Hubertys Rache – Tatort 1195 #Crimetime 1100 #DGR #Tatort #Köln #Ballauf #Schenk #WDR #Rache #Huberty

Crimetime 1100 – Titelfoto WDR / Bavaria Fiction GmbH, Thomas Kost – Die große Rezension

Was ist ein Arschloch, das nur sich selbst liebt? Das wird in diesem Film geklärt.

„Der neueste Kölner „Tatort“ lockte noch mehr Leute vor die Fernseher als der Hamburger „Tatort“ vor einer Woche: 9,48 Millionen Zuschauende entsprachen der viertbesten „Tatort“-Zahl des bisherigen Jahres.“ (Q). Offenbar sind die Tatortquoten zuletzt etwas gesunken, denn 9,48 Millionen sind nicht so herausragend. Schon gar nicht für die Kölner. Dieselbe Publikation führt sie auf Rang 2, sie sind also die Quotenvizekönige. Gewesen. Im Jahr 2019 (Q). Ein Jahr später lagen sie immerhin auf Platz 3, dieses Mal sind auch die durchschnittlichen Zuschauerzahlen für die neuen Tatorte der vorausgegangenen beiden Jahre genannt (Q). Bei einer damaligen Durchschnittszuschauerzahl für die Kölner von 10,01 Millionen lief der aktuelle Tatort sogar unterhalb des Mittels. Allerdings: Die Zahl derjenigen, die sich Filme nicht sofort, sondern z. B. in der Mediathek der ARD zeitversetzt anschaut, steigt kontinuierlich und kann logischerweise bei der strikten 20:15-21:45-Quote nicht miterfasst werden. Auch die Nutzer:innen des Tatort-Fundus sind angetan. Mit einem Rang unter den ersten 20 von über 1.200 gelisteten Filmen ist es zwar nichts geworden, einen solchen Supertatort hatten wir in der Vorschau gefordert. Aber der aktuelle Platz 62 kann sich auch sehen lassen und die Durchschnittsbewertung von 7,78, Stand 29.03.22, 13 Uhr, wirkt sehr hoch. Bei uns wären das 8/10. Kommen wir dorthin? Das klärt sich in der –> Rezension.

Handlung

Max Ballauf und Freddy Schenk sind am frühen Morgen am Rheinufer im Einsatz. Hier wurde die Leiche eines Mannes angespült. Er war Mechaniker an Bord eines Ausflugsschiffes und offenbar kurz vor seinem Tod in eine Schlägerei verwickelt. Als sich Hauptkommissar Schenk mit dem Kapitän der „Agrippina“ in Verbindung setzt, bekommt der Fall eine dramatische Wendung: An Bord des Schiffes, das gerade abgelegt hat, ist Daniel Huberty, ein ehemaliger Gymnasiallehrer, der jetzt droht: „Ich werde das Schiff in die Luft sprengen, wenn Sie meinen Forderungen nicht nachkommen.“ 

Rezension

Möglicherweise haben die Drehbuchautor:innen, das Ehepaar Eva und Volker Zahn, Pablo Hagemeyers „Gestatten, ich bin ein Arschloch“ gelesen. Ein Narzisst schreibt über Narzissten, sehr instruktiv für Menschen, die bestimmten Typen in ihrer Umgebung oder auch sich selbst auf eine recht unterhaltsame Weise auf die Schliche kommen wollen. Nach seinem Erscheinen 2019 war das Buch ein Spiegel-Bestseller, deshalb wäre die Idee gar nicht unlogisch, es als Ideengeber oder als Ratgeber für ein Drehbuch zu verwenden. Fachleute sagen uns immer wieder: „Der Narzissmus in der Welt wird zunehmen“. Freddy Schenkt sagt: „Was mich das aufregt, dass heute jeder, der sich gekränkt fühlt, dermaßen freidrehen darf“. Sinngemäß wiedergegeben. Gemeint ist jeweils ein pathologischer Narzissmus, der andere und oft auch die narzisstische Person selbst in erhebliche Bedrängnis bringt. 

Eine Frage ergab sich für mich daraus sofort: Welcher Typ Narzisst hält 9 Jahre lang die Füße komplett still und braucht dann nur eine Kleinigkeit als Auslöser, um eine so rüde Geiselnahme durchzuführen wie die, die wir im 1195. Tatort sehen? Das Problem haben aller Thriller, die darauf basieren dass eine Art „Schläfer“ umhergeistert, der in sich etwas trägt, was gerächt werden muss, wann und womit auch immer und dass eine solche Handlung mehr Spannung bietet, wenn niemand mit ihm gerechnet hat. Mithin, wenn er jahrelang unauffällig blieb. Das kann nur ein Arschloch-Arschloch sein. Das war also das Stichwort, auf das wir hören müssen, vielleicht verengt sich künftig tatsächlich die Begriffsbedeutung dies Schimpfworts entsprechend, dass es zu einem Code für das N-Wort wird, das man gerade nicht findet, nur empfindet oder das man aus wohlerwogenen Gründen nicht einfach jemandem zuschreibt, den man nicht exzellent gut kennt.

Dann also lieber das A-Wort. Die Darstellung des As oder Ns durch Stefan Kampwirth wird allgemein gelobt, dem schließe ich mich auf jeden Fall an, was das Spiel an sich betrifft. Ob er als N. glaubwürdig wirkt, ist immer eine Frage der Drehbuchqualität, nicht nur des Engagements, das ein Schauspieler in seine Rolle einbringt. Was ich vermeiden möchte: Mich an Persönlichkeiten zu orientieren, die unbedingt „so oder so“ sein müssen, um für mich als Nen authentisch zu wirken, denn es gibt unzählige, sogar verdeckte Spielarten dieser n-istischen Persönlichkeitsstruktur, dass die Gefahr groß ist, daraus das echte Ntum herausschälen zu wollen und es von der Tendenz, fast alles, was leicht egoistisch oder auch mal nur schräg rüberkommt, mit solchen Zuschreibungen zu pathologisieren. Das hätte man bis vor Kurzem auch so nicht getan, aber die Welt verlangt nach Klarheit, das kann ich verstehen, gerade in diesen unübersichtlichen Zeiten.

Demgemäß muss dem Huberty am Ende auf jeden Fall jede Sympathie weggenommen werden, die der Zuschauer bis dahin möglicherweise sogar für ihn aufgebaut hat, weil doch immerhin alles freiwillig war, was er mit der Schülerin zusammen erlebt hat, weil die Staatsanwaltschaft die Höchststrafe forderte, weil der Jugendamtsleiter die Situation ausnutzte, um sich die Lehrergattin zu angeln, weil die Mutter der 14-Jährigen gegen diese Verbindung zum Lehrer war und weil auch noch der Immobilienhai ihn ohne Anhörung aus den für seine Nachhilfeschule gemieteten Räumen schmiss, obwohl er selbst, wie bei den Immobilien üblich, nicht sauber ist. Aber was ist Steuerhinterziehung, womöglich in Millionenhöhe, gegen den Missbrauch einer Schutzbefohlenen? Wäre sie über 16 gewesen, wäre es etwas komplizierter geworden, aber so ist der Fall wenigstens juristisch klar:

Sexuelle Handlungen an Personen unter 16 Jahren, die – ausgenommen von reinen Arbeitsverhältnissen – in einem besonderen Schutzverhältnis im Rahmen der Erziehung, Lebensführung und Ausbildung stehen (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB) stellen einen Missbrauch dar.

Für Erwachsene gilt das Menschen bis zum Alter von 14 Jahren sowieso, auch ohne Schutzverhältnis, und so alt war die Schülerin zu dem Zeitpunkt, als sie sexuellen Kontakt zu Huberty hatte. Rechtspolitisch steht dahinter die Ansicht, dass es nicht auf die Freiwilligkeit angekommen kann, die das Mädchen, jetzt die junge Frau, ohne Weiteres zugibt und auch sagt, sie habe Huberty geliebt. Das ist deshalb nicht entscheidend, weil jemand in dem Alter noch nicht wissen kann, ob er wirklich freiwillig handelt, alle Konsequenzen berücksichtigen, seine Gefühle exakt genug einordnen kann. Wenn jemand also ein unsicheres Mädchen so manipuliert, wie Huberty es mit seiner noch immer erkennbar defensiv wirkenden, in einem offenbar nicht sehr liebevollen Umfeld aufgewachsenen Schülerin tut, dann kann er in ihr ein Gefühl von Liebe erwecken und sich, auch narzisstisch, daran hochziehen, dass er diese Form der Kontrolle erreicht hat.

Das sagt sie auch selbst, dass sie bei Huberty erstmals das Gefühl hatte, gesehen zu werden. Dass er sie aber nicht liebt, sondern nur etwas haben will, sein Verständnis eine Masche ist, macht den Anwendungsfall an sich auch realistisch und oft genug dürfte es innerhalb von Familien zu solchen asymmetrischen, toxischen Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Generationen kommen. Ein Problem zeigt sich dabei allerdings auch: Gleich, wie verständnisvoll man ist, es kann immer als Manipulation gedeutet werden. Unter Erwachsenen, denen man mehr Urteilsvermögen zutraut, erwächst daraus aber kein Straftatbestand, wenn auf der Basis einer Suggestion von Verständnis für einen anderen Menschen ein sexueller Kontakt mit diesem zustande kommt. Es ist dann mehr oder weniger Privatsache, wie die Betroffenen damit umgehen, sofern es nicht zu resultierenden Gewalttaten kommt.

Huberty erkennt vermutlich gar nicht, dass er ein N / A ist, aber was ich mit am besten fand: Dass das nicht sicher ist. Dass er es auch bewundert, wenn jemand Kante zeigt, wie der Kapitän, oder sich etwas traut, wie Max Ballauf, der unter falschem Namen an Bord geht und versucht, das Schlimmste zu verhindern. Das Duell zwischen ihm und Kampwirth ist sehenswert, deswegen fand ich den Film auch spannend und nicht überdehnt. Bei den Kölnern weiß man so sehr, woran man ist, dass man sie schon dafür liebt: Wenn Max also undercover geht, dann sicher nicht, um seinen Narzissmus zu pflegen, sondern um wirklich zu helfen. Damit die Sache aber auch wirklich eindeutig wird, kommt es zu einem Moment, in dem Freddy ganz große Augen kriegt: Die junge Frau, die als Schülerin ein Verhältnis mit Huberty hatte, erzählt von weiteren jungen Mädchen, mit denen er Sex gehabt haben soll. Dass er auch noch schlecht riecht und sie ihn trotzdem liebt, war komplett überflüssig, aber das ist leider auch ein typischer Köln-Move: Es wird gerne mal unappetittlich. Deswegen musste sich auch dieses Mal jemand übergeben, der stark alkoholisiert war. In Sachen K. hält der Köln-Tatort mit Sicherheit den Rekord. Anschließend wechselt die junge Frau dann zurück vom Ekel zur Eifersucht. 

Ändert dies aber die Bewertung? Für manche Zuschauer:innen vielleicht schon, für mich stand vorher fest, dass der Richterspruch, der offenbar darauf hinauslief, der Staatsanwaltschaft zu folgen, okay war, zumal Huberty tatsächlich nur 9 Monate abgesessen hat. Aber die narzisstische Kränkung, die fraß sich fort und fort, so sollen wir es verstehen und sie bedingt nicht nur einen Mangel an Unrechtsbewusstsein, der pathologischen Narzissten allgemein zugerechnet wird, sondern auch noch ein Befürfnis nach öffentlich zurückkeilen können, das mich an Donald Trump erinnert hat. Sicher hatte man auch ihn im Kopf, als es um Vorbilder für Huberty ging, die jeder kennt. Für Hubert beruht das seinerzeitige Urteil auf Fake News, er stellt sich darauf, dass Liebe im Spiel war und negiert die Ausbeutungsmechanismen, die erst zu dem Verhältnis überlegener Lehrer und unsichere Schülerin geführt haben. Auch ihre Wahrnehmung ist schwierig, wie sollte es anders sein, denn einerseits findet sie ihn attraktiv, andererseits abstoßend. Narzissten haben eine famose Witterung dafür, solche Menschen auszuspähen, sie sich dienlich zu machen und dann z. B. ein wenig Gaslighting mit ihnen zu betreiben, um sie immer mehr zu kontrollieren.

Erst in den letzten Jahren wurde mehr darüber gesprochen, wie auf diese Weise dysfunktionale Familien entstehen können, Co-Abhängigkeiten, kollusive Verhältnisse, in denen genau die zwei Falschen zusammenfinden, in denen negative Verstärkung entteht. Die Leidtragenden solcher Verhältnisse sind oft die Kinder, die leider damit das Trauma, das schon die Eltern gefangenhält, die aus etwas, das in ihrer Kindheit passiert ist, nicht aussteuern können, in die nächste Generation übernehmen. Leider erfahren wir über den familiären Hintergrund von Huberty gar nichts.

Einige unlogische Momente, vor allem zu Beginn, führen zu leichten Punktabzügen, wir wollen sie hier aber nicht auseinanderfitzeln, zumal wir sie dafür hätten „aufzeichnen“, uns direkt einen Merker ins Handy sprechen müssen. Es gibt aber eine Plotschwäche, die wir nicht weglassen können. Nimmt man alles, was die Person, um die es geht, den schwer gekränkten N. Huberty, für realistisch, dann darf die Polizei niemals von außen so eingreifen, wie sie es hier tut. Vor allem nicht so dilettantisch, dass ein Scharfschütze so dämlich versagt. Ob ein Todesschuss überhaupt gerechtfertigt gewesen wäre, ist eine andere Sache, denn was, wenn er noch Zeit hat, das Handy zu bedienen und die Bombe zum Explodieren zu bringen? 

Huberty reagiert ja geradezu besonnen, für einen Narzissten in Not, auf diesen Angriff von außen, den er locker als Verrat interpretieren kann. Ich hätte, Auge um Auge, vermutlich einer Geisel ins Bein geschossen, um klarzustellen, dass dies hier kein Spiel ist, wäre ich in seiner Position gewesen. Da werde ich niemals reinkommen, denn Rache ist für mich höchstens Blutwurst, also keine Bange, liebe Leser:innen. Hier geht es aber um die Dynamik, die man mit dieser Aktion hätte in Gang setzen können. Für einige eher actionorientierte Tatortfans wäre das sicher auch ein ansehnlicher Move gewesen.

Oder wollte man gerade zeigen, dass es sich bei Huberty im Grunde ebenfalls um einen zutiefst unsicheren und inkonsequenten Menschen handelt, der sich eine 14-jährige Schülerin aneignen musste, um sich bestätigt zu fühlen? Jedenfalls hatten alle verdammt viel Glück, dass dieser Polizeifail nicht zu schwerwiegenden Konsequenzen geführt hat. Und die Funknetz-Störungsdrohen war so leise nun wieder nicht, dass man sie vom Schiff aus nicht hätte hören können. 

Dafür wiederum ist der Moment der Dekonstruktion des N. besonders gelungen, in dem er mit der Ablehnung aller konfrontiert wird, anstatt dass ihm jemand die gewünschte Rehabilitation zuteil kommen lässt, die nur auf der fixen Idee beruht, dass ein „ja“ wichtiger ist als das, was zu dem „ja“ geführt hat. Umgekehrt übrigens mit einem „Nein“, das Narzissten ebenfalls nur schwer akzeptieren können: Es bedarf dafür keiner Begründung, wenn es um Sex geht.

Finale

Zwischendurch dachte ich immer mal wieder: Wäre nicht der kompakte Freddy für den Undercover-Einsatz besser geeignet als der besonders sensible Max? Zumal er sich ja schon vor vielen Jahren als Krankenpfleger bewährt hatte. Aber es sollte wohl ein Tatort werden, in dem Ballauf im Mittelpunkt steht und Klaus J. Behrendt macht seine Sache im Rahmen der Möglichkeiten, die das Drehbuch ihm bietet, gut. An Stellen wie dem oben erwähnten „Ekel-Moment“, der mich nicht begeistern konnte, merke ich immer wieder, dass ich die Dialoggestaltung im deutschen Fernsehen oft zu wenig literarisch finde. Nicht im Sinne von nicht hochgestochen genug, sondern nicht verdichtend und nicht pointiert genug. Die Dialoge sind gerade bei diesem Ausflugsdampferkammerpsiel besonders wichtig. Immerhin, die Botschaft kommt rüber und anfangs wird sogar ein wenig Lokalkolorit verbreitet. Wird auf den Rhein-Fahrgastschiffen wirklich gespielt „Wenn am Himmel die Stääne danze un dr Dom sing Jlocke spillt“? (Rechtschreibung nach einem Nutzer des Tatort-Fundus gestaltet). Am Ende stehen die beiden Recken an ebenjenem Rhein, bei einsetzender Nacht, jeder mit ner Pulle, aber ohne die Wurstbraterei im Hintergrund, und Freddy bittet sich aus, dass sich die Angst um das Leben des Kollegen doch bitte künftig in Grenzen halten möge. Wird sie das? Jedenfalls merkt man, wie tief verbunden die beiden miteinander sind und wie lange das noch so weitergehen könnte. 

Doch, der Film ist gelungen. Ich hätte lieber den Huberty, seine Opfer und seine Gegner:innen noch besser ausgeleuchtet gesehen und dafür hätte man sich diese Hektik mit dem SEK-Einsatz sparen können, aber man wollte wohl doch lieber ein paar Füllmomente, als noch tiefer einsteigen oder zum Beispiel etwas mehr darauf eingehen, was anfangs die Tötung des Besatzungsmitglieds der „Agrippin“ ausgelöst haben könnte. War keine Absicht reicht nicht. Alternativ hätte man m. E. dieses Mal auf das klassische Intro mit der Leiche zu Beginn verzichten können, es wirkt recht aufgesetzt und es ist kein absoluter Zwang. Mittlerweile traut man sich wieder häufiger, darauf zu verzichten (in den ersten Jahren der Reihe gab es viele Tatort-Episoden, die nicht mit dem Absperrband in Sicht starteten).

Der 84. Köln-Tatort ist also eine recht gelungene Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand der Direktrezensionen neuer Tatorte, und dann kriegen die Kölner auch noch eine runde Rezensionsnummer. Im Verlauf des Films stirbt übrigens keine weitere Person, es bleibt bei dem Besatzungsmitglied zu Beginn, zu dem wir als Zuschauer keinerlei Beziehung aufbauen konnten. Aber der Huberty, ist das nicht ein Typ, den wir alle irgendwoher kennen?

8/10

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Vorschau: Sportschau oder am schönen Rhein?

Ich kann es nicht ändern, mich hat der Titel sofort an den legendären Sportschau-Moderator und Reporter Ernst Huberty erinnert. Mit ihm hat der Fall aber nach allem, was ich gelesen habe, nichts zu tun. Vielmehr geht es um die Rheinschifffahrt, die schon längst einmal hätte Bestandteil eines Köln-Tatorts hätte sein müssen. „Warum ist es am Rhein so schön?“ Ja, warum eigentlich, fragen sich die Tatort-Fans. Vielleicht ergibt es sich aus dem Krimi, auch wenn unsere Lieblingscops auf dem Titelfoto ausschauen, als ob das Tauchen im Rhein nicht unbedingt ein Quell reiner Freude sei.

Wir sehen Max Ballauf und Freddy Schenk in ihrem 84. Fall. Für diese Meisterleistung haben sie 26 Jahre gebraucht. Voraus sind ihnen nur noch die Münchener Batic und Leitmayr, die nun auf 88 Filme & Fälle kommen, aber seit 31 Jahren im Dienst sind. Ballauf-Darsteller Klaus J. Behrendt hält sowieso einen besonderen Rekord, weil er schon in Düsseldorf unter Kommissar Flemming angefangen hatte, mithin stehen bei ihm noch ein paar Einsätze mehr zu Buche. Nur ein Team, das sich außerordentlicher Beliebtheit erfreut, kann so lange aktiv bleiben, ohne dass die Zuschauer nicht mehr mitgehen. Wir werden an den  heutigen Quoten sehen, ob es immer noch ein gemeinsamer Weg zwischen den Machern, den Darstellern und dem Publikum ist, den sie, den wir alle gehen. In Bayern funktioniert das über 30 Jahren noch, immer wieder eine gute Mischung aus Flops und Tops. In Köln wäre es an der Zeit für einen neuen Tatort, der sich in der berühmten Fundus-Rangliste, sagen wir mal, unter den ersten 20 platzieren kann. Gleichwohl, Ballauf und Schenk liegen bei der Bewertung der aktuellen Ermittler:innen-Teams auf einem sehr starken Platz 5, nur minimal hinter den Münchenern auf Platz 4. Solange das so bleibt, können sie auch über das reale Renteneintrittsalter eines deutschen Beamten hinaus weitermachen.

Der Film changiert zwischen beklemmendem Kammerspiel und packendem Psychothriller mit Nervenkitzelgarantie, nimmt neben Hubertys Perspektive immer auch die Sichtweise seiner Opfer und der Polizisten ein, deren Job es ist, diesen unberechenbaren Narzissten zur Strecke zu bringen. Dies spiegelt sich auch in der kunstvollen Bildgestaltung wider, die einerseits weite Panoramen von Kölns Wasserseite zeigt, andererseits die bedrückende Enge und Dunkelheit, die scheinbare Ausweglosigkeit in den Szenen der Geiselnahme unter Deck. Und endlich zeigen Ballauf und Schenk einmal, dass sie auch nach über 80 Einsätzen noch voll ins Risiko gehen können. Ein Tatort, der keine Minute langweilt. Unbedingte Einschaltempfehlung! – Redaktion Tatort-Fans

Wieso bin ich geradezu berührt, wenn die Kölner so in den Kritikentunnel starten dürfen, in die Enge, die sich aus der Konzentration auf wenige professionelle Stimmen ergibt? Vielleicht, weil ich will, dass sie da gut wieder rauskommen, während ich bei vielen anderen Teams eher distanziert an die Vorschau herangehe, das Daumendrücken ist eine besondere Haltung, die mich wieder darauf verweist, dass ich einmal geschrieben habe: Wenn die beiden nicht mehr da wären, würde dem Tatort mehr fehlen als bei jedem anderen Team. Münster-Fans, pardonnez-moi! Aber die Kölner sind nicht nur ein Teil der Tatort-Legende, das trifft auf Münster auch längst zu, sondern sie halten den Kern des Formats fest in Händen, weil sympathische und überwiegend ernsthafte Ermittler:innen wie sie notwendig für sein Weiterbestehen sind. Das würde ich für die exzentrischen Münster-Variante so nicht unterschreiben wollen. Hingegen gibt es im Moment im weiten Tatortland kein Team, das mich zu häufig nervt. Ein schönes Land in dieser Zeit ist das. Nach dem Genuss der ersten Kritik wagen wir uns aber an die nächste Hürde:

Hoher Spannungsfaktor: Ist Huberty wirklich so unschuldig, wie er sich selbst empfindet? Was sagt das Mädchen von damals dazu? Dieser Tatort lebt von all diesen Fragen, von seiner beklemmenden Spannung von Anfang bis Ende und einem grandios eindringlich spielenden Stephan Kampwirth als Huberty – da verzeiht man auch die ein oder andere kleine Schwäche, wenn die Story etwas zu konstruiert wirkt. Von mir gibt’s deshalb 4 von 5 Elchen. – Simone Sarnow, SWR3-Check

Nun ja, welcher heutige Tatort ist nicht ein wenig überkonstruiert? Doch, gibt es, mir fällt nur gerade keiner ein. Meist vermeidet eine Thriller-anstatt-Whodunit-Anlage zu großen Plotwust, zu viele Abschweifungen. Um einen Thriller scheint es bei „Hubertys Rache“ zu handeln, denn der Täter ist gleich im Spiel und als solcher erkennbar. Entführungsfälle funktionieren nur so, besonders im Kampf gegen die Zeit. Es handelt sich um einen gekränkten Zeitgenossen, der als Charakter für uns analysiert wird, die Tatort-Fans wagen auch schon eine Zuschreibung in Richtung des (pathologischen?) Narzissmus. Die meisten Narzissten versuchen zwar eher, dazuzugehören, als dass sie sich absondern, weil sie die Anerkennung der anderen brauchen, aber es gibt selbstverständlich ganz individuelle Ausprägungen, auch und gerade, wenn sich eine im Grunde uns allen eigene und bis zu einem gewissen Grad sogar gesunde Charaktereigenschaft, die man positiv einsetzen kann, durch Übersteigerung oder durch das Abdriften aufgrund zusätzlicher problematischer Eigenschaften als Persönlichkeitsstörung zeigt. Apropos Narzissmus, wir müssen zum Spiegel und Jürgen Buß kommen (kleiner Scherz, I beg your pardon):

Prostata-Monologe am Pissoir. Captain Chaos hat das Kommando: Der Köln-»Tatort« mit Schenk und Ballauf erzählt von einer Geiselnahme auf einem Ausflugsschiff – und läuft dabei ganz schön aus dem Ruder. – Christian Buß, Der Spiegel

Warum er das tut? Aus dem Ruder geraten oder behaupten, dass alles aus dem Ruder gerät? Lesen Sie selbst. Kann ja wohl auf dem Rhein nicht so schlimm sein, das nächste Ufer ist nie weit. Ich hatte schon so ein Gefühl. Ein Gefühl, dass hier 4 von 10 herauskommen könnten. Ich nehme alles zurück. Das oben war doch kein Scherz. Offenbar ist ein Trigger im Spiel. Schon dieser Titel. Meine Zeit der Bewunderung für solche Titel ist ad hoc vorbei. 4 von 10 für die Wacht am Rhein! Kann ja wohl auf dem Rhein nicht so schlimm sein, wenn mal was aus dem Ruder läuft, das nächste Ufer ist nie weit, oder? Wenn mir jetzt Tittelbach-TV nicht den Tag rettet, er ein perfekter Köln-Tag hatte werden sollen, dann … ja, weiß ich auch nicht. Also tief Luft holen und weiter:

Ausnahmezustand bei der Kölner Kripo. Ein ehemaliger Gymnasiallehrer hat Besatzung und Passagiere eines Ausflugsschiffs als Geiseln genommen. „Ich werde das Schiff in die Luft sprengen, wenn Sie meinen Forderungen nicht nachkommen“, droht er. Wegen Missbrauch einer 14-Jährigen ist er 2012 verurteilt worden. Der Prozess sei ein abgekartetes Spiel gewesen, für das fünf Menschen verantwortlich seien. Sie sollen an Bord gebracht werden… Die Macht einer Kränkung ist der Ausgangspunkt für den 84. „Tatort“ aus Köln, „Hubertys Rache“ (WDR / Bavaria Fiction). In dem Film von Marcus Weiler nach dem Drehbuch von Eva Zahn und Volker A. Zahn inszeniert der Antagonist eine Situation, in der zum ersten Mal er am längeren Hebel sitzt. „Hubertys Rache“ ist kein Nur-Suspense-Thriller; das Motiv für die Geiselnahme und die kriminelle Aktion werden gleichrangig behandelt. Die stärksten Momente hat der Film, wenn sich Crime und Drama gegenseitig hochschaukeln. Bei diesem Fall lässt es sich kaum vermeiden, dass Ballauf & Schenk ihre moralische Entrüstung zeigen und Bär und Behrendt das dazu passende Mienenspiel abrufen. Doch der Film ist so packend, dass kleine Schwächen im spannenden Strudel von Krimi, Thriller & Drama untergehen. Das Finale ist dramaturgisch & emotional stark, und der Zuschauer darf sich bestätigt fühlen. – Rainer Tittelbach, Tittelbach-TV

Ex-Grimmepreis-Juror Rainer Tittelbach hat selbst in die Tasten gegriffen, um mir diesen Sonntag noch einmal zu versüßen. Der Tenor ähnelt dem des SWR3-Checks und wer kann besser moralische Entrüstung zeigen als die beiden Kölner Gemütsmenschen, ohne gleich – sic! – oberlehrerhaft zu wirken? So, wie offensichtlich der Täter in diesem 1195. Tatort, der auch den optimalen Beruf dafür hat. Unser freier Rezensionplatz geht dieses Mal an …

„Tatort: Hubertys Rache“: Das gab es in 25 Jahren noch nie für Ballauf und Schenk. – TV Spielfilm

Wie von anderen Kritiker:innen wird die Darstellung des Huberty durch Stefan Kampwirth gelobt, hingegen der Plot als zu konstruiert bezeichnet. Trotzdem: Daumen hoch! Und so wollen wir diese kleine Vorschau-Runde abschließen. Mit einem doch überwiegend positiven Eindruck von dem, was uns heute Abend erwartet. 

Die eigentliche Sensation aber liefern wir selbst und stellen die Nachricht ganz bescheiden, geradezu anti-narzisstisch, ans Ende dieses Textes: Erstmals seit fast zwei Jahren werden wir wieder einen Tatort direkt nach der Premiere rezensieren. Kann man dieses Back-to-the-Roots besser einleiten als mit den so vertrauten Kölnern?

TH 

Simone Retzlaff Antje Hamer
Ingo Retzlaff Enno Kalisch
Ira Beckmann Xenia Snagowski
Max Ballauf Klaus J. Behrendt
Dr. Svenja Poulsen Christina Große
Norbert Jütte Roland Riebeling
Natalie Förster Tinka Fürst
Melanie Novak Renan Demirkan
Jana Künitz Mathilde Bundschuh
Freddy Schenk Dietmar Bär
Amelie Poulsen Anna Bachmann
Daniel Huberty Stephan Kampwirth
Dr. Roth Joe Bausch
Regie Marcus Weiler
Kamera Sten Mende
Musik Olaf Didolff
Buch Eva A. Zahn

 

 

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