Der Armuts-Skandal in Deutschland | Frontpage | Gesellschaft | Paritätischer Wohlfahrtsverband

Frontpage | Gesellschaft | Armut steigt rapide an, aktuelle Inflation noch nicht berücksichtigt

Die Menschen, die dieses System, in dem wir leben, gemäß aktueller Beobachtungen für unfähig halten, sich so zu reformieren, dass wieder mehr Gerechtigkeit Einzug hält, sehen sich von Jahr zu Jahr mehr bestätigt.

„Es ist nicht einfach nur zu bedauern, dass die Armut in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht hat. Es ist ein Skandal! Dem jüngsten Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zufolge leben fast 14 Millionen Menschen in Armut, mehr als 16 Prozent der Bevölkerung – und dabei sind die Folgen der Inflation noch nicht einmal berücksichtigt. Gleichzeitig wachsen die Vermögen der Wohlhabenden rasant: 3.100 Superreiche besitzen mehr als ein Fünftel des gesamten privaten Finanzvermögens. Angesichts dieser Zahlen drei Milliarden Euro Steuergeld für einen nutzlosen Tankrabatt zu verplempern, statt sie gezielt alleinerziehenden Müttern, Kindern aus prekären Familien, verarmten Rentnern oder von der Pandemie gebeutelten Selbstständigen zu geben, ist nicht einfach nur dumm. Es ist unverschämt. Warum spricht das keiner aus?“

So schreibt heute T-Online-Chefredakteur Florian Harms im „Tagesanbruch“ (Q1-220704). Und wir verfressen, verfliegen, verheizen den Wohlstand der Welt. Politik nur noch im Krisenmodus, keine Langfristlösungen mehr. Aber warum sagt uns niemand die Wahrheit? Harter Verzicht, keine Erschließung neuer Erdgasquellen, höhere Steuern auf Flugbenzin, ein Tempolimit, hohe Steuern auf Produkte aus „Klimasünderländern“ wie China. Warum Kanzler Scholz im gestrigen Sommerinterview ein Tempolimit ausgeschlossen hat, erschließt sich uns auch nicht und ganz sicher ist der Tankrabatt Quatsch, das schreiben wir nicht erst heute.

Doch die wirkliche Wahrheit wird auch in dem als Quelle verlinkten Artikel nicht benannt: Kein Wort zu mehr Steuern für Reiche, kein Wort darüber, dass das System als solches zu dem Verhalten herausfordert, das hier von vorne bis hinten kritisiert wird, inklusive dem Verhalten der Politik. Wenn negatives Verhalten privilegiert wird, so sehr wie bei uns, dann werden nur noch ganz stabile Ethiker:innen sich trotzdem achtsam und der Welt und ihrer Zukunft zugewandt verhalten. Wer auf den Billigkonsum schimpft, muss auch erwähnen, dass die meisten Menschen sich nichts anderes leisten können. Ob es etwas weniger sein dürfte? Herrje, klar. Aber in einer Welt, in der eine ganz hohle Art von Leben gefördert, jedwede geistige Erhebung u. a. vom Bildungssystem sabotiert wird, haben die meisten doch nichts anderes, womit sie für einen Moment lang glücklich sein können.

“Die Befunde sind erschütternd, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie schlagen inzwischen voll durch. Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen und noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie während der Pandemie”, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. (Q2-220704)

Was ist schiefgelaufen?

Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert insbesondere das jüngste Entlastungspaket als ungerecht und unzureichend. Die seit Herbst 2021 steigenden Lebenshaltungskosten führten zu einer dramatischen Vertiefung der Armut und verlangten entschlossene Hilfsmaßnahmen. “Pandemie und Inflation treffen eben nicht alle gleich. Wir haben keinerlei Verständnis dafür, wenn die Bundesregierung wie mit der Gießkanne übers Land zieht, Unterstützung dort leistet, wo sie überhaupt nicht gebraucht wird und Hilfe dort nur völlig unzulänglich gestaltet, wo sie dringend erforderlich wäre”, so Schneider. Nur zwei Milliarden Euro des insgesamt 29 Milliarden-Euro-schweren Entlastungspaket seien als gezielte Hilfen ausschließlich einkommensarmen Menschen zugekommen, kritisiert der Verband. Dazu würden die Einmalzahlungen durch die Inflation “aufgefressen”, noch bevor sie überhaupt ausgezahlt sind. (Q2)

Welche Konsequenzen sind zu ziehen?

Der Paritätische fordert umgehend ein neues Maßnahmenpaket, das bei den fürsorgerischen Leistungen ansetzen müsse, konkret den Regelsätzen in der Grundsicherung, bei Wohngeld und BAföG. “Wir brauchen dringend ein weiteres Entlastungspaket, eines, das zielgerichtet ist, wirksam und nachhaltig”, fordert Ulrich Schneider. “Grundsicherung, Wohngeld und BAföG sind nach unserer Auffassung die wirksamsten Hebel, um schnell zu einer Entlastung unterer Einkommen zu gelangen, die nachhaltig wirkt und nicht nach kurzer Zeit wieder verpufft. Es geht darum, unsere letzten Netze sozialer Sicherung wieder höher zu hängen.” (Q2)

Der Paritätische Wohlfahrtsverband arbeitet „im System“, daher kann man von ihm nicht erwarten, dass er sich strikt systemkritisch äußert, obwohl sein Vorsitzender Ulrich Schneider durchaus kein Blatt vor den Mund nimmt und eine wichtige politische Persönlichkeit in Deutschland ist. Durch ihn und den Paritäter als Dachverband werden sehr viele soziale Unternehmen vertreten, die vor Ort arbeiten und sich mit Armut und mit vielen weiteren oder mit Armut einhergehenden Einschränkungen, die Menschen betreffen können, auskennen. Wir meinen, die obigen Forderungen sind richtig, doch damit ist es nicht getan.

Selbst, wenn die Armen endlich gehört und sachgemäß unterstützt werden, werden wir nicht aus dem Dauerkrisenmodus herauskommen. Zu lange wurden viele Probleme liegengelassen. Uns wundert in dem Zusammenhang immer wieder, dass Angela Merkel, die das Land 16 Jahre lang regiert hat, nicht viel stärker im Brennpunkt der Kritik steht. Wenn es so weitergeht, wird sie bald einen Status der Erhöhung durch Verklärung der Vergangenheit erreichen wie einst Helmut Schmidt. Dazu gibt es aber keinerlei Anlass, wie es bei ihm schon keinen Anlass gab, ihn nachträglich zu einer Ikone zu machen. Wir können immerhin für uns in Anspruch nehmen, seit Jahren auf Merkels Fehler und Versäumnisse hingewiesen zu haben, anders als gewisse Leitmedien, die ihr geradezu in den Allerwertesten gekrochen sind.

Klar, dass man dort auch jetzt den Fokus lieber auf die aktuelle Regierung richtet, die kaum Zeit hatte, sich vernünftig in ihre Aufgaben einzufuchsen, sondern mitten in die Krisen hineingeschmissen wurde. Stimmt das so? Vom Ukrainekrieg abgesehen gibt es diese Krisen schon länger, darauf hätte man sich vorbereiten können, zumal man ja die bisherige Regierung für ihr Krisenmanagement kritisiert hat. Dass jetzt alles kulminiert und sich miteinander verhakt, ist äußerst misslich, aber man könnte es so angehen, dass mehr Vertrauen in der Bevölkerung entsteht, da hat der Verfasser von Q1 wiederum recht. Doch dass die Armen noch mehr sparen müssen, um das politische und wirtschaftliche Zocken der Reichen zu ermöglichen, das kann’s nicht sein. Insofern ist auch der Gesamtartikel (Q1) inkonsequent. Insofern wird keine Lösung angeboten. Wer sich nicht an die Systemkritik heranwagt, der kann auch keine Lösung anbieten. Die Journalist:innen sind demgemäß ebenso sprachlos wie die Politik und das Sich-Ärgern über die zu unklare Sprache in der Politik, besonders von Kanzler Scholz, ist auch ein Hinweis auf eigene Fehler, Mängel, Probleme: Wenn die Politiker sich so verhalten, wäre es an den Journalist:innen, dies nicht nur zu beklagen, sondern mutig nach vorne zu blicken und die ganze Wahrheit als Grundlage der weiteren Verhandlungen innerhalb der Gesellschaft vorzuschlagen:

Dieses System wird von Jahr zu Jahr brüchiger, und wenn man nicht bald mit grundlegenden Reformen in Sachen Gerechtigkeit ansetzt, gibt es bald nichts mehr zu reformieren, dann dürfen wir alle wirklich von vorne anfangen. Dann werden wir fast alle arm sein, auch die Journalist:innen, die sich nicht trauen, die Politik wirklich zu fordern, indem sie diese mit systemimmanenten Schwächen und Webfehlern konfrontieren und diese Schwächen auch als solche benennen. Die immer weiter anwachsende Ungleichheit in Deutschland ist kein Schicksal, sie ist systembedingt. Menschen wollten es so, wie es ist und sich weiter negativ entwickelt, und Menschen können es ändern.

TH

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