Frontpage | Weltpolitik, Geopolitik | Die Ukraine-Krise spitzt sich zu
Lieber Leser:innen,
für heute war der dritte Teil des Wohn-Bau-Reports geplant, aber dessen Erstellung werden wir verschieben müssen.
Wie man mit den Emotionen über das, was gerade in der Ukraine läuft, umgehen und sie dämpfen kann? Dazu gibt es einige Möglichkeiten. Eine ist, sich zurückzunehmen, den #Angriffskrieg auf die Ukraine noch nicht zu sehr analytisch betrachten zu wollen, denn abgesehen von diesem unausweichlichen Tatsache, dass damit der Rubikon überschritten ist, sind wir froh, nicht einige Artikel in den letzten Monaten auch für exakte Prognosen über die Weiterentwicklung des Konflikts genutzt zu haben. Diese hätten sich spätestens heute als falsch erwiesen. Nicht wegen der Anerkennung der „Republiken“ Donetsk und Lugansk im Osten der Ukraine, dass das passiert, war durchaus im Bereich des als möglich Erachteten, sondern wegen der umgehend, ohne Zögern, als direkte Folge angekündigten militärischen Aktion Russlands.(1) Natürlich, das Modell „Syrien“ könnte sich wiederholen, das kam uns schon vor einigen Tagenin den Sinn, aber es gibt einen wichtigen Unterschied a priori: Syrien ist bei allem, was es nicht ist, trotzdem ein völkerrechtlich und von allen anderen Nationen anerkannter Staat, der, rein formal gesehen, Hilfe in einem Konflikt anfordern kann.
Wenn die Lage nicht zu einem Großkrieg eskalieren soll, den speziell in Deutschland niemand wollen sollte, kann der Westen im Grunde nur mit Sanktionen reagieren. Und da setzen wir an. Mit einer Umfrage von Civey, die so lautet:
Stimmen Sie ab? Wir haben es schon getan. Hier der Begleittext der Fragesteller:
Gestern Abend erkannte der russische Präsident Wladimir Putin in einer TV-Ansprache die pro-russischen Separatisten-Regionen als unabhängig an. Die beiden Regionen Donbass und Luhansk gehören aber völkerrechtlich zur Ukraine. Kurz darauf erreichten russische Truppen das umkämpfte Gebiet. FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann spricht im Tagesspiegel von einer „Kriegserklärung“.
Die EU und die USA kündigten bereits Sanktionen gegen Russland an. Die Vereinten Nationen haben Russlands Vorgehen als Verstoß gegen das Völkerrecht scharf verurteilt. Die USA bezeichneten den Entsendungsbefehl als ersten Schritt zum vollständigen Einmarsch und wollen daher noch heute konkrete Schritte verkünden. Die EU berät heute Vormittag über das Ausmaß konkreter Strafmaßnahmen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schließt nicht aus, Russland von den internationalen Finanzmärkten auszuschließen. Ausfuhrverbote, Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote seien etwa denkbar. Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte jüngst im Handelsblatt, dass derartige Sanktionen im Falle einer russischen Invasion nötig seien. Er wies aber darauf hin, dass diese auch die deutsche Wirtschaft hart treffen werden. Der ifo-Präsident Clemens Fuest hatte etwa vor einem Preisschock bei Öl und Gas gewarnt.
Hier noch einmal der Link zum Abstimmen:
Wir haben mit „eindeutig ja“ gestimmt. Der Ölpreis schießt schon durch die Decke und die Börsen zittern, das zumindest hat Wladimir Putin bereits bewirkt.
Ein ohnehin wackeliges Weltwirtschaftssystem, eines, das viele Risse zeigt und sich außerdem von der Pandemie erholen muss, trifft auf eine politische Situation in Europa, die kein Mensch mehr in ihrer weiteren Entwicklung seriös prognostizieren kann. Allenfalls kann man versuchen, in verschiedenen möglichen Szenarien zu denken. Dasjenige, das dann eintritt, übersieht man zuweilen. Der psychische Corona-Schock oder die gesundheitlichen Folgen sind von vielen noch nicht verdaut, da zeichnet sich eine Lage ab, in der die Aggression von dem Land ausgeht, das derzeit die weltweit höchsten Corona-Zahlen verzeichnet: Russland. Das ist absurd bzw. folgt einer Logik, die wiederum auf absurden Annahmen basiert. Uns ist schon richtig schlecht geworden, als wir einige Twitter-Reaktionen gelesen haben. Da verteidigen Kommunisten ein imperialistisches und antikommunistisches Staatssystem und interpretieren Völkerrecht nach Gusto, da wird wieder Bothsiding, das Erstellen von Whataboutismen ohne Ende betrieben.
Es geht aber immer um dies, sei es im Irak, in Afghanistan, in Syrien, im Nahen Osten oder der Ukraine: um die Menschen, die unter dem Irrsinn machtversessener Politiker:innen leiden müssen. Da bleiben wir ganz antiimperialistisch, gleich, welches der Imperien und welche der ihnen angeschlossenen Mittelmächte die Menschen leiden lässt. Deswegen haben wir auch kein Problem damit, die aktuelle russische Aggression zu verurteilen.
Aber auch wir, auch diejenigen unter uns, die Werte, Frieden, Völkerfreundschaft immer nur dann einfordern, wenn es gerade ins politische Narrativ passt, werden dieses Mal nicht ungeschoren davonkommen. Vielleicht zu Recht. Wir waren hier auch der Ansicht, dass Nord Stream 2 vorerst eine gute Idee ist und sind denen, die meinen, es sei schon jetzt ökologisch nur nachteilig und energiepolitisch obsolet, dieses Projekt umzusetzen, nicht gefolgt.
Es als eben doch politisches Projekt anzuerkennen, es in der aktuellen Lage nicht zu genehmigen, wird nun nicht ausreichen, um die Entwicklung in der Ukraine noch zu beeinflussen. Führt die Ukraine-Gasleitung eigentlich durch Lugansk oder Donetsk? Dann wäre sogar ein Szenario denkbar, das wir, als es von einem US-Geheimdienstler ausgebreitet wurde, noch für – sic! – absurd hielten: Dass Russland, möglicherweise im Rahmen einer False Flag Action, diese Leitung beschädigen wird, sodass die Gasversorgung tatsächlich ins Stocken gerät und Deutschland gezwungen wäre, Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen.
Über eines waren wir uns immer im Klaren: Putin ist ein gelernter und führender Geheimdienstler, ausgebildet vom sowjetischen KGB, und wendet Geheimdienstmethoden an, um seine Macht auszubauen.
Wir hatten aber eher mit gerechnet, dass er weiter für Stress sorgt und damit die wirtschaftlich schwache Ukraine destabilisiert und den Westen spaltet, als dass er jetzt einen Krieg anzettelt. Spekulationen über seinen persönlichen Zustand folgen natürlich auf dem Fuß und wir finden auch, er hat schon gesünder gewirkt als im Moment. Wir hatten übrigens auch bei Sahra Wagenknecht bemerkt, dass sie überanstrengt ausschaut, einige Zeit, bevor sie ihre Burnout-Auszeit erklärte. Im Fall Putin geht es aber um andere Dimensionen. Wenn er seinen bisher immer berechnenden Weg verlässt und sich dieses Mal deshalb auf den Kriegspfad begibt, weil sich sein Mindset ungünstig entwickelt hat, dann folgt das eindeutig der Maxime, dass der Westen nicht in der Lage sein wird, adäquat zu antworten, wie schon in den bisherigen Fällen von kleinen geopolitischen Korrekturen (Georgien, Syrien). Putin hat sehr wohl Schiss vor dem, was er da gerade tut, weil es ein größeres Vabanque-Spiel ist als bisher, er ist nicht so abseitig konstruiert wie Hitler und seine Spießgesellen, denen es Spaß machte, die Welt in den Abgrund zu stürzen.
Aber er hat sich zu Hause selbst eine Druckkulisse aufgebaut, mit seinen anhaltenden Drohungen dem Westen gegenüber, und handelt möglicherweise auch deswegen, weil er sonst von den Falken, mit denen er sich umgeben hat, als Schwäche zeigend wahrgenommen würde. Wir schrieben vor einigen Wochen schon von einer plötzlichen Hast im Kreml, die wir in der Form gar nicht von Putin kannten. Aber wie der Hintergrund des Lossschlagens in der Ostukraine sich auch exakt ausnehmen mag:
Das Ergebnis ist niederschmetternd und die ökonomischen Folgen werden kommen. Diese werden wieder die Ärmeren treffen, nicht die Kapitalisten. Letztere machen möglicherweise erneut Profit mit der Krise. Insofern kann kein Mensch, der links denkt, die jetzige Entwicklung gutheißen. Es ist ein imperialistisches Tauziehen und hat, wie meistens bei solchen Konflikten, nicht wirklich etwas mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu tun. Wo man sich wieder einmal die Hände reibt, ist auch klar: in China. Was hier läuft, wird Russland keinesfalls wesentlich stärken, es ist im Grunde aberwitzig, was hier für ein bisschen Prestige riskiert wird – und der Westen wird sich einmal mehr als Papiertiger erweisen.
Wir hatten es bisher für besonders wichtig im Sinne einer ausgeglichenen geopolitischen Lage gehalten, dass eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands die alten Frontstellungen ablöst, in welchem Rahmen das auch immer geschieht. Wenn Putin nun Russland doch zu einem Marionettenstaat Chinas machen will, was bei seinem letzten Treffen mit dem ehrenwerten Herrn Xi kaum zu übersehen war, dann zeigt das, wie aussichtslos im Grunde seine Lage ist. Diese Abhängigkeit, die sich noch verstärken wird, wenn man bei uns endlich den Dreh raus hat, den bei weitem zu viele Ressourcen fordernden Kapitalismus schneller zu transformieren, unter dem Einfluss der Verhältnisse, kann nicht die russische Staatsräson sein.
Wenn das Druckmittel Rohstoffe nicht mehr funktioniert, hat Russland nichts mehr, womit es andere zwicken kann, denn das, was Russland industriell drauf hat, können andere auch. Bisher waren es auch die USA, die großes Interesse an einer rohstoffbasierten Geostrategie hatten, aber diese Strategie wird immer riskanter und immer häufiger endet sie in Misserfolgen, wie bei allen Interventionen des Westens seit Beginn der 2000er. Nur: Die USA können im Notfall auch anders, Russland nicht. Es existiert jedoch gerade keine wertebasierte, langfristig orientierte Strategie des Westens, das wirkt sich immer wieder nachteilig auf die geopolitische Lage aus. Keine glaubwürdige Werteorientierung, kein Konzept für die aktuellen Herausforderungen auf der Welt. Kein Wunder, dass sich Diktaturen wieder einmal in der Geschichte als Sieger zu fühlen lernen.
Was Kommentator:innen bei uns am heutigen Tag gerne verschweigen oder sie behaupten gar das Gegenteil: Auch die westlichen Demokratien haben schon mehr Glanz ausgestrahlt als zuletzt und das macht es Putin und andern leichter, sie anzugreifen. Je größer die soziale Ungerechtigkeit wird, desto mehr tritt der Freiheitsgedanke bei vielen Menschen in den Hintergrund. Diese Ansäuerung vieler Menschen über den Zustand der hiesigen Demokratie ist das Einfallstor für Russland und China im Westen selbst, weit diesseits der ukrainischen Grenze – zum Beispiel für russische Propaganda. Würden die hiesigen Demokratien nicht so deutliche Schwachstellen zeigen, könnte des Kremls Abteilung für Desinformation, und die gibt es tatsächlich, im Geflecht russischer Geheimdienste und mit ihren zusammenarbeitender Organsiationen, nicht so erfolgreich agieren, dass man schon beginnt, die abzuschalten, um Schlimmeres zu verhindern.
Nun haben wir doch die Lage wieder kommentiert, aber es bleibt sowieso dabei: Russland per Sanktionen in die Knie zu zwingen und den heißen Krieg zu vermeiden, wird uns alle etwas kosten. Wir erwarten eindeutig, dass den Ärmeren geholfen wird, die abermaligen Krise zu überstehen. Denn sie sind nicht die Kriegstreiber und nicht diejenigen, die durch falsche Politik solche Krisen immer wieder provozieren. Wer in einer Stunde der Bewährung die Demokratie sichern will, der muss sie endlich wieder gerechter machen. Wir jedenfalls werden uns nicht durch den Ukraine-Krieg davon ablenken lassen, auf diese Zusammehänge hinzuweisen und dabei eine strikt aintiiimperialistische und an sozialen Belangen orientierte Haltung einzunehmen. Und gerade haben wir auf Twitter gesehen, dass sich auch im linken Spektrum einige Menschen ihren politischen Kompass erhalten konnten, ohne sich zu verbiegen:
Dieses Stoppschild wird Putins Panzer nicht bremsen, aber die richtige Haltung ist es auf jeden Fall. Wer gegen Krieg ist, muss gegen jeden Krieg sein, auf jeden Fall aber gegen jeden Angriffskrieg.
TH