitere wird angedeutet, als er mit dem Staatsanwalt über Kreuz kommt, weil er zur Ermittlung der Mordfälle unerlaubte Methoden anwendet. Der Film macht sehr klar, auf wessen Seite er steht. 
  • Ein weiterer Subtext ist, dass der Serienkiller, der sogar ein 14jähriges Mädchen lebendig  eingräbt, das daraufhin verstirbt, offenbar einem Milieu entstammt, das durch die liberalen 1960er erst das Bild der USA verändert und nach Ansicht der Filmemacher keinesfalls bereichert hat. Bis heute gibt es keinen gefassten Serienmörder, der tatsächlich aus der Hippie-Kultur kam. Alle diese zutiefst brutalisierten, meist auch seelisch kranken Menschen, das ist der Kern der Wahrheit, waren unauffällige, angepasste, aber mit Gewalt und Missbrauch von kleinauf konfrontierte Männer aus einfachen Verhältnissen, meist geboren in ebenjenen Landstrichen, in denen eine grausame Doppelmoral von christlichem Fundamentalismus und Gewaltgeneigtheit herrscht und in denen viele Familien traumatisiert durch ihre eigene Dysfunktionalität sind. Ich will damit nicht andeuten, dass es das in Großstädten nicht gibt, aber eine liberale Gesellschaft, die dem Einzelnen mehr Raum lässt, die Konformität nicht zu sehr betont und vielfältige Möglichkeiten bietet, sich positive Gestaltungsmöglichkeiten fürs eigene Leben zu suchen – und die außerdem ausdrücklich auf Gewalt verzichtet – senkt die Mordraten effektiver als die immer stärkere Einschränkung von Bürgerrechten und vermehrte Tendenzen zum – sic! – faschistischen Überwachungsstaat, wie wir sie heute erleben und die in Wirklichkeit Ausdruck dessen ist, was sie doch bekämpfen zu wollen vorgibt. Freilich: Selbstjustiz ist auch in autoritären Systemen ein Störfaktor, weil es nur eine Autorität gibt. Die Neigung zu der Idee, Selbstjustiz nach alter Westernart zu üben, ist ja in „Dirty Harry“ zu Recht kritisiert worden.
  • Zivilisation ist schwierig und es gibt Ungerechtigkeiten, weil Straftäter immer wieder davonkommen oder „zu milde behandelt werden“, wer würde das bestreiten? Aber deswegen ist das Gegenteil, nämlich Selbstjustiz im Sinne von keine Ordnung oder eine faschistoide Ordnung, noch lange nicht richtig. Vor kurzem habe ich „Wer die Nachtigall stört“ gesehen. Man glaubt kaum, dass zwischen diesem Film und „Dirty Harry“ nur neun Jahre liegen, so sehr war das US-Starkino der späten 1950er und frühen 1960er oftmals in den Fortschritt und den Willen zur Humanität eingebunden. Was Filme wie „Dirty Harry“ also auch zeigen und was ich oben angedeutet habe: Der Schock über das, was ab 1963 geschah, saß so tief, davon hatten sich die USA nicht nur 1971 nicht erholt, sie haben es bis heute nicht. So gesehen, kann „Dirty Harry“ auch für sich verbuchen, dass er ein sehr aktueller Film ist, der gerade im Trump-Zeitalter wieder an Relevanz gewinnt, weil mittlerweile auch die Administration des Landes einer Karikatur von dessen schlimmsten Eigenschaften entspricht, von Brutalität, Übergriffigkeit, Verachtung für Recht und – sic! – gesetzliche Ordnung. Und es kann nicht verwundern, dass Clint Eastwood sich im Verlauf der Wahl des letzten Jahres für Donald Trump ausgesprochen hat. 

Finale

„[…] ein sehr stilisierter Film […], mit Bildern von einer Schönheit, die in merkwürdigem Kontrast zur Handlung steht.“ – Georg Seeßlen[3]

„Thriller, perfekt in Schnitt und Kameratechnik, atmosphärisch dicht in seiner Milieuzeichnung, doch andererseits auch äußerst fragwürdig, was die Methoden der Verbrechensbekämpfung und den Aspekt der Selbstjustiz anbelangt.“ – TV Spielfilm Filmlexikon[4]

„Dirty Harry ist, bei hohen formalen Qualitäten, einer der härtesten und zwiespältigsten Filme, den das amerikanische Actionkino der 70er Jahre hervorgebracht hat. Don Siegel sieht die Welt häßlich, brutal, ohne Menschlichkeit, doch ist seine Verbitterung ohne eine moralische Dimension wohl nicht denkbar: Sein Zynismus macht ihm keinen Spaß.“ – Lexikon des internationalen Films[5]

„Erst durch die lakonische Verkörperung des Anti-Helden ‚Dirty Harry‘, der den Großstadtdschungel wie ein Jäger durchstreift, wurde Eastwood auch in den USA ein Star. Seinen Erfolg verdankt der Film nicht nur ihm: Die schnörkellose Regie Don Siegels und das sarkastische Skript sind ebenso stark.“ – Cinema[6]

Interessanterweise hatte unsere Besprechung aus dem Jahr 2017 keinen Schluss-Absatz und damit auch keine Bewertung enthalten, das muss ich jetzt also nachholen. Alles, was ich damals geschrieben habe, kann ich heute nicht nur unterstreichen, es hat sich auch bewahrheitet, was es bedeutet, wenn ein Land so auf dem falschen Gleis ist, gesellschaftlich gesehen, wie die USA. Der Trumpismus hat die Gräben noch einmal vertieft und mit etwas Pech kommt diese Person nach der nächsten Wahl zurück, in sehr hohem Alter dann allerdings, oder es kommt ein ähnlicher Typ an die Macht. Derweil ist die Gesellschaft durch die Pandemie oder durch Kriege unter Druck, das zu einem weiteren Triumph der Scharfmacher führt. Der negative Höhepunkt der Entwicklung in den USA war bisher der „Sturm aufs Capitol“ von Washington im Januar 2021, nachdem Trump die Präsidentschaftswahl verloren hatte. So vieles wirkt mittlerweile „dirty“, dass selbst Clint Eastwood langsamen Bedenken kommen müssten, er ist ja bei allem, was er ist, kein Idiot, sondern der profilierteste noch lebende Filmemacher der USA, der allein zwei Regie-Oscars gewann. In der Tat geht die Story von Dirty Harry weiter:

Im Februar 2020 attackierte Eastwood Trump öffentlich; er schätze zwar manches an dessen Maßnahmen, die Politik in den USA sei jedoch „widerwärtig“ und die Innenpolitik „zu zankhaft“ geworden. Trump solle sich „auf vornehmere Weise verhalten, ohne zu twittern und die Leute zu beschimpfen“. Eastwood sprach sich für den Demokraten und ehemaligen New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg aus, den man ins Weiße Haus holen solle.[19]

Gott oder an wen immer wir uns wenden, wenn Not kein Gebot kennt, bewahre den Westen vor weiteren Politikern dieser Wall-Street-Kaste, die ebenfalls nicht viel mit echter Demokratie im Sinne hat, aber man ist eben nie zu alt, um dazuzulernen. Was machen wir aber nun mit einem Film, der einerseits gut ist, andererseits unvertretbare Spins beinhaltet? Wir gehen nicht ganz mit Roger Ebert, andererseits ist „Dirty Harry“ nicht „Jud Süß“, der filmisch auch nicht so schlecht sein soll, sondern verhalten einigermaßen in der Mitte, weil wir die Meilenstein-Attribute aus cineastischer Sicht anerkennen wollen.

Anders als „The French Connection“ war „Dirty Harry“ nie in der IMDb-Top-250-Liste vertreten, was wir eben nachgeschaut haben, deshalb unterfällt er nicht unserem „Concept IMDb Top 250 of All Time“. Aktuell votieren die Nutzer:innen mit durchschnittlich 7,7/10. Es war gar nicht so einfach, ein Titelbild zu dem Film finden, auf dem Harry ohne seine Knarre abgebildet ist, aber das wollten wir unbedingt. Gerade in diesen Zeiten, in denen es auch bei uns wirkt, als wenn einige mal wieder eins auf die Mütze bekommen müssten, die sich in Kriegslüsternheit ergehen, weil der letzte Krieg schon so lange her ist, möchten wir das auch als Aussage verstehen. Es gibt viele Filme dieser Art wie „Dirty Harry“, manche davon können wir kurz abhandeln, aber hier geht es um den Einfluss, den dieser Actionthriller auf das Kino genommen hat und darüber kann man nicht in ein paar knappen Sätzen hinweggehen. Selbst im deutschen Fernsehen, wie wir aufgrund der Arbeit an unserer Rubrik „Crimetime“ wissen, wird mittlerweile ausprobiert, wie weit man mit der Promotion von Selbstjustiz gehen kann, ob sie durchgewinkt wird oder ob noch irgendwer protestiert.

60/100

TH

© 2022, 2017 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Don Siegel
Drehbuch Harry Julian Fink,
Rita M. Fink,
Dean Riesner,
John Milius
Produktion Robert Daley,
Carl Pingitore,
Don Siegel für Warner Bros.
Musik Lalo Schifrin
Kamera Bruce Surtees
Schnitt Carl Pingitore
Besetzung

 

 

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