Glanz und Elend der Ostermärsche – Kommentar | Geopolitik | Krieg, Frieden und der Preis dafür

Frontpage | Geopolitik | Ostermärsche für den Frieden im Zeichen von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine

Liebe Leser:innen, die Ostermärsche für den Frieden sind seit den 1960ern eine Tradition in Deutschland und haben sich mit dem Wandel der Zeiten gewandelt. Aktuell stehen sie selbstverständlich im Zeichen des Kriegs in der Ukraine. Und das ist eine heikle Angelegenheit, wie wir noch erläutern werden.

Berlin (dpa/bb) – Mehrere Hundert Menschen sind in Berlin bei einem Ostermarsch der Friedensbewegung auf die Straße gegangen. Am Oranienplatz protestierten sie für Frieden und Abrüstung. Auf Plakaten stand etwa „Stoppt den Rüstungswahn“ und „Keine Waffen!!! Keine Kriege!!!“. Auf einem Autodach war eine große Friedenstaube montiert. Es seien rund 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort, sagte ein Polizeisprecher am Samstagmittag. (Q)

Kann jemand etwas gegen keine Kriege haben?

Ich sicher nicht. 2017 war ich selbst auf der Osterdemo in Berlin, in jener Phase der naiven Begeisterung kurz nach dem Eintritt in die Partei Die Linke. Diese Phase, das sei hier angemerkt, muss es geben, sie ist wichtig und sich ein wenig verzaubern zu lassen ist richtig, denn was wäre ein Anfang ohne den Zauber des Anfangs? Der Ostermarsch 2017 war allerdings ein früher Dämpfer, nicht nur wegen des mäßigen Wetters, sondern auch, weil mir die Parolen ziemlich einseitig vorkamen. Von dem damaligen russischen „Einsatz“ in Syrien war keine Rede, beispielsweise, aber viel, viel von den Sünden der NATO. Man kann auch sagen, ausschließlich davon. Es gibt heute noch Linke, die von einer „Militäroperation“ Putins, nicht von einem Angriffskrieg reden.

Der Reihe nach – vielleicht kurz zur Historie der Ostermärsche

Sahra Wagenknecht hat das in ihrem aktuellen Newsletter kurz angerissen, aber die Geschichte ist natürlich sehr komplex, besonders, als die Friedensbewegung in der BRD eine Massenbewegung war, vor allem zu Beginn der 1980er. Viele meiner Mitschüler:innen waren sehr friedensbewegt. Zu den ganz großen Demos, auch wenn sie nicht immer an Ostern waren, gingen Hunderttausende und protestieren z. B. gegen die NATO-Nachrüstung (den „Doppelbeschluss“).

Nun wird von 400 Personen gesprochen, die in Berlin dabei waren.

Vor fünf Jahren war es auf jeden Fall eine vierstellige Zahl. Sicher gehen auch die Veranstalter heute wieder von mehr Teilnehmenden aus. Aber dass es nicht mehr sind, kann ich gut verstehen. Wer da im Moment mitgeht, der setzt sich der Gefahr aus, für ein Arschloch gehalten zu werden. 

Oh! Pazifismus dosen’t matter?

Doch. Aber nicht das, was diese Leute darunter verstehen. Ich habe Wagenknecht vorhin auch erwähnt, weil ich mich an ihr jede Woche abarbeiten könnte. Sie steht sinnbildlich für die Enttäuschung über die Linke, die sich bei mir breitgemacht hat. Naive Begeisterung, Staunen, erste Zweifel, große Enttäuschung. Jetzt muss ich aufpassen, dass ich mich sehr ausgewogen ernähre, sonst ist Brechreiz zu befürchten. 

Worum geht es, wenn nicht um Pazifismus?

Vorgebliche Antifaschist:innen, die es super fänden, wenn ein Faschist namens Wladimir Putin kampflos die Ukraine einnehmen könnte, zum Beispiel. Kommunisten, die ein erzkapitalistisches, nationalistisches System wie das russische hypen, nur, weil sie hoffen und glauben, dass es gegen die USA steht. Antiimperialisten der einseitigen, unglaubwürdigen Sorte. Das ist so übel, es lässt sich schwer in Worte fassen. Deshalb zitiere ich erst einmal SW, die findet ja immer Worte. Es muss ja nicht jedem so gehen wie mir: Ich finde diese Worte immer schräger und unethischer. Dabei fängt es so schön pathetisch an:

„Werden wir dem Menschengeschlecht den Untergang bereiten, oder wird die Menschheit auf Krieg verzichten?” Diese Frage stellten sich Wissenschaftler und Nobelpreisträger wie Albert Einstein und Bertrand Russel schon vor über 60 Jahren.“ (Q)

Es folgt unter anderem dies, die Gesamtüberschrift des Artikels lautet: „Ohne Frieden ist alles nichts.“

So grausam und furchtbar der von der russischen Führung begonnene Krieg ist – wer im Gegenzug Panzer liefert, trägt zu seiner Ausweitung und Verlängerung bei und damit zu noch mehr Opfern und Leid! Wer den Frieden will, muss aus der militärischen Logik ausbrechen. Zu Diplomatie und Verhandlungen gibt es keine Alternative.

Letztlich wird aber doch verhandelt werden müssen, nur steigt der Preis dieses Krieges immer weiter.

Was SW, wie mittlerweile jede Woche in leicht abgewandelten Worten, auch jetzt wieder schreibt, bedeutet in Wirklichkeit: Freund Putin, wir wissen alle, es gibt nichts zu verhandeln, wenn wir dich einfach durchmarschieren lassen, aber Frieden, Frieden werden wir dann haben.

Jedoch keinen Verhandlungsfrieden, sondern einen russischen Diktatfrieden. So dämlich kann SW und können die anderen aus der Fraktion nicht sein, dass sie das nicht wissen. Also ist es Absicht. In dem eingangs zitierten Artikel ist auch von Gegendemos die Rede, weil die Friedensmarschierer der Ukraine das Selbstverteidigungsrecht absprechen wollen. Damit ist im Grunde auch fast alles gesagt, denn genau so ist es. Daraus folgt zwingend, dass diese Menschen der Ukraine auch ihr Existenzrecht absprechen und Putins Lesart folgen, dass deren  Unabhängigkeit sozusagen ein blöder Fehler in einer Phase der Schwäche des russischen Imperiums war, der endlich korrigiert werden muss. Ob man das Gebiet direkt an Russland angeliedert oder sogenannte „Volksrepubliken“ gründet, die von Russland abhängig sind, ist fast das Gleiche, wie die einstigen Sowjetrepubliken und das vorgelagerte Feld mittelosteuropäischer Staaten belegen, die Regierungen von Russlands Gnaden hatten, wie zum Beispiel die DDR.

Wie Teile der Linken sich hier entblößen, wird einen Folgeeffekt haben, den offenbar diese Strategen dann doch nicht bedenken oder sogar in Kauf nehmen: Die deutsche Form von links ist für Menschen, die an ein bisschen mehr Gerechtigkeit auf der Welt interessiert sind, nicht mehr wählbar. Gerechtigkeit heißt nämlich nicht Frieden um jeden Preis. Ich stelle mir gerade vor, in Russland hätte man sich 1941 entschlossen, Hitler einfach das Land erobern zu lassen, weil das ja viel weniger Menschenleben gekostet hätte. Ohne Frage, das hätte es, aber die übelste aller totalitären Diktaturen hätte gesiegt. 

Es wird aber seitens Russlands vom  „Großen vaterländischen Krieg“ gesprochen.

Das ist in sofern ehrlich, als das Nationalgefühl in dem Moment eindeutig die internationale Solidarität der Arbeitenden überlagert hatte. Zwei verbrecherische Systeme in einem tödlichen Ringen, nachdem sie zwei Jahre zuvor noch zusammen in einem Handstreich Polen unter sich aufgeteilt hatten. Und jetzt will man Putin mit dem gleichen Appeasement zu weiteren Taten locken, das sich schon bei Hitler als keine gute Idee herausgestellt hat. Ich verstehe sehr wohl, warum man 1938, in einem noch kriegsmüden Europa, versucht hatte, einen neuen Krieg zu vermeiden und auch heute versucht, die Schäden zu begrenzen. Doch wenn der Begriff Pazifismus dazu missbraucht wird, in Wirklichkeit einen Angriffskrieg zu legitimieren, dann muss Schluss sein mit der Unterstützung politischer Gruppierungen, die uns unter falscher narrativer Flagge genau das verkaufen wollen.

Schluss mit persönlichen Konsequenzen?

Die gab es bei mir im Januar dieses Jahres. Als hätte ich geahnt, dass der dickste Klops noch kommen wird, nämlich die unverhohlene Begeisterung vieler hiesiger Linker für den Usurpator Putin. Da kann ich noch eher die (meist gar nicht „linken“) russischstämmigen Menschen in Deutschland verstehen, die in Autokorsos unterwegs sind. Nicht meine Welt, nicht meine Welle, aber das Gefühl der Zugehörigkeit und viel Propaganda seitens Putin & Co. können zu solchen unangenehmen Erscheinungen führen, zumal in einer Demokratie.

Diesbezüglich sage ich auch: Ob der ukrainischen Führung und ihrem diplomatischen Frontkämpfer Andrij Melnyk es passt oder nicht, wir haben hier viele Menschen, die sich Russland nah fühlen. Von der deutschen Linken erwarte ich jedoch mehr als eine rein emotionale, auf den persönlichen Wurzeln fußende Handlungsweise. Ich erwarte ein echtes Nachdenken darüber, welcher Art von Gewaltpolitik man hier unter dem Label Pazifismus das Wort redet. Was ich aber vor allem erwarte: Dass die ideologische Verkrustung endlich aufgebrochen wird, die dazu führt, dass die Glaubwürdigkeit dieser Leute so miserabel ist, dass sie der gesamten linken Sache massiv schaden, der ich mich nach wie vor verbunden fühle. Ich bin auch kein Fan der ukrainischen Regierung, ebensowenig, wie ich jemals Putin-Fanboy war. Man sollte überhaupt vorsichtig sein, zu sehr in die Fanposition in Bezug auf Politiker:innen zu gehen, das habe ich in den letzten fünf Jahren einmal mehr feststellen müssen.

Wie soll man denn mit der Ukraine umgehen?

Sie trotzdem aktiv unterstützen, denn was wäre die Alternative? Ein Freund Putin, der sich in seinem imperialistischen Bestreben bestärkt sieht.

Ist die Ukraine es denn „wert“?

Wir dürfen nicht immer unsere eigenen Maßstäbe anlegen, wenn es um die Regierungen anderer Länder geht. Manchmal aber schon, zum Beispiel das Gedeihen der EU betreffend, an dem wir alle interessiert sein sollten. Ich bin nicht dafür, dass jetzt eine Art Kriegsbonus-Beitrittsperspektive in die EU für die Ukraine herbeigeredet wird. Es muss jedem auffallen, wie sehr sich z. B. Polens Politik auf einen solchen Beitritt freut, sofern nicht doch noch jemand nachrechnet, dass der Zugang der armen Ukraine dazu führen würde, dass Polen viel weniger aus den EU-Töpfen erhalten würde als bisher. Aber mit der Ukraine all-in gäbe es ein gewichtiges Land mit über 40 Millionen Einwohnern mehr, das in seinem aktuellen Zustand in Sachen Demokratiegestaltung am unteren Ende der EU-Skala anzusiedeln wäre und mit dem zusammen man prima weiter an der Rechtsstaatlichkeit sägen könnte. Nicht mehr das Ringen um Verbesserungen, sondern eine Tendenz zu mehr Autoritarismus wäre die Folge, wenn man für die Ukraine Ausnahmen macht und sie nicht erst einen guten demokratischen Weg gehen lässt.

Das ist aber eine andere Ebene als das Selbstverteidigungsrecht, das jedem Volk zugestanden werden muss. Ich erinnere daran, dass es auch in der Linken Menschen gibt, die unter großen Schmerzen, aufgrund der für die Linke so prekären Lage ziemlich durch den Wind, so war mein Eindruck, genau dies sagen; z. B. Gregor Gysi bei Maischberger in der vorigen Woche. Mir sind das Herumwürgen und die Fahrigkeit, die aus dieser Bredouille resultieren, allemal sympathischer, als diese ideologischen Hardliner grausames Zeugs schreiben zu sehen, die alles andere als Pazifisten sind.

Was sind sie denn exakt?

Sie sind autoritär und hätten gerne eine Diktatur, anders ist ihr Putinismus und auch ihre meist synchrone Unterstützung für Chinas Politik nicht zu deuten. Viele von ihnen waren übrigens auch von Donald Trump gar nicht so wenig begeistert, weil sie ihn für einen Russlandfreund hielten. Dass sich Putin und Xi über ihn lustig machten und was er in den USA angerichtet hat, who cares?

Wenn es so kommen sollte, dass demokratieferne Systeme sich mehr und mehr durchsetzen, brauchen wir uns hier nicht mehr über moderne, solidarische Projekte, brauchen wir uns nicht mehr über Selbstermächtigung oder echte Sozialisierung im Kleinen oder gar über mutig angegangene Veränderungen des Systems Gedanken zu machen. Dann haben wir nämlich zu tun, was Herren wie Putin und Xi sagen, und wenn wir nicht mitmachen, kann es böse für uns enden. In China sicher derzeit mehr, aber Russland holt seit Jahren in Sachen Faschisierung auf. Eine Friedensbewegung, die das alles super findet, hat für mich jeden ethischen Boden, jeden antifaschistischen Anspruch verloren.

Es stimmt nämlich nicht, dass ohne Frieden alles nichts ist. Ein Frieden, der durch das Joch zu bitter erkauft wurde, ist Mist und bringt für viele Menschen ebenso viel Leid wie ein Krieg. Das wissen tatsächliche Antifaschisten auch. Muss ich wirklich noch einmal an 25 Millionen Tote und noch mehr Versklavte in Russland erinnern, die nicht dem Zweiten Weltkrieg, sondern Stalins Säuberungswahn geschuldet sind? Wer solche Regime und die weltweite Entwicklung in diese Richtung fördern möchte, soll es ehrlich sagen und sich auf eine verdammt feige Art hinter dem Begriff Pazifismus verstecken. 

Ist das nicht jetzt etwas dick aufgetragen?

SW spricht ja auch davon, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine einen Atomkrieg auslösen. Das finde ich nun dick aufgetragen. Wer droht denn ständig mit dem Einsatz von Atomwaffen, um den Menschen im Westen Angst zu machen? Und wer nutzt es aus? Solange die NATO nicht selbst aktiv eingreift, wird es keinen Atomkrieg zwischen der NATO und Russland geben. Wenn Putin so durchdreht, dass er den roten Knopf drückt, weil er in der Ukraine rasch nicht genug vorankommt, dann werden wir alle dran glauben – aber ganz ehrlich, ob durch diese Sache oder eine andere: Wenn jemand so weit geht, dann wäre die Alternative wirklich nur, ihm alles zu geben, was er will, und das nicht nur in Sachen Ukraine.

In vielen Belangen unterscheiden sich Hitler und Putin selbstverständlich, aber nicht darin: Wenn die imperiale Erfolgslogik erst einmal in Kraft getreten ist, dann zieht sie immer schneller immer weitere Kreise. Es ist entsetzlich, dass wir wieder so weit sind, dass darüber diskutiert werden muss, es ist ganz und gar aus der düsteren Vergangenheit, aber wir können nichts ausschließen. Wir können aber auch dann nichts ausschließen, wenn wir Putin die Ukraine zum Fraß vorwerfen, in der Hoffnung, dass sein Hunger danach nie zurückkehren möge. Das wird er nämlich doch, nach dem, was wir nun wissen. Leider. Da ist es die bessere von zwei miesen Möglichkeiten, ihn gar nicht erst zu sehr anzufüttern. Mir widerstrebt es schon, dass er sich die rohstoffreichen Gebiete in der Ostukraine einverleiben könnte, aber ich fürchte, damit müssen wir rechnen, ebenso mit der Verstetigung der Krim-Situation. Danach muss aber Schluss sein, sonst wird dieser Mensch die Welt in Atem halten und mit der Atomdrohung erpressen, solange es ihm beliebt.

Den westlichen Teil der Ukraine könnte man mit massivem Widerstand gegen Putins Truppen immerhin noch in die fortbestehende Unabhängigkeit retten. So viel auch zu einem Verhandlungsfrieden, bei dem die Ukrainer:innen viel, viel werden einstecken müssen, so tapfer sie sich auch wehren.

Wie sieht es mit künftigen Osterdemos aus?

Wenn ich den Eindruck habe, sie werden nicht von Menschen vollkommen dominiert, die auf dem Auge russischer Verbrechen vollkommen blind sind, gehe ich vielleicht mal wieder mit. Heute war ich lieber auf dem Tempelhofer Feld und habe mir die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Das fand ich allemal ergiebiger, als mich über diese Leute schon wieder ärgern zu müssen. 

So wie jetzt.

Ich wusste, dass dieser Artikel sein muss, dass er raus muss. Eigentlich wäre er gestern fällig gewesen, aber ich habe ein wenig Zeit mit Durchatmen zugebracht, weil ich im Moment wirklich angefressen bin. Da geht es ja nicht um dies und jenes im Rahmen demokratischer Spielregeln, was man kompromissweise ausverhandeln kann, sondern um die politische Persona, die ein jeder von uns ist oder sein sollte, um Identität und Charakter. Ich verliere beim Schreiben nicht gerne vollends die Fassung und habe vorsichtshalber einen Tag zwischen dem Lesen des neuesten Übergriffs von SW auf die Selbstständigkeit der Ukraine und dieser Quasi-Replik verstreichen lassen.

TH

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