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Liebe Leser:innen, wir haben heute wieder eine schöne Umfrage für Sie, die mal nichts mit Corona, dem Ukrainekonflikt etc. zu tun hat, wir kommentieren unterhalb des Begleittextes von Civey:
Sollte in der Literatur Ihrer Meinung nach „geschlechtergerechte Sprache” verwendet werden?
Debatten über Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache gibt es in der Politik, Medien und aktuell auch in der Literaturbranche. Es wird diskutiert, ob und wie verschiedene Geschlechter sprachlich stärker berücksichtigt werden sollten. Für sogenannte „geschlechtergerechte“ Bezeichnungen wird etwa das Gendersternchen („Politiker*in“), die gleichzeitige Nennung weiblicher und männlicher Formen oder das Binnen-I („PolitkerInnen”) benutzt.
Kürzlich klagte eine Kunsttherapeutin gegen einen Verlag, der ohne ihr Einverständnis einen ihrer Artikel genderte. Der Bild zufolge habe der Verlag etwa das Wort „Zeichner“ zu “zeichnende Person” geändert, um den Text geschlechtergerecht zu gestalten. Das Gericht gab der Autorin Recht. Der Verlag musste daraufhin die Online-Version des Artikels mit den Änderungen löschen und den Großteil der Prozesskosten tragen.
Elke Heidenreich ist eine bekannte Gegnerin des Genderns, das ihr zufolge die deutsche Sprache verhunze. Belletristik-Lektorin Katharina Gerhardt plädiert im RND indes für eine Abwägung je nach Kontext. Während geschlechtsneutrale Formulierungen in einem Roman des 19. Jahrhunderts sinnlos erscheinen, wäre es in einem der Jetztzeit durchaus angebracht. Für Verlegerin Annette Michael ist derweil ein anderer Umgang mit Sprache notwendig, wenn man die Welt verändern wolle – etwa in puncto Sexismus.
Kommentar:
Das musste kommen. Wir haben es erwartet oder vielmehr befürchtet. Und dieses Mal gehen wir nicht mehr mit, genau wie derzeit 80 Prozent aller Abstimmenden, die mit „eindeutig nein“ votiert haben. Viel mehr als bei unseren journalistischen Artikeln, bei denen es vor allem um die Veröffentlichungsgeschwindigkeit geht, suchen wir bei fiktionalen Texten sehr intensiv nach einer guten Sprache, nach der besten, treffenden, zum Rhythmus, zum Sujet passenden Formulierung. Und irgendwann muss es gut sein mit dem Verhunzen der Sprache, das sich vor allem Menschen wünschen, die einen stark destruktiven oder dekonstruierenden Ansatz verfolgen, indem sie andere ihrer besseren schriftlichen Ausdrucksfähigkeit berauben wollen. Außerdem: Wo soll das enden? Wird jetzt bis zum Mittelalter zurück bei Neuübersetzungen alles gegendert? Und wenn jemand einen historischen Roman schreibt, muss er:sie:div. in eine frühere Epoche hinein gendern, auch wenn dadurch die Sprache komplett aus ebenjener Zeit gefallen wirkt?
Wir haben kein Problem mit dem Gendern unserer bürgerjournalistischen Texte, wir sind immer vorne dabei, wenn es zu Neuentwicklungen kommt, innerhalb weniger Jahre haben wir deshalb vom Unterstrich zum Stern zum Doppelpunkt gewechselt. Doch es gibt Grenzen, die auch mit dem Respekt vor der Sprache zu tun haben. Blöd für manche, dass im Deutschen eben Geschlechterkennungen enthalten sind als zum Beispiel im Englischen mit seinem einzigen Artikel, aber wer diese Eigenart, die ja auch Vorteile besitzt, vermeiden will, der soll bitte in Englisch schreiben. Das haben wir uns für bestimmte Zwecke ebenfalls überlegt, aber bisher davon abgesehen, denn man merkt es eben doch, wenn jemand kein „Native Speaker“ ist, und da kommen wir zur Authentizität und zur Literarizität der Sprache.
Je wichtiger Erstere, je höher Letztere ist, desto eher halten wir es für mindestens ein Vergehen, ihren Klang mit Gendern zu zerstören. Nur 5 Prozent der Abstimmenden haben aktuell mit „eindeutig ja“ geantwortet. Diesen Typ kennen wir aus dem politischen Raum, und, ganz ehrlich, mit diesen Charakteren ist keine wirkliche Gleichstellung und kein besseres Miteinander zu organisieren, siehe oben. Vielmehr ist der Ansatz dieser sehr ausgrenzend und anti-inklusiv ausgerichteten Personen auf persönliche Durchsetzung gerichtet, auf eine Machtverschiebung weit über den zugewandten Status quo hinaus; koste es, was es wolle, sogar eine einigermaßen ästhetische Sprache.
Mit der Sprache aber steht und fällt auch eine wichtige Eigenschaft, die Zivilisation und Kultur ausmacht. Deswegen sind wir entschieden wie selten gegen das Gendern literarischer, insbesondere fiktionaler Texte. Falls Sie noch nicht abgestimmt haben: Tun Sie bitte uns allen einen Gefallen, helfen Sie, wenigstens einen kleinen Überrest von Sprachästhetik zu erhalten. Es sieht ohne Gendern in der überwiegenden heutigen Literatur schon recht beschämend aus, die Sprachqualität betreffend. Man muss die Zerstörungswut gerade deshalb an irgendeiner Stelle stoppen. Das Gendern von Literatur ist eine wichtige Grenze, sie zu einzureißen, lässt es nicht mehr zu, weiterhin flüssig, u. a. unter Verwendung des für das betreffende Substantiv vorgesehenen Geschlechts, literarisch schreiben zu dürfen.
Man kann durch bestimmte Formulierungen allzu viele Sterne, Doppelpunkte, Binnen-I etc. vermeiden, aber bereits das ist ein erheblicher Eingriff in die Freiheit der Ausdrucksweise. Wir müssen heute ja selbst dann, wenn wir historisieren, auf andere Tatbestände aktueller politischer Korrektheit achten, was ebenfalls erhebliche Einschränkungen bei der Epochen-Authentizitätsvermutung mit sich bringt, aber vielleicht wär’s doch möglich, in Deutschland wenigstens ein einziges Mal nicht übers Ziel hinauszuschießen. Worauf es ankommt, ist der respektvolle miteinander Umgang im Alltag, und da produzieren mittlerweile ganz, ganz viele, die sich für super woke halten, einen Ausschluss nach dem anderen und eine neue Ungerechtigkeit nach der anderen.
Das Gendern hat bisher daran gar nichts geändert. Im Gegenteil, die Spaltungen, die auch in einer zwischen den Milieus immer mehr auseinander driftenden Sprachverwendung bestehen, vertiefen sich in großem Tempo weiter. Selbstverständlich erreicht man neues Denken auch über eine gute, inklusive Sprache, aber wer überhaupt Literatur konsumiert, hat das heutzutage in der Regel verstanden, ohne dass es ihm ständig in längeren Texten unter die Nase gerieben wird. Im Gegenteil, die innere Rebellion für eine vollkommen konfus und desolat wirkende Sprache kann zu Aggressionen führen, die sich gegen die dem Grunde nach richtige Sache der Achtsamkeit und Diskriminierungsfreiheit im täglichen Umgang wendet. Freund:innen der schönen Sprache werden verstehen, was wir meinen, auch und gerade, wenn sie sehr woke sind. Hoffen wir wenigstens.
Hier sprechen wir ohnehin nur von einer bildungsorientierten Minderheit; bei den meisten Menschen reicht es nicht einmal bis zum Zweitbuch. Das ist keine Polemik, das sind Erfahrungswerte aus einem Job, der uns in sehr viele sehr unterschiedlich strukturierte und aufgestellte Haushalte geführt hat. Am Lesen müsste mehr gearbeitet werden, daran, dass Menschen überhaupt wieder flüssig lesen lernen und Freude beim Lesen empfinden. Das fängt i den Elternhäusern an und geht in der Schule weiter. Man begünstigt mehr Leseverständnis aber gewiss nicht damit, dass Menschen von jedem Satz mit mehreren gegenderten Wörtern und der dadurch bedingten größeren Umständlichkeit und Gleichförmigkeit der Sprache traktiert werden.
Sollte in der Literatur Ihrer Meinung nach „geschlechtergerechte Sprache” verwendet werden?
TH