Mord im Orient-Expreß (Murder on the Orient Express, USA / GB 1974) #Filmfest 820 #DGR

Filmfest 820 Cinema – Die große Rezension

Außergewöhnliche Stars in Agatha Christies außergewöhnlichstem Fall

Mord im Orient-Expreß (Originaltitel: Murder on the Orient Express) ist ein britischer Kriminalfilm des Regisseurs Sidney Lumet aus dem Jahr 1974 nach dem gleichnamigen Roman von Agatha Christie aus dem Jahr 1934. Gleichnamige Filme erschienen 20012010 und 2017.

Istanbul ist der Startort des Orient-Express, in dem sich eine illustre Reisegesellschaft einfindet. In der zweiten Reisenacht ereignet sich ein Mord, kurz darauf muss der Luxuszug stehen bleiben, weil eine Schneelawine die Strecke versperrt. An Bord ist auch der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot, der vom Eigner des Eisenbahnunternehmens damit beauftragt wird, den spektakulären Mordfall noch vor der Weiterfahrt des Zuges zu lösen. Mehr zu diesem ungewöhnlichen Fall, der in einem ungewöhnlichen Film dargestellt wird, steht in der –> Rezension.

Handlung (a)

Der Film beginnt mit einer Collage aus Szenen, Zeitungsausschnitten und Kommentaren über den Fall eines kleinen Mädchens namens Daisy Armstrong, das im Jahr 1930 in den USA aus dem Hause ihrer Eltern, reicher und hoch angesehener Bürger, entführt und nach Zahlung des Lösegeldes tot aufgefunden wird.

Fünf Jahre später: Der belgische Detektiv Hercule Poirot hat gerade in Jordanien einen Fall abgeschlossen und reist übers winterliche Istanbul zurück nach London. Als er ein Abteil im Kurswagen Istanbul-Calais des nächsten Orient-Expresses buchen will, stellt sich heraus, dass der Zug ausgebucht ist. Mit Hilfe seines Freundes Signor Bianchi, des Direktors der Schlafwagengesellschaft, bekommt Poirot doch noch einen Platz im Schlafwagen. Im Speisewagen macht ihm der US-amerikanische Geschäftsmann Samuel Edward Ratchett folgendes Angebot: Poirot solle ihn für sehr viel Geld bewachen, denn er erhalte regelmäßig Morddrohungen und schlafe mit einer Waffe unter dem Kissen. Poirot lehnt das Angebot ab. Nachts wird Poirot mehrmals von merkwürdigen Geräuschen geweckt. Mitten in der Nacht zwischen Vinkovci und Slavonski Brod in Jugoslawien wird Ratchett durch zwölf Messerstiche ermordet und am Morgen tot aufgefunden.

Der Expresszug ist inzwischen auf freier Strecke auf jugoslawischem Gebiet im Schnee steckengeblieben. Keiner kann den Zug verlassen, auch der Mörder nicht. Der Telegraf streikt, und die jugoslawische Polizei kann nicht benachrichtigt werden. Daher bittet Signor Bianchi, der sich ebenfalls im Zug befindet, Hercule Poirot um die Aufklärung des Falles. Im Abteil des Toten findet Poirot einen halb verbrannten Brief, aus dem er auf die wahre Identität des Toten schließen kann. Es handelt sich um den Mafioso und Verbrecher Cassetti, der die kleine Daisy Armstrong entführt hatte und schuld an ihrer Ermordung und in der Folge an weiteren Todesopfern ist, sich aber der gerechten Strafe in den USA entziehen konnte.

Cassetti/Ratchett wurde mit zwölf Stichen getötet, die unterschiedlich tief sind und unterschiedlich kräftig ausgeführt wurden. Am Tatort werden außerdem ein Taschentuch und ein Pfeifenreiniger gefunden und in einem der Koffer der Mitreisenden die Uniform eines Schlafwagenschaffners.

Alle Menschen im Zug werden verhört, aber es befindet sich niemand an Bord, der zugibt, den gefundenen Pfeifenreiniger und das Taschentuch zu besitzen. (…)

Rezension

Das erste Statement: Selbst Agatha Christie konnte einen Fall wie „Mord im Orient-Express“ nur ein einziges Mal schreiben, denn hätte man aus diesem ganz besonderen Whodunnnit ein Muster gemacht, wäre dieses zu leicht auszurechnen gewesen. Als Einzelstück aber ist es einer der besten Krimis seiner Art – und eine der besten Agatha Christie-Verfilmungen (1).

Für Regisseur Sidney Lumet ein eher ungewöhnlicher Film, der weder mit New York noch mit der Justiz zu tun hat (2), aber grundsätzlich ist Krimi sein Fach und er hat diese klassische Detektivgeschichte klassisch inszeniert – mit einer in den 1970ern allerdings zeitgemäßen Note, was die hervorragende, zuweilen effektvolle visuelle Umsetzung angeht (für uns die schönste Bildszene des Films: Der Zug steht im Bahnhof und wartet auf die Abfahrt, die Kamera streicht an den prätigen Wagen und der Lokomotive entlang, die schon Dampf ablässt – fährt auf das obere der drei Lichter der Lok, das plötzlich anspringt und die Musik erhebt sich zu einem Abfahrts-Jubel. Das ist so nostalgisch und suggestiv und sehr romantisch für einen Film aus der ersten Hälfte der 1970er. Der gesamte Film ist romantisch angehaucht, auch wegen der Verstrickungen so vieler Menschen in einen Fall, der fünf Jahre zurückliegt. Das Szenario ist mehr als unwahrscheinlich, aber unter der Prämisse mit der erstklassigen Logik entwickelt, die Agatha-Christie-Romane und überhaupt englische Whodunnits traditioneller Prägung aufweisen. Es ist immer von Vorteil, wenn ein Drehbuch sich solcher Vorlagen bedienen kann und nicht Drehbuchautoren, die nicht Krimi gelernt haben, sondern nur Drehbuch studiert, einen Plot selbst entwickeln müssen.

Die folgenden Absätze enthalten bereits Angaben zur Auflösung, denn ohne die Auflösung detailliert zu würdigen, kann der Film nicht besprochen werden.

Es gibt auch kleinere Problemzonen wie die Zwölf Geschworenen als absichtlich nicht ganz einwandfreies Sinnbild für eine besondere Form der Selbstjustiz – wunderbarer Bezug auch auf Lumets berühmtesten Film. In Wirklichkeit sind aber 13 Personen an der Sache beteiligt. Die zwölf Reisenden und der Schaffner, ohne den die nächtliche Aktion nicht möglich gewesen wäre. Die Befreiung des Zuges per Schneepflug ist so nicht denkbar, wie sie im Film gezeigt wird und war 1935 auch nicht üblich. Erkennbar ist der Abfahrt-Bahnhof nicht in der Türkei (sondern in Frankreich), Kostüme, Haarschnitte, Bekleidungsdetails sind nicht immer zeitstimmig, die Kostüme der Damen, besonders, als die in den Zug einsteigen, teilweise fantasievoll, aber keine Reisekleidung der 1930er Jahre, auch nicht solche der Oberschicht. Man merkt hin und wieder, dass Lumet kein Spezialist für „Persiod Pieces“ war und nicht die Akribie etwa eines Francis Ford Coppola bei der Gestaltung der zeitspezifischen Details erreicht hat, die jener etwa zeitgleich in „Der Pate II“ verwirklichte oder die in anderen Balladen zum Tragen kam, die sich ab den 1970ern mit den 1920er und 1930er Jahren befassten.

Dafür hat er es geschafft, einen All-Star-Cast (andere Kritiken verwenden das Wort auch, aber es fiel uns schon während des Anschauens von „Mord im Orient-Express“ ein) in einem schmalen Zug so agieren zu lassen, dass es flüssig wirkt und nur wenige Fehler in der Continuity vorkommen, was gerade bei einem Film in beengtem Setting nicht einfach ist. Der Schnitt ist allerdings nicht oscarverdächtig, demgemäß war der Film auch in dieser Kategorie nicht nominiert.

Hingegen erhielt Ingrid Bergman ihren dritten Oscar für die Darstellung einer schwedischen Missionarin mit schüchtern-naiver Aura, die in Wirklichkeit ebenso am Mordanschlag auf einen amerikanischen Millionär beteiligt ist wie alle anderen Reisenden, die wir in diesem Film kennenlernen. Die Besetzung ist grandios, sicher eines der Erfolgsrezepte des Films, das in „Tod auf dem Nil“ vier Jahre später wiederholt wurde. Bei der Nil-Kreuzfahrt hat der wunderbare Peter Ustinov den Poirot verkörpert, was dem Detektiv beinahe unweigerlich eine andere Aura verleiht, als Alber Finney sie in „Mord im Orient-Express“ aufweist. Keine Frage, dass Ustinovs Spielweise uns eher die Identifikation erlaubt, während Finney seinen Poirot sehr der Romanvorlage entsprechend anlegt: Nämlich als keineswegs einfachen, sondern eher arroganten und etwas neurotischen Typ, dessen schnelle Kombinationsgabe ihm selbst nicht genügt, weshalb er sich auf eine geradezu narzisstische Manier immer wieder selbst in Regress dafür nimmt, dass er sich hier und da und dort hat blenden lassen und es so schrecklich lange gedauert hat (nämlich einen ganzen Tag), bis er das Puzzle des Ritualmordes zusammen hatte. Diese große Endszene ist ebenfalls Christie-Tradition, was Poirot angeht und typisch englischer Krimi: Alle Verdächtigen werden in einem Raum zusammengerufen und der Meister der Kombinationsgabe schwingt das Zepter und erklärt den Versammelten und dem Zuschauer den ganzen Fall. In „Mord im Orient-Express“ hat man noch ein paar Rückblenden eingefügt, damit jeder Zuschauer die vertrackte Konstruktion des Mordplanes erfassen kann.

Sicher war das gut so, obwohl wir unter anderem aufgrund unserer Schulung durch die Tatort-Anthologie mit mehr als 300 Rezensionen die Rückblenden nicht gebraucht hätten. Poirot selbst referiert auch über einen Punkt, der uns aufgefallen ist: Dass viele der Verdächtigten wahre Dinge preisgeben und unnötige Fehlinformationen liefern, anstatt einfach gar nichts zu sagen – ohne einige Aussagen, die im Zusammenhang ein Bild ergeben, wäre es Poirot nicht gelungen, den Fall so schnell zu lösen. Vor allem hätten die Menschen sich über ihre Verbindung zum Haus Armstrong locker ausschweigen können, schließlich gab es 1935 kein mobiles Internet, in dem Poirot hätte flugs die echten Biografien dieser teils prominenten Persönlichkeiten und deren Verbindungen ausforschen können. Aber auch 1935 musste man schon tricksen: Der Zugtelegraf ist ausgefallen, volià.

Alle diese Persönlichkeiten hatten Kontakt zur Familie Armstrong, deren kleines Mädchen 1930 entführt – und nach Lösegeldzahlung durch die Familie (oder schon zuvor, das lässt der Film offen) ermordet wurde. Eine ruchlose Tat, die insgesamt fünf Menschen in den Tod geführt hat. Alle zwölf oder dreizehn Beteiligten am großen Racheplan gehören entweder selbst zur Familie Armstrong oder standen ihr in Dienstverhältnissen nahe. Ganz eindeutig ist hier der Fall des Lindbergh-Babys Vorbild für die Ausgangskonstellation im Roman und im Film gewesen, der zu Beginn der 1930er Jahre die amerikanische Öffentlichkeit erschüttert hat. Die Art, wie diese Tat hier gezeigt wird und wie ihre Folgen beschrieben werden und wie all dies zu der wohl verblüffendsten Form von Selbstjustiz in der Geschichte des fiktiven Kriminalfalles geführt hat, leitet zu einer interessanten Frage, die wir uns schon gestellte hatten, bevor Poirot mit seinen Ausführungen zur Ermittlung durch war. Die wir uns stellen konnten, weil wir das Ende des Films bereits kannten:

Ist Selbstjustiz vertretbar? Sidney Lumet hätte diese Frage wohl in einem Film mit Original-Drehbuch verneint, hätte es sich um einen Film aus den 1950ern gehandelt, wo er so leidenschaftlich zwölf Geschworene um die Wahrheit in einem Mordfall ringen lässt und ein Hoch auf diese Form der Gerichtsgestaltung ausbringt, die freie Bürger in die Lage versetzt, als Laien über einen anderen Menschen zu richten und welche Verantwortung dies bedeutet. Nun kann man den Bogen allerdings auch so spannen: Haben zwölf Menschen, von denen jeder Einzelne Grund genug hat, dem Entführer, der sich als dreizehnter Reisender an Bord des Orient-Expresses befindet, den Tod zu wünschen, das Recht, sich selbst zu Geschworenen und Henkern in Union aufzuschwingen? 1935 gab es in allen europäischen Ländern noch die Todesstrafe, natürlich auch in den USA, insofern wäre das Ergebnis einer polizeilichen Ermittlung und anschließenden Verhandlung gegen den Entführer und Mord-Anstifter Ratchett kein anderes gewesen als das nämliche, wenn auch nicht per mehrfacher Erdolchung ausgeführt.

Dies leitet zu zwei Aspekten: Die zwölf ehrbaren Menschen, die hier ihrerseits ein Verbrechen begangen haben, haben dem vorgegriffen, was ohnehin geschehen wäre und gleichzeitig ihren Wunsch nach Rache befriedigt. Andererseits: Nun soll nach gar nicht mehr so modernem, sondern mittlerweile traditionellen Rechtsverständnis Rache keine Privatangelegenheit sein, auch die Berücksichtigung des Vergeltungsprinzips bei der Bestrafung von Verbrechern obliegt dem Staat. Der Alleinanspruch des Staates auf die Durchführung pönaler Sanktionen ist ein Teil unserer Zivilisation, den wir für ausgesprochen richtig und wertvoll halten.

Hercule Poirot entscheidet, den Schwindel mit der zusätzlichen Person an Bord, den die Rächer inszenieren, durchgehen zu lassen und ihn der Polizei zu verkaufen. Er macht sich das nicht leicht, aber man ahnt gleich, wie es ausgeht. Emotional ist man mit ihm und den Menschen, die ungeheures Leid, das ihnen und anderen zugefügt wurde, erlitten haben und sich in dem Moment, in dem sie den untergetauchten und mit neuer Identität in Europa lebenden Hauptschuldigen am Babymord und seinen Folgen in dem Moment in die Zange nehmen, in dem einer von ihnen den Mann aufspürt und ihm zunächst Drohbriefe schreibt (die, etwas sehr stilisiert, immer aus zwölf Buchstaben bestehen). Wer von den Zwölfen das ist, erfährt man nicht, dies ist aber auch nicht nötig für die Stringenz und das Verständnis der Handlung. Die Idee, dass sich alle untereinander verständigen und eine große Schauspielerin die Leitung der Aktion übernimmt, ist extravagant wie kaum ein anderer Christie-Krimi und in der Aufdeckungssequenz muss doch erwähnt werden, dass die Beteiligten bei der Entwicklung ihres Planes nicht damit rechnen konnten, dass ein so scharfsinniger Geist wie der beste Detektiv der Welt anwesend sein würde – weshalb ihre Aussagen auch nicht hundertprozentig aufeinander abgestimmt waren. Hätten sie im Grunde aber gar nicht sein müssen, denn jeder erzählt ja hier eine Story, die gerade unabhängig von den den Stories der anderen ist, da keinesfalls offenbar werden sollte, dass alle Reisenden einander schon kannten, bevor sie den Orient-Express bestiegen.

Es spielen die größten Stars mit, die insbesondere das britische Kino jener Zeit zu bieten hatte, aber auch die Amerikaner Richard Widmark als Bösewicht und Mordopfer sowie Anthony Perkins, der wieder einen kleinen Komplex hat, der seine Teilnahme an der Operation Dolchstoß mit begründet. Wenn  man einmal Norman Bates gespielt hat, kommt man von solchen Rollen nur schwer los. Schwierig, eine der Darstellungen herauszuheben. Wichtig ist natürlich der allpräsente Albert Finney als Hercule Poirot, weil aus seiner, der Sicht des Ermittlers erzählt wird. Mit Durchbrechungen bzw. Perspektivwechseln allerdings – vor allem zu Beginn des Films, nicht mehr ab dem Moment, in dem alle in den Orient-Express eingestiegen sind. Danach sehen wir nur noch das, was er mitbekommt und seine Befragungen – bis auf die Gesichter, wenn er sich abgewendet hat: Wenn man den Film schon kennt, ist es einfacher zu deuten, aber alle wirken seltsam betroffen, als er an Bord geht oder überagieren, später weiß man, warum. Ingrid Bergman muss man erwähnen, weil sie für ihre Rolle den einzigen Oscar bekommen hat, der dem Film zuteil wurde. Wäre schön gewesen, ihn im Original zu sehen, weil gewiss die Stimmführung wichtig ist, aber ob die Rolle oscarwürdig ist, darüber kann  man wohl streiten, allerdings war die Konkurrenz 1975 nicht so gewaltig wie in anderen Jahren und Hollywood hatte gegenüber Ingrid Bergman auch  nach dem Vergebungs-Oscar für „Anastasia“ (1956) noch immer eine Bringschuld zu erfüllen (3).

Bis auf Albert Finney als Poirot sind doch alle Stars mehr oder weniger Teil eines Ensembles und ordnen sich in dieser Funktion einerseits unter, bekommen aber von der Regie die Rollen zugewiesen, die ihnen Zitate früherer Rollen oder ihres Images erlauben. So ist die Darstellung der Bergman in einem ohnehin mit ironischen Untertönen versehenen Film ein Widerhall auf den Beginn ihrer Karriere, als sie wunderbar beseelte, aber manchmal auch etwas naive Menschen spielte (wie in „Gaslight“ [1943] die junge Frau, die von ihrem Mann beinahe in den Wahnsinn getrieben wird – wofür sie ihren ersten Oscar erhielt). Natürlich ist Lauren Bacall eine Schnellsprecherin und dominante Person, aktiv wie im Leben an der Seite von Humphrey Bogart (in den Jahren 1944-1957) man hätte sie aber auch  mal gegen Poirot gewinnen lassen dürfen. Der macht sich im Umgang mit ihrer Figur Mrs. Hubbard nicht sehr beliebt, weil er ihr nicht den Raum gibt, den sie doch erkennbar braucht, weil sie in Wirklichkeit ein Bühnenstar ist. Sean Connery spielt zwar mit derselben Autorität wie in seiner Bond-Rolle, aber er rastet auch einmal aus, was an seine intensive Darstellung als Polizist, der die Beherrschung verliert, in „The Offence“ gemahnt, in dem er drei Jahre vor „Mord im Orient-Express“, ebenfalls mit Lumet als Regisseur, gespielt hat (3).

Ein Film mit einer solchen Besetzung kann schon deswegen kaum langweilig sein, denkt man – allerdings gibt es auch Regisseure, denen das Kunststück gelang, große Besetzungen beinahe wirkungslos verpuffen zu lassen, daher wollen wir Sidney Lumets Leistung eher so betrachten: Er hatte sowohl die beengte Location als auch die darin eingepferchte Star-Horde gut im Griff und erlaubt sich nur wenige Schnitzer bei der Inszenierung.

Zudem hat der Film eine dichte Atmosphäre, die ihn unter die gelungenen Zug-Thriller einreiht, die erstaunlich viel Nostalgie-Gefühl erweckt. Es ist nicht diese Stimmung, als wäre man tatsächlich mitten in den 1930ern, die bietet das moderne Kino ganz selten, aber der Blick wird nostalgisch, und das heißt, wir haben den Zugang gefunden, trotz einiger irritierender Details, die wir bereits erwähnt haben. Wäre der Film ein Thriller, würden wir schreiben, er kommt beinahe an die Hitchcock-Zugthriller wie „Eine Dame verschwindet“ (1938) und „Der Fremde im  Zug“ (1951) heran – doch zum Thriller fehlt der Thrill, der etwa dadurch hätte realisiert werden können, dass die Vergeltungsbande nicht einfach gewartet hätte, bis Poirot ihnen ihre Verstrickung erklärt, sondern versucht hätte, ihn vorher um die Ecke zu bringen. Aber da dies ja alles im Grunde ehrenwerte Menschen sind, gehen sie nicht so weit, nach dem Gangster auch den Detektiv zu erdolchen.

Finale

Das Fazit und die heutige Rezeption? Wir finden den Film besser als seine Durchschnittsbewertung in der IMDb (7,3/10, wie alle Folgeinformationen Stand 08.06.2014). Besonders sehr junge Menschen und die Gruppe ab 45 Jahren werten etwas höher, wobei Ersteres üblich ist, Letzteres hingegen der Bemerkung wert. Auffällig ist, dass die Gruppe der „Top 1000-User“ der IMDb, die in der Regel eine ganze Ecke kritischer ist als das Durchschnittspublikum, den Film beinahe genauso hoch ansetzt wie ebenjener Durchschnitt, was darauf schließen lässt, dass erfahrene Filmbeobachter die Vorzüge ähnlich sehen wie wir. Kontrovers ist der Film nicht, Selbstjustiz-Thema hin oder her, dafür ist es wohl zu flüssig dargereicht, nur 0,5 % Nutzer, die mit (1/10) gewertet haben, sprechen für eine sehr harmonische Rezeption. Große Klassiker haben oft viel höhere Anteile an echten Feinden – wie sie zum Beispiel Ratchett nach Meinung Poirots haben müsste (5). Ein bisschen ist „Mord im Orient-Express“ auch ein Frauenfilm. Sie werten etwas höher als Männer (0,2/10) und wir verstehen, warum: Während Poirot in seiner Art für die meisten Männer keine Identifkationsfigur darstellen dürfte und es weitere positive Männerfiguren kaum gibt, spielen Frauen  hier tragende Rollen und es ist eine Frau, die das Komplott gegen Ratchett eingefädelt hat. Zudem rächen sich in diesem Film die Frauen stellvertretend für alle Mütter dieser Welt, die Angst haben, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte.

Wir bewerten „Mord im Orient-Express“ mit 8/10 – wie „Tod auf dem Nil“ (der nach Aufgabe der 1/10-Rasterung von 7,8/10 auf 8 aufgewertet wurde). Die beiden Filme haben eine unterschiedliche Atmosphäre, aber schauspielerisch und inszenierungsseitig sind sie von ähnlicher Qualität.

80/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

(a), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

  • Bisher haben wir für den Wahlberliner rezensiert:
    1. Alle vier Miss Marple-Filme aus den 1960ern:

– 16 Uhr 50 ab Paddington (1961)

– Der Wachsblumenstrauße (1963)

– Vier Frauen und ein Mord (1963)

– Mörder ahoi! (1964)

  1. Tod auf dem Nil, ebenfalls mit Hercule Poirot (hier gespielt von Peter Ustinov)
  2. Die Morde des Herrn ABC, ebenfalls mit Hercule Poirot (hier gespielt von …)
  • Hier die bisher rezensierten Filme von Sidney Lumet listen und „Die zwölf Geschworenen als ausstehend erwähnen
  • Nach ihrer Romanze und dann Heirat mit dem italienischen Regisseur Rosselini war die seinerzeit noch verheiratete Ingrid Bergman das gefallene Hollywood-Idol der späten 1940er Jahre, als konservative Strömungen über den Liberalismus zu dominieren begannen – und zu jener Zeit auch in die Kommunistenhetze mündete, die viele Hollywoodkarrieren, vor allem die von Drehbuchautoren, beendete oder unterbrach. Als die Bergman Mitte der 1950er wieder in die USA zurückkehrte, um Filme zu machen, war das auch ein Symbol für einen versöhnlicheren, moderneren Geist, der allmählich zurückkehrte und in den 1960ern die Zivilgesellschaft wesentlich veränderte. In dieser Zeit wurden viele Künstler rehabilitiert, die man vorher repressiv behandelt hatte.
  • „The Offence“ („Dein Leben in meiner Gewalt“) beim Wahlberliner.
  • Eine schöne Anspielung auf den weiteren Verlauf. Ratchett, von den erwähnten Drohbriefen geplagt, will Poirot für die damals enorme Summe von 15.000 Dollar als Leibwächter engagieren, wo dieser doch Detektiv ist und es nicht spannend finden kann, einen Fall zu verhindern, anstatt ihn dann aufzuklären. Das drückt er Ratchett (ohne die von uns beigefügte Begründung) aus. Dabei sagt er sinngemäß, er kann sich vorstellen, dass Ratchett eine Menge Feinde hat. Der reagiert irritiert, weil Poirot ja nicht wissen sollte und auch noch nicht weiß, wer dieser Mann wirklich ist. Aber dass er so viele Feinde im Zug hat, das wird hier auf eine witzige Weise schon angedeutet.  
Regie Sidney Lumet
Drehbuch Paul Dehn
Produktion John Brabourne
Richard B. Goodwin
Musik Richard Rodney Bennett
Kamera Geoffrey Unsworth
Schnitt Anne V. Coates
Besetzung

 

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