Crimetime 1110 – Titelfoto © SFB / RBB
Der Erste, der Schnellste, der Kürzeste
Der Boss ist eine Folge der ARD-Krimireihe Tatort. Die vom Sender Freies Berlin (SFB) produzierte Episode wurde erstmals am 19. Dezember 1971 im Deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Kriminalhauptkommissar Erwin Kasulke hat es in seinem ersten Fall mit einer Serie von Pelzdiebstählen zu tun.
Fünf Jahre nach dem Entstehen des Entwurfs und mehr als 50 Jahre nach der Erstausstrahlung präsentieren wir eine Kritik zum ersten Berlin-Tatort. In einer Form, die es heute ebenfalls nicht mehr gibt, wie auch die Ermittler:innen von damals längst Geschichte sind. Der 13. Tatort war vielleicht kein gutes Omen als Startnummer für die Berlin-Schiene, denn immer wieder kam es in der Folge zu Qualitätsproblemen. Immerhin kann der erste hiesige Tatort für sich in Anspruch nehmen, seine Geschichte in noch weniger Spielzeit zu erzählen, als sie damals beim DDR-Polizeiruf üblich war (56 Minuten gegenüber einer üblichen Spielzeit von 60-65 Minuten in den ersten Jahren der Polizeirufe). Dafür war er schon in Farbe und die Sektorengrenze kommt darin vor, wie es sich für den Starter in der geteilten Stadt gehört.
Der folgende Berlin-Tatort war „Rattennest“ (1972), dann folgten drei Jahre Pause und ein neues Team.
Handlung (1)
Achim und Peter arbeiten als Fliesenleger auf dem Bau. Die Beiden lernen abends in einer Diskothek zwei Mädchen kennen und protzen vor ihnen mit ihren Autos. Als eines der Mädchen auf der Spritztour zu viert einen Unfall durch Peter provoziert und der Wagen in die Auslage eines Pelzgeschäfts kracht, erkennt Achim die Gunst der Stunde und steckt einen teuren Pelzmantel ein.
Nachdem es Achim gelungen ist, diesen teuer zu verkaufen, kommt er auf die Idee, gewerbsmäßig Pelzdiebstahl zu begehen. Die Coups der Bande, zu der sie auch den ehemaligen Kürschner Uwe gewinnen können, werden immer größer und Achim immer leichtsinniger. Er beginnt, mit den Diebstählen und seinem neuen Reichtum zu prahlen und einen Pelz an seine Vermieterin zu verschenken. Der Rest der Bande beschließt daraufhin, Achim loszuwerden. Nachdem sie die Vertriebswege der gestohlenen Pelze herausgefunden haben und Achim somit nicht mehr brauchen, schmieden sie einen perfiden Plan, um Achim zu töten.
Die Inhaltsangabe enthält im Folgenden die Auflösung:
Sie machen ihn betrunken, suggerieren ihm, die Polizei sei hinter ihm her, so dass er mit seinem Boot über die Havel entlang der Sektorengrenze fliehen müsste. Heinz, der mit Achim im Boot sitzt, animiert Achim, auf die DDR-Grenzsoldaten zuzufahren und auf sie zu schießen. Heinz springt kurz vor der Sektorengrenze aus dem Boot, und Achim wird wie geplant von den DDR-Grenzern erschossen.
Kriminalhauptkommissar Kasulke, der die Pelzdiebstahl-Serie aufklären soll, war Achim bereits auf der Spur und wartet mit seinem Kollegen vergeblich bei Achims Auto am Ufer auf diesen. Dessen ehemaligen Komplizen fahren währenddessen mit Peters Wagen davon und sind sich uneinig, ob sie mit den Pelzdiebstählen weitermachen sollen.
Regie Peter Schulze-Rohr, Drehbuch Johannes Hendrich
Besetzung Paul Esser: Erwin Kasulke, Kriminalhauptkommissar Hugo Panczak: Achim Heribert Sasse: Uwe Ronald Nitschke: Peter Christian Böttcher: Heinz Elke Aberle: Alexandra Barbara Hampel: Karin Gerhard Dressel: Assistent Günther Dockerill: Schtach Inge Wolffberg: Elli Gerhard Wollner: Chef Peter Schiff: Polizeibeamter Magdalene von Nußbaum: Zeugin Gustl Bayrhammer: Kommissar Veigl
Anni und Tom über „Der Boss“
Anni: Ick bin so stolz! Berlin war mal echt die schnellste Stadt Deutschlands. Die komplette Geschichte einer Diebesbande in 56 Minuten erzählt. Aber das war ja auch 1971, heute bräuchten sie 5 bis 6 Stunden dafür.
Tom: Und die schlampigste Stadt, mit Abstand. Von den Charakteren der Diebe und ihren Aktionen über die mehr als rudimentäre Polizeiarbeit bis hin zu Pelzändlern, die nachts ihre Ware im Schaufenster hängen lassen, obwohl die Einbruchserie das Megathema in der Presse ist. Die Handwerker machen nur miese Qualität und offenbar wollte man auch die Berliner Filmkunst nicht überfordern, deswegen hat man erst mal ein Tatort-Experiment mit 56 Minuten angesetzt, anstatt sich an einen echten 90-Minüter zu trauen.
Anni: Die frühen Tatorte waren oft etwas kürzer. Okay, so kurz doch nicht ganz. Du hattest mal über einen Film von 71 Minuten Dauer geschrieben und gemutmaßt, das war wohl der kürzeste aller Tatorte. Da hast du nicht mit uns Berliner_innen gerechnet. Aber ich finde es stark, dass der RBB nun auch endlich seine alten Sachen restauriert bzw. die des Teil-Vorgänger-Senders SFB und dass sie dabei so authentisch bleiben. Das Bild ist zwar HD, aber die Tönung wirkt original und das Format wurde, anders als in Hessen, wo sie die alten Filme auf Breitwand gezogen haben und sie außerdem noch so komisch digitalpixelig wirken, auch im 4:3 belassen. Woran man sieht, dass Berlin heute zwar langsamer ist, andere Sender haben längst ihre Alt-Tatorte gezeigt, aber dafür ist die Filmindustrie hier wieder at top, qualitativ.
Tom: Und was für ein gigantisch weiter Weg dazwischen lag. Berlin als schludrige Subventionsstadt kommt echt gut rüber und du merkst das auch heute noch. Als ich vor zehn Jahren hierherzog, konnte ich kaum fassen, wie niedrig zum Beispiel das handwerkliche Niveau hier ist.
Anni: Auch im Westen wurde während des Baubooms in den frühen 1970ern geschlampt ohne Ende. Und wer ist der Boss, das fand ich amüsant. Zunächst dachte ich, der Chef von Achim und Uwe, der seine Leute kaum zum Arbeiten kriegt, wegen Arbeitskräftemangel. Ich dachte, Achim bringt seinen Chef jetzt gleich wegen des geklauten Boilers um und die Polizei fängt an zu ermitteln. So hätte es sich gemäß Tatortmuster gehört, vorausgesetzt, man legt den Film als Howcatchhim an und nicht als Whodunit.
Tom: Was ja bei den frühen Tatorten gar nicht so selten war. Aber nee, der Mord kommt erst am Ende und die Polizei hätte man eigentlich weglassen können. Ich glaube, das Drehbuch lag irgendwo in der Schublade und wurde noch schnell auf Tatort gepfriemelt, typisch Berlin halt. Obwohl, das sei mal gesagt, der Tatortmacher Nr. 1 seiner Zeit, Peter Schulze-Rohr den Film inszeniert hat.
Anni: Schulze-Rohr hat aber meist eher produziert als inszeniert, Heinz Schirk, der hier als Produzent genannt wird, hingegen normalerweise eher Regie geführt. War das eine herrliche Zeit, da durfte noch jeder alles, sich ausprobieren und so. Was ja auch für die Schauspieler_innen gilt. Dieser Hugo Panczak, der den Achim mit der wundervollen Frisur gespielt hat, der hat in der Wiki nicht mal eine eigene Seite. Zu Recht, finde ich. Mann, spielt der amateurhaft.
Tom: Die Rolle ist ja auch entsetzlich. Den Drehbuchautor müssten man bestrafen, und das hat man auch getan. Jener Johannes Hendrich hat nämlich ebenfalls keinen eigenen Eintrag in der Wikipedia. Für unsere Leser. Wir heben das hervor, weil es doch eher ungewöhnlich ist, dass deutsche Fernseh- und Filmschaffende da keine eigene Seite besitzen. Das sagt also durchaus etwas über den Rang der Beteiligten. Bei den Darsteller_innen möchte ich aber eine Ausnahme machen. Elke Aberle.
Anni: Richtig. Da wusste ich noch nicht, dass dieses böse Wesen die süße Kleine aus Heinz Erhardts „Witwer mit fünf Töchtern“ oder „Vater mit neun Kindern“ ist, und Elke Aberle war ein richtiger Kinderstar, ein großes Talent. Das merkst du auch hier, sie spielt hintergründiger und differenzierter als alle anderen zusammen. Bei ihr weißt du nicht, ob sie zur Polizei geht, um die Belohnung zu kassen, ob sie anfängt, die Bande zu erpressen, weil sie weiß, was die Jungs machen oder sogar versucht, an den Hehler ranzukommen. Die anderen sind so flach, dass du unendlich viele davon in dieser Altbauwohnung stapeln kannst. Und daran siehst du, dass es nicht nur am Drehbuch liegt, denn alle mussten ja nach demselben Buch ihre Dialoge sprechen und ihre Mimik und Gestik nach derselben Regie steuern.
Tom: Also, wenn ich jetzt so aus Berlin gebürtig wäre, wäre mir dieser Start-Tatort etwas peinlich.
Anni: Ja, aus deiner Heimatstadt kam ja der zweite Tatort überhaupt und das war auch nur ein umgepfriemelter Fernsehfilm, der noch schnell in die Reihe integriert wurde. Toll. Okay, besser als „Der Boss“ war er schon. Trotzdem. Also, dann dachte ich, der Boss ist der Hehler, nachdem der Fliesenleger-Unternehmer nicht bossig genug war und ausschied, und dann wurde erst klar, dass damit Achim, der selbsternannte Boss der Bande gemeint ist. Wow!
Tom: Und eigentlich hat sich selbst bei den Delikten nicht viel geändert. Nur, dass die Räuber heute absichtlich mit den Autos in die Schaufenster fahren. Bei der Bande war’s noch Zufall und hat deren regelmäßige Tätigkeit erst ausgelöst. Eigentlich ist das so übel nicht gemacht, wie aus Zufall aus ein paar dummen Jungs und ein paar ganz normalen Mädchen, die einfache Jobs haben – Pralinen-Einlegerin!, sowas gab’s wohl nur im subventionierten Berlin – ein richtiger Mob wird. Und die Zonengrenze mitten in Berlin bzw. am Westrand von Berlin haben sie auch noch eingebaut und genau mit der den Mord ausgeführt. Selten eine so unlogische Mordszene in einem Tatort gesehen.
Anni: Ja, schön wär’s, wenn die OK heute so knuffig wäre wie dieser Bubis und ihre Bräute oder Beinahe-Bräute. Fand ich übrigens so cool, wie der Achim der Alex einen Mantel geschenkt hat, damit die ihn endlich mal ranlässt und dann macht sie keine Anstalten dazu.
Tom: Die frühen Tatorte haben oft solche Banden gezeigt, und die Mitglieder waren oft ziemlich einfach gestrickt. Ob man das gemacht hat, um sie nicht zu attraktiv erscheinen zu lassen oder auch als tragische Figuren, wie in den amerikanischen Films noirs, weiß ich nicht, aber irgendwas sagt mir, dass das nicht so weit weg war von der Realität. Dass solche Typen gefasst werden wegen ihre Prahl- oder Putzsucht, das gab es ja wirklich. Und diese Einbrüche sind ja nicht intelligent, sondern verlangen nur etwas Chuzpe. Okay, der erste richtig ausgespähte mit dem Pelzlager, der ging dann in die Richtung, wie die zentralen Coups in Heist-Movies angelegt werden, ein Subgenre, das aus Verbrechersicht gefilmt ist, genau wie dieser Tatort. Und gerade, weil es da so viele gute Filme gibt, hätte man aus diesem Tatort echt mehr machen können. Sogar in Berlin.
Anni: Jetzt isses mal gut mit Berlin. Ja, auch die heutigen Tatorte von hier sind noch nicht die absoluten Highlights, Ritter und Stark haben auch ewig gebraucht, bis sie mal wirklich überzeugende Filme machen durften, und dann Roiters legendäre Tatorte, die als die schlechtesten aller Zeiten gelten. Aber: Markowitz!
Tom: Die Tatorte mit Günter Lamprecht mag ich auch, aber sie waren auch seine persönliche Idee, das beinahe alleinige Werk eines 1A-Künstlers. Und selbst die sind nicht alle nur hochklassig und haben sich dann in die andere Richtung entwickelt, nämlich zur Überlänge. Berlin und die Mitte finden ist wohl nicht so einfach.
Anni: Jetzt geht das schon wieder los. Nein, ich will nicht auf dieses Niveau und über die besonders mittig-mittelmäßigen Südwestdeutschen mit ihrer spießigen Aura lästern. Wir sind hier eben nicht perfekt,. Das wissen wir, damit leben wir, dazu stehen wir. Aber es macht Spaß mit uns. Sonst würde jemand wie du ja nicht so viel mit jemand wie mir über einen so kurzen Tatort wie diesen diskutieren.
Tom: Also, ich gebe 5/10. Mehr ist leider nicht drin. Und sieh es von mir aus als kleinkarierte SW-deutsche Besserwisserei an. Und bei den 5 ist schon ein Bonus für das Zeitdokumentarische drin. Obwohl es sehr speziell …
Anni: Berlinbezogen ist. Genau. Ich gebe aber auch nicht viel mehr. 5,5/10. Wir wissen schon, wo’s hakt, wir wollen es nur nicht grundlos ändern. Und ich freu mich trotzdem riesig auf die weiteren Tatorte aus der alten Berliner Zeit, die der RBB uns während der Sommerpause, in der keine Tatort-Premieren stattfinden, noch zeigen wird. 46 Jahre Tatort in Berlin. Und diese Entwicklung von diesen Typen von 1971 hin zu Karow und Rubin heute, und wie sich die Filme optisch und inszenierungsseitig verändert haben. Was hätten die Leute wohl 1971 gesagt, wenn sie so einen heutigen Berlin-Tatort gesehen gezeigt bekommen hätten?
Tom: Dass die Autos irgendwie komisch aussehen, hoffnungslos überstylt und nicht so cool wie Achims gelber Matra.
Anni: Und sie würden nichts verstehen. Tatorte, die über vier Folgen angelegt sind und so kompliziert, dass sie selber den Faden nicht mehr finden – okay, ich weiß, jetzt kommt wieder. Typisch Berlin, mehr gewollt als gekonnt. Nicht? Du schweigst? Ich bin verblüfft. Und auch das Wording von heute. Und wie sich die Leute so zwielichtig und angedeutet verhalten und unterhalten, diese unendlich vielen Zwischentöne. Das wäre damals gar nicht gegangen. Nee, wäre nicht gegangen.
Tom: Trotzdem gab es damals schon richtig gute Tatorte. Aus Kiel zum Beispiel. Anderer Stil als heute, aber damals schon gut.
Anni: Ich weiß, ich weiß. Die künstlerische Fallhöhe zwischen „Die Reifeprüfung“ und „Der Boss“ ist atemberaubend.
5,5/10
© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2017)
(1) und kursiv: Wikipedia