Frontpage | Wirtschaft | Containerschiffe stauen sich vor Europas Häfen
Ein Problem hat der frei drehende und auf hochgefährliche, viel zu starke Weise expandierende Finanzkapitalismus nicht: Dass es zu Stauungen kommt und Geschäfte deshalb nicht abgewickelt werden können. „Wir schaffen das schon“, sagen die Datenleitungen. Vielleicht wächst diese virtuelle und in Teilen voodoomäßige Wirtschaft auch deshalb so ungebremst: Weil es bisher nicht zu technischen Panne kam, weil es keine natürlichen Limits zu geben scheint.
Anders sieht es dort aus, wo für Menschen wirklich wichtige Produkte hergestellt, transportiert und ausgeliefert werden. Bereits seit dem Beginn der Corona-Pandemie kommt es zu Störungen verschiedener Art, seit Monaten macht ein besonderes Phänomen auf sich aufmerksam: Der Stau von Containerschiffen vor den Häfen der Welt, die nicht entladen werden können und Probleme in den Lieferketten verursachen. Zunächst ging es um China, speziell um Shanghai, als Grund wurde der harte Lockdown im April benannt. Auffälligerweise ohne Begründung dann das, was Statista vor neun Tagen in einer Grafik dargestellt hat, die Nordseehäfen der Niederlande, Belgiens und Deutschlands betreffend. Grund genug für uns, der Sache etwas mehr nachzugehen und damit die Tradition wieder aufzunehmen, dass wir Wirtschaftsstatistiken mit weiteren Recherchen unterfüttern. Zunächst die beiden Statistiken und die Begleittexte dazu:

Vor den europäischen Häfen Rotterdam und Antwerpen stauen sich derzeit Tank- und Containerschiffe. Das zeigt die Statista-Grafik auf Basis eines aktuellen Kartenausschnitts von FleetMon, einem Online-Trackingportal für Schiffe. Auch weiter nördlich vor der Elbmündung liegen eine Reihe von Frachtschiffen fest und warten darauf, in den Hafen einlaufen zu dürfen. Der Kartenausschnitt veranschaulicht, dass die Weltwirtschaft aktuell wieder stärker unter Verzögerungen der Containerschifffahrt leidet.
Laut dem vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) erhobenen „Kiel Trade Indicator“ stecken in der Nordsee vor den Häfen Deutschlands, Hollands und Belgiens derzeit knapp zwei Prozent der globalen Frachtkapazität fest. Die betroffenen Schiffe können laut IfW weder be- noch entladen werden. „In der deutschen Bucht warten etwa ein Dutzend große Containerschiffe mit einer Kapazität von insgesamt etwa 150.000 Standardcontainern auf das Anlaufen in Hamburg oder Bremerhaven. Vor den Häfen Rotterdam und Antwerpen ist die Lage noch dramatischer“, teilte das IfW mit.
Auch vor dem Hafen von Shanghai und der angrenzenden Provinz Zheijang stauten sich seit Wochen Fracht- und Containerschiffe, wie diese Statista-Grafik zeigt. Grund für den Stau war der harte Lockdown, den die chinesische Regierung über die Stadt verhängt hat. Von diesem waren auch die Hafenmitarbeiter betroffen, weswegen der größte Hafen der Welt derzeit mit deutlich weniger Personal auskommen musste. Bis vor kurzem litt die gesamte chinesische Wirtschaft unter teilweise drakonischen Corona-Beschränkungen. Nach deren Lockerungen geht es nun wieder aufwärts. Die Ausfuhren legten im Mai deutlich zu.
Fleetmon nutzt zur Darstellung des Verkehrsaufkommens die Automatic Identification Systems (AIS) Signale der Schiffe. Diese werden in der Schiffahrt zum Austausch von Navigationsdaten via Funk genutzt. Jedes Schiff über 20m muss ein AIS Signal ausstrahlen. Es sendet unter anderem Rufnamen, Schiffstyp, GPS-Position, Abmessungen und ähnliche Daten.
Und hier die Darstellung aus dem April 2022 zum Stau vor Shanghai:

Vor dem Hafen der chinesischen Metropole Shanghai stauen sich viele Fracht- und Containerschiffe. Das zeigt die Statista-Grafik auf Basis eines aktuellen Kartenausschnitts von FleetMon, einem Online- Trackingportal für Schiffe. Grund für den Stau ist der harte Lockdown, den die chinesische Regierung über die Stadt verhängt hat. Von diesem sind auch die Hafenmitarbeiter betroffen, weswegen der größte Hafen der Welt derzeit mit deutlich weniger Personal auskommen muss.
Die deutsche Industrie stellt sich wegen eines Schiffsstaus im weltgrößten Containerhafen in Shanghai auf möglicherweise schwerwiegende Folgen ein. Industriepräsident Siegfried Russwurm sagte der Deutschen Presse-Agentur in Berlin: „Die deutsche Industrie befürchtet in den kommenden Wochen gestörte Produktionsabläufe. Getroffen sind vor allem Branchen, die auf Rohstoff- oder Bauteillieferungen sowie den Versand ihrer Fertigprodukte über Seetransporte angewiesen sind.“
Gemessen am Containerumschlag ist der Hafen in Shanghai der größte Hafen der Welt. 47 Millionen TEU (Twenty-foot Equivalent Unit, Maßeinheit für Containergrößen) wurden im vergangenen Jahr dort umgeschlagen. Der größte europäische Hafen befindet sich in Rotterdam – dort wurden 15,3 Millionen TEU umgeschlagen. In Deutschland verzeichnete der Hamburger Hafen den größten Güterumschlag. Rund 8,7 Millionen TEU wurden dort 2021 umgeschlagen. Damit liegt der Hamburger Hafen deutlich vor den Häfen von Bremerhaven und Wilhelmshaven. Einen Überblick über die größten Frachthäfen der Welt gibt diese Statista-Grafik.
Fleetmon nutzt zur Darstellung des Verkehrsaufkommens die Automatic Identification Systems (AIS) Signale der Schiffe. Diese werden in der Schiffahrt zum Austausch von Navigationsdaten via Funk genutzt. Jedes Schiff über 20m muss ein AIS Signal ausstrahlen. Es sendet unter anderem Rufnamen, Schiffstyp, GPS-Position, Abmessungen und ähnliche Daten.
Der Herr Russwurm, der sich oben äußert, ist übrigens derselbe, der gerade die Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden verlängern lassen will, vermutlich, weil zu viele Produktionsausfälle zu beklagen sind. Anderswo, zum Beispiel im erzkapitalistischen Großbritannien, wird an der Viertage-Woche als neuer Normalarbeitszeit ohne Lohneinbußen zumindest testweise gearbeitet. Hierzulande fordert das nur die Linke (28 bis 32 Stunden). Deutschland steckt bekanntlich noch in den 2000ern fest, als ein Herr Schröder der Industrie die Menschen für Niedriglöhne zum Fraß vorgeworfen hat. Vermutlich deswegen sind wir auf der Suche nach den oben nicht gelieferten Erklärungen für den Stau vor den europäischen Nordssehäfen auch darauf gestoßen, dass das Handelsblatt schon vorab einen möglichen Hafenarbeiter-Streik in Deutschland verantwortlich machen will. Zumindest dafür, dass es noch schlimmer werden könnte. Haben Sie inzwischen etwas von diesem Streik gehört? Wir nicht.
Eine weitere Ursache könnte an Deutschlands Küste in den nächsten Tagen noch hinzukommen. Am 10. Juni startet die dritte Verhandlungsrunde der Gewerkschaft Verdi mit den Hafenbetreibern, wodurch Arbeitsniederlegungen zu erwarten sind. Zwar kam es am Dienstag noch nicht zu den befürchteten Warnstreiks, in den Häfen verteilte die Gewerkschaft jedoch Handzettel, die unter den Belegschaften für einen „Gesundheitstag“ am Mittwoch warb. Vor allem in Bremen und Hamburg rechnet man damit, dass dies den Betrieb weiter verzögern könnte. (Q)
Der Artikel enthält aber auch wertvolle Bestandteile, unter anderem eine Bezifferung von Schäden, die durch das Abweichen vom Just-in-Time-Prinzip und der damit verbundenen verstärkten Lagerhaltung seit Beginn der Corona-Pandemie entstanden sind (1,8 Millionen TEU anstatt der üblichen 400.000 Tonnen ohne Lieferkettenstörungen). Die Schöden werden mit ca. 40.000 Euro pro Container veranschlagt und damit auf 5-10 Milliarden Euro beziffert. Das klingt viel, ist es aber nicht. Allein im weltgrößten Containerhafen, ebenjenem von Shanghai, setzte im Jahr 2019 43 Millionen TEU umgesetzt (Q). Der Warenwert dieses Shanghai-Umsatzes müsste also gemäß obiger Berechnung bei 120 bis 240 Milliarden gelegen haben. Es ist daher immer wichtig, große Zahlen ins richtige Verhältnis zu setzen.
Der China-Lockdown hat vor allem die Verschwörungsteheoretiker ins Rotieren gebracht: Der Westen ist Mist und China ist super, so das gängige Narrativ in diesem Cluster. Wir werden insbesondere durch eine zu rigide Corona-Politik vom Staat gezwiebelt, mundtot gemacht, geknechtet und die Diktatur wird getestet. Wie aber nun mit China, das bei jedem kleinen Ausbruch sofort ganze Städte oder Regionen schließt? Das passt doch nicht zusammen. Die logische Interpretation wäre: China ist wohl doch die Diktatur unter den Systemen und die Politik macht, was sie will und begründet es auch noch damit, dass sie es kann, weil sie effizienter arbeiten darf als im Westen = ohne querdenkende Bürger:innen, beispielsweise. Der Schiffe-Stau vor Shanghai war demnach nur ein unwichtiger Kollateralschaden. Aber das alles passt überhaupt nicht zu den Spins der Verschwörungstheoretiker:innen. Wir liefern eine Antwort: China signalisiert uns im Westen auf diese Weise unsere Abhängigkeit von chinesischen Waren und das ist durchaus als Drohung zu verstehen. Die chinesische Wirtschaft war nämlich, rigide Regional-Lockdowns hin und her, die einzige der großen, warenorientierten Volkswirtschaften, die im Jahr 2021 noch gewachsen ist. Zumindest nach offiziellen Zahlen. Eine Warnung vor offiziellen Zahlen ist gerade bezüglich Chinas komplett von der KPCh bestimmten Mediendarstellungen immer angebracht.
Der Stau vor Shanghai hat sich aber mittlerweile aufgelöst, eine logische Betrachtung wäre also: Alles, was von dort nun kommt, staut sich in Europa, weil die hiesigen Kapazitäten nicht ausreichen, um die nachholenden Lieferungen aufzunehmen. Interessant in dem Zusammenhang auch, dass doch die Konsumstimmung bei uns so gedrückt ist, dass sich dies auch auf die Importe aus China auswirken müsste. Sehr wohl der Fall war das in den USA, weil sich die Importe aus Fernost aufgrund der Pandemieprobleme und aufgrund des Handelskrieges, den Trump angezettelt hatte, um etwa ein Viertel verteuerten. In den USA gibt es derzeit auch keinen Schiff-Stau mehr. In Europa aber müsste man erst einmal evaulieren, a.) ob sich die Stimmung schon auf den Warenkonsum auswirkt, wie stark und vor allem, welche Waren betroffen sind und b.) wie in welchem europäischen Land auf die neuen Herausforderungen durch die Inflation und den Ukraine-Krieg auf diese Probleme reagiert wird. In Deutschland sieht es z. B. so aus, dass leider (auch) am „falschen Ende“ gespart werden muss: Der Absatz heimischer Lebensmittel geht zurück, und das wirkt sich nicht auf die Importe aus Übersee aus.
Bei der Ursachenforschung gibt es vor allem Vermutungen. Die Öffnung des Hafens in Shanghai nach dem scharfen Lockdown ist daran allerdings nicht schuld. Die Containerschiffe sind mit ihrer Fracht nämlich noch unterwegs. (Q2)
Ein realistischer Grund für den Stau in den europäischen Häfen dürfte in der Tat sein, dass viele Container nicht abgeholt werden, weil die Importeure mehr Lagerhaltung betreiben, als es das Just-in-Time-Prinzip vorsieht: Um Engpässe gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Lager sind demnach also überfüllt, auch diese Spekulation stammt aus dem oben verlinkten Artikel. Man kann auch sagen: Die Waren stauern sich, die Gasspeicher sind viel zu leer. Alles ist irgendwie suboptimal geworden, und das, obwohl im Moment noch keine Krise auf den Finanzmärkten herrscht, die das Ganze weiter verschärfen könnte, weil dann auch mehr Unternehmen pleitegingen, denn das würde die Störungen in der Weltwirtschaft weiter verstärken.
Das Problem ist komplex und hat vor allem mit dem Hinterland zu tun, also den Containern, die abgeladen wurden. Die Kisten werden nicht abgeholt, die Stauräume aber sind begrenzt und die Häfen, egal ob Rotterdam, Bremen oder Hamburg, kommen kaum noch nach, die Frachtführer anzuschreiben.
Entsprechend haben sie schon zusätzliche Parkmöglichkeiten angemietet. Da Container aber normalerweise automatisiert bis zum Lkw gebracht werden, verzögert das die Lieferkette weiter. Ursache ist, dass europaweit hunderttausende Lastwagenfahrer fehlen, um die Container abzutransportieren. Und dann gebe es auch Kunden, die aufgrund Materialmangels zu viel bestellt haben und nun die Häfen als Lagerraum benutzen, heißt es beim Hamburger Hafenbetreiber HHLA. Die Standgebühren sind zwar hoch, aber als Ausweichmöglichkeit werden diese in Kauf genommen, anstatt die Ware im eigenen Unternehmen zu lagern.
Außerdem gibt es bei der Bahn Verzögerungen. 300 Güterzüge stehen regelrecht im Stau, teilweise mehr als 24 Stunden. Schon in den vergangenen Monaten hatte sich das Problem immer mehr verschärft. Nun aber ist die kritische Marke überschritten. Die Bahn saniert mit zusätzlichen Mitteln im Moment auf vollen Touren ihr marodes Schienennetz. (Q2, a. a. O.)
Noch etwas mehr in die Tief geht dieser Artikel (Q3) und beschreibt, wie die Logistiker der Frachtunternehmen mit der Situation umgehen, um sie etwas zu entspannen. Was wir nebenbei lesen: Viele Güterzüge seien für Lieferungen in die Ukraine reserviert. Ts, ts. Wer wird denn den Krieg jetzt auch noch für solche Probleme verantwortlich machen wollen? Kann denn Liebe Sünde und Wirtschaft so verflochten sein? Die neoliberale Handelsideologie, in der alles auf Kante genäht ist und die kleinste Störung den Schmetterlingseffekt in Gang setzt, ist in Krisenzeiten hochgradig riskant, auch wenn es deren Befürworter nicht wahrhaben möchten. Das gesamte System ist mittlerweile so durchrationalisiert und ausgequetscht, dass keine Reserven mehr für Störungen vorhanden sind. Zahlen müssen die Folgen am Ende die Verbraucher:innen, denn die Spekulanten und Händler verfolgen ganz aufmerksam, wie sich aus jeder dieser Störungen Kapital schlagen lässt und tun es, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Womit wir wieder am Beginn der Betrachtung angelangt wären.
TH