Crimetime 1123 - Titelfoto (c) RBB / EIKON Media GmbH, Gundula Krause
Eruption: Das Schattensystem im grellen Licht
Das Muli ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort, der erstmals am 22. März 2015 ausgestrahlt wurde. Es ist die 940. Folge der Reihe und der erste Fall des Berliner Ermittlerteams Rubin und Karow.
Vorwort 2017 anlässlich der Veröffentlichung der Rezension in „Rote Sonne 17“
„Die Rezension folgt der des aktuellen Berlin-Tatort „Amour fou„. Wir stellen in kurzer Folge alle vier bisherigen Filme des aktuellen Duos Rubin-Karow hier noch einmal vor. Die ersten vier bilden sozusagen eine Quattrologie, da es ihnen fortlaufende Handlungsstränge gibt, die erst im vierten Film aufgelöst werden. „
Einleitung 2015 anlässlich der Premierenrezension:
Es ist soweit. Lang erwartet, heiß ersehnt: Die Nachfolger von Felix Stark und Till Ritter treten ihren Dienst in Berlin an. Meret Becker spielt die Kommissarin Nina Rubin, Mark Waschke ist ihr Kollege Robert Karow. Ein „Muli“ ist eine Person, die Drogen nicht etwa als Gepäck auf dem Rücken transportiert, wie die Bezeichnung nahelegt, sondern inwändig, im Magen-Darmtrakt, um eine Kontrolle auszuschließen.
Haben sich die positiven Vorab-Kritiken bestätigt, welche weitgehend darauf abhoben, dass man nun unverstelltes Großstadtverbrechen zu sehen bekäme? Und, die Frage stellen wir zusätzlich, sieht man das Großstadtleben, wie es ist? Unsere Meinung dazu in der -> Rezension.
Handlung
Die Berliner Kriminalhauptkommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) lösen ihren ersten Fall
Die 13-jährige Jo (Emma Bading) irrt weinend durch die Stadt. Ihr älterer Bruder Ronny (Theo Trebs) lebt in einer geschlossenen Einrichtung für straffällige Jugendliche. Der panische Anruf seiner Schwester lässt Ronny keine Wahl. Obwohl er kurz vor der Entlassung steht, bricht er aus.
Robert Karow beginnt seinen ersten Arbeitstag in der Mordkommission an einem blutigen Tatort. Von der Leiche fehlt jede Spur. Ein grauenvoller Ort in einer leeren Ferienwohnung, in der Karow seiner neuen Kollegin Nina Rubin begegnet. Mit ihrem Assistenten Mark (Tim Kalkhof) und der jungen Hospitantin Anna (Carolyn Genzkow) beginnen Rubin und Karow zu ermitteln. Karow vermutet bald, dass es sich um einen Fall aus der Drogenszene handelt. Nina ist skeptisch, nicht zuletzt, weil ihrem Kollegen Karow ein fragwürdiger Ruf vorauseilt.
Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ronny und Jo fliehen vor ihren brutalen Verfolgern, auf einer Müllkippe wird eine Leiche gefunden. Als die Ermittler herausfinden, dass sich die Geschwister in einem leerstehenden Hotel auf dem Gelände vom Flughafen Berlin Brandenburg (BER) verstecken, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Rezension (mit Auflösung)
Der Flughafen Berlin-Brandenburg Willy Brandt (BER) schaut in diesem Film nicht wie die Verlockung einer schönen Zukunft aus, er wirkt nicht utopisch, was wer für uns alle hier längst ist, sondern wie das Relikt eines nicht eingelösten Versprechens einer schönen, neuen und sauberen Welt, Ausdruck des genauen Gegenteils, einer Dystopie. Die Einrichtungsgegenstände sind gestapelt, abgedeckt, wie in einem Haus, das verlassen oder nie bewohnt wurde und vor sich hinstaubt.
Ein einsamer Security-Mann kontrolliert des Nächtens das Monument menschlichen Fehlverhaltens und Größenwahns zusammen mit seinem Hund, zwei junge Menschen, Opfer der realen Lebens-Albträume, finden sich in einem beinahe grellweißen Zimmer wieder, dessen Bett sie benutzen können, bis das 13jährige Mädchen, das zweite Muli im Film, die Drogen ausgeschieden hat, die es in seinem zierlichen Körper transportiert. Sie und ihr Bruder sind auf der Flucht, denn es versteht sich, dass die Drogenmafia hinter ihnen her ist. Der Wert des inkorporierten Transports beträgt 40.000 Euro.
Das ist die Grundstory, die aber ein Gegengewicht erhält, weil die neuen Ermittler Karow und Rubin eingeführt werden müssen. Wir sehen bei der kleinen, nervösen Nina Rubin desaströses Privatleben, gerade auseinander brechend, so dicht und live wie bisher bei keiner Tatort-Kommissarfigur zuvor – und die erste Ermittlerin jüdischen Glaubens. Im Grunde ist Letzteres eine logische Fortsetzung der Tatsache, dass es bereits mehrfach muslimische Polizisten und Polizisten zu sehen gab. Wir wissen aktuell nicht, ob sich Menschen mosaischen Glaubens in dieser exponierten Weise in den Dienst des deutschen Staates stellen, wie Nina Rubin es tut, nehmen es aber mindestens als Ausdruck des guten Willens, wie er sich im Text der Berliner Polizei auf der Seite für interkulturelle Angelegenheiten wiederfindet:
Die Polizei Berlin ist auch einer der größten Arbeitgeber der Stadt. In der personellen Zusammensetzung sollte sich die Heterogenität der Bevölkerung abbilden und ein guter Umgang mit ihr gefunden werden. Eine interkulturelle Öffnung ist dabei z. B. durch die Akzeptanz und Förderung von Vielfalt in der Mitarbeiterschaft zu erreichen.
Wie auch immer sie religiös verortet ist, Frau Rubins Leben wirkt verdichtet, aber nicht unrealistisch. Dass sie gerade in dem Moment, in dem man uns ihren ersten Fall zeigt, in einer Trennungskrise steckt, sich mit ihren halbwüchsigen Jungs rumärgert, die bestimmt auch kiffen und von denen man nicht weiß, was sie sonst tun, wir haben’s alles gesehen, und dass anspruchsvolle, fordernde Jobs der Eltern das familiäre Klima nicht begünstigen, ist ebenfalls nicht neu, weil die Durchrationalisierung des Alltags im Doppel-Vollzeit-Verdiener-Milieu kaum Zeit fürs Verschnaufen lässt. Zumal, wenn beide Elternteile Schichtdienst haben, wie Viktor Rubin als Klinikchirurg und seine Frau als Polizistin bei der Mordkommission. Viel stressiger geht’s nicht.
Wir gehen aber davon aus, dass das Privatleben von Rubin die kommenden Filme nicht mehr so stark prägen wird wie „Das Muli“. Wir sind generell der Meinung, dass das zu Buche stehende Verbrechen im Vordergrund stehen sollte, auch wenn die pötzliche Sexszene beeindruckend war, die wir zunächst für einen Vergewaltigungsversuch hielten. Der Zuschauer bekommt aber ein kräftig gepinseltes Bild von der neuen Dienststellen-Leiterin, und das ist der aktuelle Stil der Tatort-Reihe.
Das Bild des Kollegen Karow hingegen wirkt charakterlich sehr dezidiert, doch umso verwaschener, seinen beruflichen Hintergrund betreffend. Über ein Privatleben erfährt man gar nichts. Das Konzept lautet also, die Figuren kontrastreich einzuführen, und bei beiden viel Raum für Entwicklungen zu lassen. Uns erinnert das spontan an die Art und Weise, wie der Hessische Rundfunk einst die Ermittler Dellwo und Sänger platziert hatte, wobei wir nicht glauben, dass Karow demnächst bei Rubin & Söhne (oder Sohn, am Ende des Films) einziehen wird.
Karow kennt sich in der Drogenszene aus, steckt vielleicht mehr in seinem ehemaligen Job, als für den gegenwärtigen Job gut ist. Doch bei uns lief, als er die Mehmets dieser Welt zum vakanten Flughafen manipulierte, immer der Film mit: Das wird sich alles noch so aufklären, dass er der Gute ist. Alles andere ist undenkbar, weil er sonst seine Beamtenstatus verlieren würde. Es wäre eine Sensation, dass ein ein neuer Ermittler heutiger Prägung von Beginn an mit Dienstende geplant ist. Charakterlich hat er noch viel Luft nach oben, vielleicht fällt aber eine Last von ihm ab, wenn nach einigen Fällen sein persönlicher Fall gelöst sein wird.
Die jungen Schauspieler kommen ein wenig zu kurz, und es ist der Darstellung von Emma Bading als Jo zu verdanken, dass wir trotzdem ein Gesicht im Gedächtnis behalten und eine Person, die für die Ausbeutung im Drogenmilieu steht. Die Nachwuchsschauspielerin ist selbstverständlich nicht, wie ihre Figur in „Das Muli“, 13 Jahre alt, sondern 17, hat aber aber schon eine beachtliche Filmografie vorzuweisen und bringt das Mädchen aus der Schattenwelt hervorragend rüber, das beinahe stirbt, weil ihr Bruder ihr ein Abführmittel verabreicht, welches die Drogentüten in ihrem Körper platzen lässt.
Bei der Darstellung der Drogenmafia, an welche Jo geraten ist, geht es rasant und stylisch zu, mit lauter grimmigen LED-Scheinwerfern im nächtlichen Parkhaus und ebensolchen Gesichtern. An der Struktur des Business wagen wir Zweifel anzumelden, denn wir sehen einen türkischen Mann als Schlepper, der die Mädels ranbringt; der höhere Rang, der ihm Druck macht, als Jo abhanden kommt, ist Deutscher, der aber telefoniert auch wieder häufig mit einem Boss, den wir nicht zu sehen bekommen, ganz wie in gewissen Agentenfilmen.
Üblicherweise sind die Hierarchien eher ethnisch geschlossen und in Familienclans organisiert, des Vertrauens und des Zusammenhalts wegen. In diese Familien können sich auch V-Männer nicht so leicht einschleichen, wie möglicherweise Karows getöteter Kollege es getan hat – diesbezüglich fehlen uns noch Hintergründe. Große Geschäfte und Aufteilungsabsprachen gibt es sicher über die Clans und Ethnien hinaus, aber das ist eine Sache der Bosse, ganz wie in der italienischen Mafia. Wenn dabei etwas schiefgeht oder jemand aus dem festgelegten System ausbricht, kommt es zu jenen Bandenkriegen, bei denen der Normalbürger geneigt ist zu denken: Halb so schlimm, wenn sich die Unterweltler gegenseitig kaltmachen, hauptsache, es gibt keinen Dreck in unserem Hausflur.
Das stimmt leider nicht ganz, denn es geht um das Geschäft an sich, und treffenderweise sagt Mehmet, es ist egal, ob er festgenommen wird oder nicht, denn solange es Märkte und Konsumenten gibt, wird es auch Typen geben, die gewissenlos dealen. Der Drogenkonsum ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Notstandes und das Argument, wenn wir’s nicht täten, würden’s andere tun, ist zwar vorzivilisatorisch, aber leider richtig.
Deswegen ist das Argument von Karow gegenüber Rubin so stichhaltig, dass die Mordkommission einen gelösten Fall ad acta legen kann, wenn er aufgeklärt ist, bei der Drogenpolizei aber der Frust über den nie endenden Strom neuer Mitspieler im großen Business zum Alltag gehört. Drogenfahndung hat nicht diesen Projekt-Charakter wie Mordaufklärung, sondern ist entnervender als Sisyphosarbeit. Dass es Berührungspunkte zwischen den Tötungs- und den Drogendelikten gibt, ist in einer Großstadt evident. Und dass die Festnahme eines Mörders, der aus einem Dealer-System kommt, ebenso frustrierend sein kann wie die Arbeit gegen die Drogen, haben wir in anderen Tatorten bereits gesehen.
Finale
Ein anderes, bekanntes Wort für „Muli“ ist „Bodypacker“, und es gibt sicher keine bessere Möglichkeit, Drogen zu schmuggeln, aber auch keine für die Packer oder Mulis riskantere, weil die Päckchen im Körper platzen können. Dass junge Mädchen, die sich für solcherart Transporte verdingen, einige tausend Euro dafür bekommen, oder tot sind, entspricht der existenzialistischen Grundstimmung des ersten Berlin-Tatorts der neuen Ära.
Stellenweise ist der Film sehr rasant, Zeitsprünge werden mit rasch wechselnden Tageszeiten innerhalb einer Einstellung oder mit sich beschleunigenden Autokolonnen in der Nacht dargestellt, Berlin wirkt in der Tat viel weniger aufpoliert als bei den Vorgängern Ritter und Stark, mit denen man eine Art Weltstadtmystik erschaffen wollte, die Berlin stellenweise hat, die aber leer wirkte und die Stadt immer noch nicht so kennzeichnet, wie das vielleicht im Zentrum von London oder den asiatischen Retorten-Metropolen der Fall ist.
In „Das Muli“ geht es auch recht blutig zu. Vermutlich wird der Film seine Wiederholungen eher ab 22:00 Uhr als zur Primetime erleben, aber es ist ein interessanter Einstand, und das Team ist ohne Frage spannend und schauspielerisch in der Lage, eine Ära zu prägen. Man mus eben bei den Drehbüchern sorgfältig sein. Einführungskrimis haben heutzutage immer das Problem, dass sie stark mit den Personen der Ermittler befasst sind, die Verbrecher dadurch nur Stereotypen sein können. Mit etwas Glück wird sich das ausbalancieren.
Solche fiesen Gags wie der Drogenhändler-Normalpapa, dessen Frau ihn ständig daran erinnert, Wasser zu besorgen, während er damit beschäftigt ist, das Muli zu finden und sich selbst das Leben zu retten, sind angebracht, um darzustellen, wie dicht harmlos wirkender, bürgerlicher Anstrich und dunkelste Geldquellen beieinander liegen. Wenn wir in Berlin unterwegs sind und sehen, welche Typen in gewissen Varianten dicker Autos sitzen und nicht nur ihre Geschäfte so tätigen, sondern auch so fahren, dass andere um ihr Leben fürchten müssen, ist die Fassade der Wohlanständigkeit, die Mehmet uns zeigt, allerdings eher die Ausnahme.
Wir greifen zu einer abwartend-positiven Anfangswertung: 7/10
© 2022, 2017, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
Regie | Stephan Wagner |
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Drehbuch | Stefan Kolditz |
Produktion | Ernst Ludwig Ganzert |
Musik | Ali N. Askin |
Kamera | Thomas Benesch |
Schnitt | Susanne Ocklitz |
Premiere | 22. März 2015 auf Das Erste |
Besetzung | |
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