„Wen Sonderausgaben in die Armut treiben könnten“ (Statista) + Folgen für die Stimmung und die #Demokratie #IchBinArmutsbetroffen #Armut | Briefing 92

Frontpage | Briefing 92 (hier zu 91) | Energiekrise Pessimismus Demokratie

Die erste Kältewelle des Jahres ist vorbei, mit Nachttemperaturen von bis zu minus 11 Grad (in Berlin). Der Schirm ist gespannt, der das Gröbste für Privathaushalte verhindern soll, die Heizenergie- und Stromkosten betreffend.

Und nun? Auch wenn gerade gemeldet wird, dass die Gaspreise sinken: Grund zur Entspannung sehen wir darin nicht, denn die Verführung ist gar zu groß, dass die Energiekonzerne Gas- und Strompreisbremse zur Vermehrung ihrer Profite nutzen werden, anstatt die Beschaffungskostensenkungen der letzten Tage flugs an die Verbraucher:innen weiterzugeben.

„Wegen der für Ende Dezember milden Temperaturen fällt der Preis für europäisches Erdgas. Am Dienstagmorgen wurde das Gas am Großhandelsplatz TTF zeitweise bei 80 Euro je Megawattstunde gehandelt. So günstig war europäisches Gas zuletzt im Juni. Nach Einschätzung der Bundesnetzagentur haben das zuletzt milde Winterwetter und mehr Windenergie zu einem geringeren Verbrauch geführt. (…) Aber auch wenn der Gaspreis merklich gesunken ist: die Preise bleiben auf einem historisch hohen Niveau. Zum Vergleich: In den Jahren zuvor kostete eine MWh Gas lediglich zwischen 10 bis 20 Euro.“

Auf dem Höhepunkt der Gasmarkt-Panik lag der MWh-Preis bei abenteuerlichen 346 Euro, das war im Juni, als eben nicht viel Gas verbraucht wurde. Gaspreise sind eben auch politische Preise, ebenso wie Ölpreise. Nun gibt es immer noch langfristige Verträge, die nicht zu den Preisen bedient werden, die wir im Moment an der Börse sehen, aber dieser Bestand bröckelt natürlich und was neu verhandelt wird, dürfte einen Abschluss zu erheblich höheren Preisen finden als bisher. Und das auf Jahre. Ist also der Pessimismus angesichts der Krisen, die sich zudem als Dilemma darstellen, z. B. Sanktionsregime mit entsprechenden Notwendigen teurer Beschaffung klimaschädlicher Energie vs. Klimakrise, wieder mal mehr oder weniger unser mentales Ding, wie die FAZ durchblicken lässt?

Krisen und Pessimismus prägen das Jahr 2022: Doch es gibt Hoffnung (faz.net)

Dazu werden wir uns noch äußern und der Tendenz des Artikels in Teilen widersprechen, aber wen trifft nun die Problematik, die uns die Politik eingehandelt hat, am meisten?

Infografik: Wen Sonderausgaben in die Armut treiben könnten | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Mittels eines sogenannten Abwehrschirms in Höhe von 200 Milliarden Euro will die Bundesregierung steigenden Strom- und Gaspreisen entgegenwirken und die deutsche Wirtschaft stabilisieren. Das teilte die Regierung am 29. September mit. Obwohl derzeit noch keine Details bekannt sind, erntet der Plan bereits jetzt Kritik aus anderen EU-Mitgliedsstaaten. Laut ZDF hätten Länder wie Italien, Spanien oder Luxemburg Bedenken angemeldet, dass „nicht alle Länder die Mittel hätten, um solche Maßnahmen zu finanzieren“. Trotz des Vorwurfs mangelnder intraeuropäischer Solidarität gibt es eine Vielzahl von Haushalten in Deutschland, die vom sogennanten „Doppel-Wumms“ profitieren würden.

Wie eine Auswertung des Statistischen Bundesamts (Destatis) zeigt, haben besonders Single- und Alleinerziehenden-Haushalte nicht die Möglichkeit, potenziell erforderliche Rücklagen für drastisch gestiegene Energiepreise zu bilden. 32 respektive 33 Prozent verfügen über ein jährliches Nettoäquivalenzeinkommen von unter 16.300 Euro, haben also pro Monat weniger als 1.358 Euro für Ausgaben und Sparvorhaben zur Verfügung und liegen nur rund 2.000 Euro über der Grenze zur Armutsgefährdung. Stark gestiegene Abschläge für Strom und Gas könnten Haushalte dieser Art also in Zahlungsnot bringen. Zwei Erwachsene sowie zwei Erwachsene mit einem Kind sind diesbezüglich besser aufgestellt. Jeweils rund 50 Prozent aller Haushalte verfügen über ein Nettoäquivalenzeinkommen von mehr als 28.400 Euro pro Jahr.

Das Nettoäquivalenzeinkommen wird errechnet, indem das Gesamteinkommen eines Haushalts nach Steuern und Abzügen durch die Anzahl der Haushaltsmitglieder geteilt wird. Selbige werden nach einer Skala gewichtet. Der erste Erwachsene entspricht 1,0 Punkten, jeder weitere 0,5 Punkten und jedes Kind bis 14 Jahre 0,3 Punkten. Auf diese Weise fließen potenzielle Einspareffekte durch Mitnutzung von Verbrauchsgütern und Geräten in die Berechnungen mit ein. Haushalte werden so unabhängig von ihrer individuellen Größe vergleichbar, um Aussagen über Armut und Einkommensungleichheit treffen zu können.

Sie sehen der Grafik und dem Begleittext deutlich an, was uns an der Politik so besonders stört, die uns in die jetzige Lage gebracht hat: Dass diejenigen, die ohnehin knapp dran sind, von dieser Krise besonders hart getroffen werden. Der soziale Ausgleich ist wieder einmal nicht gewährleistet und darauf basiert auch der große Pessimismus weiter Teile der Bevölkerung: Krisen an sich kann man bewältigen, aber nicht, wenn man seit Jahrzehnten schrittweise aller Ressourcen beraubt wird, obwohl man sich weitaus mehr anstrengen muss als noch vor wenigen Jahrzehnten, um überhaupt welche zu erwirtschaften. Derweil lesen wir, wie der Reichtum weniger immer öbszönere Ausmaße annimmt. Die Mehrheit der  Gesellschaft wird ihrer ökonomischen Krisenresistenz zunehmend beraubt und ist darauf angewiesen, dass der Staat die objektiv immer einschneidenderen negativen Politikfolgen gnädigerweise abfedert. Aber natürlich nicht so, dass ein vollständiger Ausgleich zugunsten der Mehrheit erreicht wird, welche diese Krisen nicht verursacht hat. Bei weitem nicht.  

Das Gefühl von Hilflosigkeit, das daraus bei den Menschen resultiert, sollte man keinesfalls unterschätzen. Der Pessimismus ist mehr als berechtigt, viel mehr muss man konstatieren, dass zwischendurch der Optimismus zu groß war, denn keine Krise wurde wirklich gelöst. Wir werden anhand der Grafik, die in dem oben verlinkten FAZ-Artikel enthalten ist, noch besprechen, warum das so war und wie zum Beispiel die Regierung Merkel es gut verstanden hat, die fortdauernden Probleme zu kaschieren, anstatt sie zu lösen.

Die Grafik lässt auch darauf schließen, dass die Armutsgefährdung in Deutschland weiter zunehmen wird, denn der Preisauftrieb wird im laufenden Jahr und im nächsten Jahr zur größten Reallohneinbuße seit dem Bestehen der BRD führen. Wir haben das hier bereits thematisiert:

Reallohnverluste in verschiedenen OECD-Ländern: Beleg für die Unfähigkeit der deutschen Politik | Briefing 80 | Wirtschaft, Gesellschaft – DER WAHLBERLINER

In Deutschland kommt es besonders dicke, weil die Politik bei uns nicht in der Lage ist, einigermaßen vorausschauend zu handeln. Das ist auch jetzt noch so, oder finden Sie, dass die panikartige Beschaffung von LNG-Terminals nicht eher ein Krisenzeichen als Teil der Lösung ist? Wir sitzen in der Klemme auf eine Weise, wie es die Jüngeren in diesem Land noch nie erlebt haben, und das kann man nicht einfach dadurch wegdiskutieren, dass man alles auf die subjektive Wahrnehmung schiebt. Wenn trotzdem der Optimismus zurückkommt, was besagt das außerdem? Während des Krieges ging der Optimismus einfach dahin, dass man hoffte, der Krieg werde enden und nicht auf ein Leben, wie es früher einmal war. Wenn man so will, steuert die Politik auf diese Weise auch den Optimismus: er richtet sich aus auf immer geringere Erwartungen. Genau das gefährdet die Demokratie, denn nicht jeder will sich mit diesem im Grunde langfristigen Trend abfinden und das Gemunkel von der Absicht im Sinne eines bevorstehenden Great Reset macht die Runde.

Übel wird es vor allem dann werden, wenn der Abstieg des Landes so groß wird, dass auch die meisten persönlichen Aufstiegsstorys davon betroffen sein werden. Bisher konnte man im Rahmen des üblichen Lebensyklus, Kindheit, Studium, Beruf, Rente, immer noch persönlich bis zu einem gewissen Grad vorankommen, auch wenn die allgemeine Lage sich nicht mehr verbesserte. Das hat bei vielen den Eindruck hinterlassen, es sei alles nicht so schlecht. Ist es aber, denn gegen diese Aufstieg steht ja schon lange, dass z. B. die nächste Rentner:innengeneration erhebliche Abstriche gegenüber der jetzigen wird hinnehmen oder viel länger wird arbeiten müssen. Vielleicht sogar beides, und dann wird die persönliche Enttäuschung dazu führen, dass der Pessimismus sich bei denjenigen verfestigt, die mit höheren Erwartungen durchs Leben gegangen sind. Im Osten beschädigt die Generalenttäuschung, obwohl sie auch mentale, nicht nur sachliche Gründe hat, schon jetzt die Demokratie in erheblichem Maße. Nichts weist darauf hin, dass das im Westen nicht auch kommen kann, wenn alles zerstört wird, was einmal den Vertrag zwischen dem System, der Demokratie und den Menschen ausgemacht hat: Dass es möglich ist, mit dem hiesigen Potenzial allen einen gewissen Wohlstand zu ermöglichen.

Eine Gruppe innerhalb der Linken will die Menschen mit dem Motto „Brot, Heizung und Frieden“ aktivieren. Bei Brot und Heizung sind wir auch dabei. Aber bei letzterem Begriff hängt es für uns durchaus davon ab, zu welchen Bedingungen es Frieden geben soll, deshalb sind wir zurückhaltend. Wir würden lieber für „Brot, Heizung und Demokratie“ demonstrieren. Demokratie schließt mehr Gerechtigkeit ein, auch einen gerechten Frieden im Ukrainekrieg und in allen anderen bewaffneten Konflikten.

Anmerkung: Die Grafik und der Begleittext stammen vom 26.10.2022, die EU-Kritik hat sich etwas gelegt, auch, weil Deutschland sich mitterlweile, wenn auch nicht aus Überzeugung der hiesigen Politik, sondern, weil ein Kompromiss notwendig war, an einem EU -weiten Preisdeckel für russisches Öl beteiligt. Der „Doppelwumms“ hingegen bewegt sich erkennbar auf Mehrausgaben von über 300 Milliarden Euro zu, die letzte Zahl, die wir gelesen haben, lautete auf 264 Milliarden Euro.

TH

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