Frontpage | Geopolitik | Die SPD, Kanzler Scholz und die richtige Haltung im Krieg
Liebe Leser:innen, haben Sie auch das Gefühl, dass wir uns über die Regierungspolitik in der aktuellen Krise etwas ernsthafter unterhalten sollten, als die meisten Kommentator:innen und leider auch viele Politiker:innen das tun? Dann laden wir Sie zu zwei Umfragen und ein paar Betrachtungen ein.
Im Moment schlagen fast alle anderen auf die SPD ein, auf Kanzler Scholz, auf Präsident Steinmeier und man lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, die gesamte moderate Politik der SPD gegenüber Russland in den letzten Jahrzehnten und am besten gleich die ganze Entspannungspolitik seit Willy Brandt in die Tonne treten zu wollen. Aber dafür war diese historische Wende der 1970er zu groß, sie passt nicht in die Tonne der stumpfen Kriegstreiber:innen. Sie war seinerzeit visionär und trug letztlich dazu bei, dass in der Wendezeit ein Grundvertrauen auf allen Seiten herrschte, das u. a. die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Sicher ist die Frage spannend, was mehr bewirkt hat, die Rüstungseskalation der 1980er oder die Friedenspolitik der 1970er, Wandel durch Annäherung oder Abschreckung auf einem Niveau, das der Ostblock letztlich wirtschaftlich nicht mehr mitgehen konnte. Wichtig für das Verhältnis zu den Nachbarn und für das damalige innerdeutsche war die Entspannungspolitik allemal, denn sie brachte den Menschen konkrete Vorteile. Wie die DDR Willy Brandt diesen Annäherungsversuch, eine Politik des gegenseitigen Respekts, gedankt hat, ist bekannt, aber deswegen war nicht der politische Ansatz falsch.
Das war er im Grunde nicht, solange Russland keinen Krieg begann und solange auch der Westen gute Gründe hatte, sich seine geopolitischen Verfehlungen anzuschauen. Die Liste dieser Verfehlungen ist lang, vor allem, wenn man verdeckte Operationen hinzurechnet, die nicht in einen offenen Krieg mündeten. Aber es ist momentan müßig, aufzurechnen, momentan muss die Ukraine ihr Selbstverteidigungsrecht anerkannt bekommen und dafür benötigt sie Unterstützung. Die Welt wäre grundsätzlich viel friedlicher, wenn nicht jeder damit beschäftigt wäre, Bothsiding zu betreiben, sondern jeden einzelnen Fall von Völkerrechtsverletzung gleichzubehandeln. Manchmal lohnt der Vergleich aber dennoch, zum Beispiel, wenn sich auf dieselben Rechtsinstrumente berufen wird: Der jetzige Hilferuf der Ukraine an den Westen ist im Prinzip genau das, was Syriens Machthaber Assad auch gemacht hat, als er die Russen dazu einlud, Aleppo zu bombardieren, beispielsweise und überhaupt, ihm beim Machterhalt so gut wie möglich zu helfen. Haben die Russen danach gefragt, ob dies ein Machthaber ist, dem man zu Hilfe kommen sollte, ein netter Mensch, ein guter Demokrat, oder hat man rein geostrategisch gehandelt?
Letzteres ist wohl ziemlich eindeutig und genau so darf es der Westen jetzt auch sehen, wenn er der Ukraine hilft. Zumal deren Bevölkerung offensichtlich mit großer Mehrheit hinter ihrer Regierung steht. Damals hieß es vonseiten der Putinisten immer: Ein Staat darf das, andere Staaten zu Hilfe rufen! Hingegen sei die Intervention des Westens in Syrien rechtswidrig, denn das syrische Regime habe darum keineswegs gebeten. Diese Argumentation darf sich der Westen jetzt gerne zunutze machen, mit weitaus mehr Anspruch darauf, den Menschen in der Ukraine zu helfen, als es damals in Sachen Assad und Syrien der Fall war. Und in beiden Fällen wird es, wenn es in der Ukraine auch dazu kommt, Russland sein, das „dreckige Waffen“ einsetzen wird, nicht der Westen. Wenn der russische Außenminister Lawrow jetzt von der Gefahr eines Dritten Weltkriegs spricht, kann man sich schon fragen, wer steht für was? Ein solcher Atomkrieg kann nur von Russland ausgehen, niemals wird der Westen einen Erstschlag führen. Wenn wir in einer Sache in diesen unruhigen Zeiten sicher sind, dann in dieser.
Eine Eskalation ist trotzdem möglich, zum Beispiel: Putin lässt die Ukraine mit taktischen Atomwaffen angreifen und der Westen schlägt gegen Russland konventionell zurück. Eine solche Bewegung halten wir nicht für vollkommen ausgeschlossen. Weil das so ist, muss man sich an die besten Bestandteile der vergangenen Außenpolitik erinnern und die Werkzeuge einer guten Diplomatie verwenden, um sich nicht als ein Land hervorzutun, das diesen Großkrieg mit ausgelöst hat. Es steht Deutschland nach wie vor gut an, eine Spur zurückhaltender zu sein als andere westliche Staaten, die eine andere Geschichte und andere geopolitische Interessen haben. Der Ukraine trotzdem zu helfen, ist ein Balanceakt, der allergrößtes Verantwortungsgefühl erfordert. Nun fragt aber Civey Sie und uns:
Ist die aktuelle Kritik an der früheren Russland-Politik der SPD Ihrer Meinung nach berechtigt?
Der Begleittext von Civey:
Die SPD steht derzeit für ihre frühere Russland-Politik in der Kritik. Unter der Doktrin „Wandel durch Annäherung” verfolgte die SPD seit den 60er-Jahren lange das Ziel, einen gesellschaftlichen Transformationsprozess in Russland herbeizuführen. Auch der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2, ein Herzensprojekt von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD), wurde lange damit begründet und nur als privatwirtschaftliches Projekt betrachtet.
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk macht u.a. den damaligen SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier für die jetzige Situation verantwortlich. Der heutige Bundespräsident räumte Fehler seiner Partei ein. Er sei damit gescheitert, „Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden“. Auch andere Parteimitglieder wie Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, sprechen sich für eine Aufarbeitung der SPD-Russlandpolitik aus.
Der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) wies die harsche Kritik Melnyks zurück. Dem Spiegel sagte er, sowohl Steinmeier als auch Altkanzlerin Angela Merkel hätten „mehr als alle anderen in Europa“ dafür getan, die Ukraine zu unterstützen. Grünen-Politiker Anton Hofreiter forderte laut ZDF indes die gesamte „verfehlte deutsche Russlandpolitik“ von SPD und CDU der letzten Jahre aufzuarbeiten.
Wir haben mit „eher nein“ gestimmt. Jetzt zu sagen, alles war falsch, weil Putin die Geduld verloren hat, auf das Niveau mag sich der Hofreiter Toni begeben, wir tun das nicht. Ohne Russland wird es auch künftig keinen Frieden in Europa geben, wie man gerade wieder sieht, und es wurden einige gute Chancen zu mehr Annäherung verpasst. Angela Merkel hat zwar 2008 verhindert, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen wird und klar kann man sagen: Wäre das der Fall gewesen, hätte sich Russland nicht 2014 die Krim geschnappt und nicht 2022 den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Aber der jahrelange Widerstand des angloamerikanischen Blocks gegen eine Annäherung der Kontinentaleuropäer an Russland sollte dabei nicht unterschlagen werden. Anstatt den großen Wurf zu landen und Russland auf faire Weise an den Westen anzubinden, hat man die Regierungen dieses Landes, schreiben wir’s deutlich, permanent zu verarschen versucht.
Diese Vorgeschichte ist ganz gewiss nicht vorrangig der SPD anzulasten und das macht deren Politik verteidigungswürdig. Außerdem hat 16 Jahre lang eine CDU-Kanzlerin die deutsche Außenpolitik immer selbst gemacht, wenn ihr ein Thema wichtig genug erschien, der etatmäßige Außenpolitiker Steinmeier von der SPD war da eher eine Randfigur. Deswegen wirken kriegstreibende Einlassungen der CDU in der aktuellen Lage besonders skurril. Es wird mal wieder darauf gesetzt, dass die Menschen ein verdammt schwaches Gedächtnis haben. Aber alles, was Merkel 16 Jahre lang außenpolitisch for the better or worse getan oder unterlassen hat, ist erst ein paar Monate her. Das ist zu wenig, um aus ihrem Umfeld jetzt schon außenpolitisch auf die Pauke zu hauen.
Der Wind beginnt sich aber zu drehen. Wir registrieren vermehrt Kommentator:innen, die Scholz‘ vorsichtiges Agieren nicht als Führungsschwäche auslegen, so, wie wir das schon vor ein paar Tagen getan haben. Wir freuen uns, dass die Töne nicht mehr ganz so schrill und unausgewogen sind. Natürlich: Gibt es ein neues Butscha, geht die Hetze von vorne los und wieder werden unter dem Deckmäntelchen des Entsetzens über diese Kriegsgräuel diejenigen, die selbst einen sehr kriegerischen Charakter haben, darunter erstaunlich viele Grüne, Kanzler Scholz versuchen vor sich herzutreiben. Wir könnten wetten, keiner dieser Typen hat auch nur „gedient“ und die Gefahr eines Krieges zumindest anhand seiner aktuellen eigenen Tätigkeit und anhand eines wenigstens denkbaren Verteidigungsfalles überprüfen müssen. Deswegen sind auch deutsche Militärs vorsichtiger bei der Lagebewertung als deutsche Ökobauern mit Kriegsbemalung (das zornige Rot steht ihnen gut, weist aber auf ein wenig vertrauenerweckendes emotionales Gepräge in einer so schwierigen Lage wie dieser hin) und andere devastierte Persönlichkeiten. Auch der nicht gerade als menschenfreundlich bekannten FDP sollte man lieber nicht folgen, wenn sie plötzlich mal wieder die allgemeine Freiheit zugusnten der Ukraine ins Feld führt, die sie sonst nur dem Kapital zubilligt. Sie, wir alle sind es nicht, die in der Ukraine ihr Leben opfern für diese Freiheit, deswegen sollten hierzulande einige sich wirklich selbst die Zügel etwas mehr anlegen. Oder sie sollen in die Ukraine gehen und mitkämpfen. Kein Witz, keine Polemik.
Mit unserem „eher nein“ sind wir in der Minderheit, aber das ist okay so. Unsere Leser:innen hingegen bitten wir, auszuforschen, was tatsächlich hinter dem Kriegsgeheul einiger steckt. Vielleicht eine schon lange vorhandene Aversion gegen den paneuropäischen Ausgleich, die durch eine Gehirnwäsche in irgendeinem transatlantischen Cluster verursacht wurde? Wäre es möglich, dass es einigen gar nicht um die Freiheit der Ukraine, sondern um Geostrategie geht, wie immer, wenn „Werte“ propagiert werden, aber auf höchst einseitige Weise? Die Argumente, die wir oben im Kreuzvergleich Syrien-Ukraine erwähnt haben, kann man nämlich genauso gut gegen den Westen anwenden: Von Vietnam bis in den Irak, von der Unterstützung oder gar Mit-Etablierung kruder Diktaturen bis zur Destabilisierung beinahe des halben Nahen Ostens zieht sich eine Spur der Verwüstung und der miesen Manipulationen durch die westliche Politik, die leider jede ethische Argumentation in Sachen Ukraine als Quatsch erscheinen lässt. Von beiden Seiten, wohlgemerkt, auch der russischen. Schon gar nicht aber zieht dieses angeblich wertebasierte Gekreische gegenüber jemandem, der versucht, so vernünftig wie möglich in dieser schrecklichen Lage zu handeln, und das tut Olaf Scholz gerade.
Was jetzt zählt, ist daher nicht mehr der große ethische Wurf, sondern wie das Selbstverteidigungsrecht eines Volkes sinnvoll unterstützt werden kann. Mit der Betonung auf sinnvoll und der Ergänzung mit maßvoll. Noch einmal: Deutschland muss da nicht ganz vorne stehen. Es gibt dazu keinerlei Anlass. Es würde gerade noch fehlen, dass andere heimlich viel mehr tun, es aber so aussieht, als wenn Deutschland der größte Kriegstreiber wäre. Wir müssen hierzulande immer berücksichtigen: Gleich, wie sich die heimische Politik verhält, mit Vorwürfen, die mit der deutschen Vergangenheit zu tun haben, kann man uns allzu gut triggern und die hiesige Politik selbst dann diskreditieren, wenn sie aus dieser Vergangenheit die richtige Konsequenz gezogen ha: Nicht immer an vorderster Front zu stehen, wenn es in neue Kriegsabenteuer geht. Vielfach hat sich außerdem in den letzten Jahren erwiesen, dass das Mitmachen unter der Flagge anderer, unter Übernahme von deren Narrativen, am Ende mehr Frust und Rechtfertigungsdruck erzeugt hat als das kritische Fernbleiben, siehe den Vergleich Afghanistan / Irak.
Das böse Gesicht der SPD gibt es natürlich auch, und dazu die zweite Umfrage:
Sollte Altkanzler Gerhard Schröder Ihrer Meinung nach aus der SPD ausgeschlossen werden?
Der Begleittext vo Civey:
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) fordert den Parteiausschluss Gerhard Schröders aus der SPD. Schröder sprach sich jüngst in der New York Times gegen den Krieg in der Ukraine aus, verteidigte aber den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Massaker in Butscha müssten aufgeklärt werden, er bezweifle aber, dass Putin den Befehl dafür gegeben hätte. Wüst bezeichnet das Interview als „verstörend”.
Die SPD-Spitze forderte Schröder bereits Anfang März auf, seine Mandate bei den russischen Energiekonzernen Rosneft und der Nordstream 2 AG aufzugeben. Laut New York Times würde er die Posten nur aufgeben, wenn Russland Deutschland und der EU das Gas abdreht. Mittlerweile verlangen vier SPD-Verbände seinen Parteiaustritt. Ein Parteiausschluss-Verfahren ist dem NDR nach bereits im Gange.
Aufgrund dieser Interview-Äußerungen fordert jetzt auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko Sanktionen des Westens gegen den Altkanzler, zum Beispiel das Einfrieren dessen Konten. In der Bild begründete er: „Alle diejenigen, die weiterhin für Kriegsverbrecher Putin arbeiten, müssen hart sanktioniert werden.“ Als Teil des russischen Systems sei Schröder mitverantwortlich für die dort verübten Gräueltaten.
Wir haben uns gesagt: Wer sind wir, dass wir der SPD hierbei Vorschriften zu machen haben? Klar, wir sind Wählende. Wir könnten sagen: Nie wieder SPD, wenn Schröder bleibt. Wir haben die SPD aber auch bisher noch nie gewählt, insofern wäre auch das unehrlich. Wir haben die SPD auch deshalb nie unsere Stimmen gegeben, weil es eben Typen wie Schröder in ihr gab, die dafür gesorgt haben, dass dieses Land brutaler und unfreundlicher wird, ganz so, wie sie selbst gestrickt sind. Die Menschen, die Schröder einst gewählt haben, müssen sich mit ihm nun auseinandersetzen. Uns überrascht seine Haltung, anders als Putins Krieg, nicht wirklich. Wer dem Mann nicht ansieht, dass er ein wüster Egomane und Zyniker ist, der kann keine Gesichter lesen. Nicht bei allen Menschen kommt der wenig erfreuliche Charakter so gut in der Physiognomie zum Vorschein wie bei Schröder, das ist leider ein Problem. Wären die Zeichen immer so eindeutig, wären Menschen, von denen man, auch als Wähler:in, die Finger lassen sollte, viel leichter zu identifizieren.
Aber in den 2000ern wollten es die Leute so richtig auf die harte und brutale Art und sie kriegten, was sie wählten. Trotzdem muss man eines erwähnen: Er ist auch nicht über jeden Stock gesprungen, den irgendeine ruchlose US-Regierung ihm hingehalten hat, das hat Deutschland wenigstens vor einer weiteren Blamage, einem Fail im Irak, bewahrt. Möge es dem damals frisch auf den Plan der Weltpolitik getretenen Wladimir Putin gefallen haben, in diesem Fall ist daran nichts Falsches. Persönlich waren wir immer schon zu wenig überzeugt von Schröder, um ausgerechnet jetzt die Motten zu kriegen, weil er sich so verhält, wie er eben ist. Soll die SPD mit ihm oder ihn machen, was sie will, uns beeinflusst das nicht sehr und wir ziehen einen klaren Trennstrich zwischen ihm, seinem persönlichen Verhalten, und der aktuellen Politik der von seiner Partei geführten Bundesregierung unter Kanzler Scholz.
TH