700 Meilen westwärts (Bite the Bullet, USA 1975) #Filmfest 880

Filmfest 880 Cinema

Das große Rennen, dieses Mal durch den einst wilden Westen

700 Meilen westwärts (Originaltitel: Bite the Bullet) ist ein US-amerikanischer Western von Richard Brooks mit Starbesetzung aus dem Jahr 1975.

Beim Anschauen dachten wir, der Film stamme aus dem Jahr 1966 – er wurde aber 9 Jahre später gedreht. Dies hätte uns das Alter einiger Protagonisten im Grunde verraten müssen, außerdem wäre in Schnitt und Kamertechnik für 1966 exorbitant modern gefilmt gewesen, das großartige Breitwandkino und die vielfältigen Kameraeinstellungen sind aber auch für die 1970er Jahre auf der  Höhe der Zeit. Selbst heute würde man vieles wohl kaum anders filmen. Ist „700 Meilen westwärts“ deshalb a.) modern und b.) ein guter Western? Wir klären das in der –> Rezension.

Handlung (1)

Eine Schar gealterter mutiger Männer, der aufbrausende junge Revolverheld Carbo und Miss Jones, eine ehemalige Hure, treffen sich zu einem Pferderennen, das von einem Zeitungsherausgeber ausgerufen wurde. Die Strecke soll eine Länge von etwa 700 Meilen haben und führt über große Distanzen durch die Wüste.

Die Beweggründe der Teilnehmer sind verschieden. Einige wollen sich profilieren, andere brauchen das Gefühl, noch nicht alt und nutzlos zu sein, wieder anderen geht es allein um die Siegprämie. Überhaupt dreht sich alles um Geld: Wo sich gestandene Männer treffen, machen leichte Mädchen ein gutes Geschäft, und das Wettgeschäft blüht natürlich ebenso. Spontan entscheidet sich auch Sam Clayton, ein entschlossener Tierfreund, dessen Kamerad aus alten Tagen, Luke Matthews, sich ebenfalls unter den Reitern befindet, zur Teilnahme. Hilfsbereit ist er für jeden zur Stelle, der in eine Notlage gerät, und hebt sich durch diesen Charakterzug von den meisten ab. Vor allem aber ahndet er jedes Leid, das den Pferden von ihren Reitern angetan wird.

Während des Rennens müssen die Teilnehmer bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gehen. Die Ersten bleiben bald schon auf der Strecke, da sie den Strapazen nicht gewachsen sind. In den Gesprächen am Lagerfeuer und an den Kontrollpunkten erfährt man nach und nach mehr über die Beweggründe der einsamen Reiter, ihre Vergangenheit und ihre Sehnsüchte. Nach und nach lichtet sich das Feld der Anwärter auf den Sieg, Rivalitäten werden ausgetragen und dennoch auch Freundschaften geschlossen.

Am Ende kommt es zum Finish zwischen den beiden alten Kameraden. Sam, der das Ziel und den Sieg bereits vor Augen hat, spürt, dass sein Pferd ihn nicht länger tragen kann. Aus Rücksicht steigt er ab und geht den Rest zu Fuß, während Luke aufschließt. Obwohl für Luke viel Geld auf dem Spiel steht, entschließt er sich, es seinem Freund gleichzutun. Beide erreichen gemeinsam die Ziellinie.

Rezension 

Trotz der obigen Beschreibung ist dies kein üblicher Western, auch kein echter Spätwestern, sondern eine Mischung aus Filmen wie „In 80 Tagen um die Welt“ (1956), „Das große Rennen rund um die Welt“ (1964) und einem Ensemblefilm, der irgendwo zwischen „Die glorreichen Sieben“ (1960) und „Stagecoach“ (1939) angesiedelt ist. Dieses Muster, eine Reihe ganz unterschiedlicher Typen aufeinandertreffen zu lassen, die sich entweder in gemeinsamen Gefahrensituationen bewähren oder nicht, oder die in einen Wettkampf miteinander treten und durch ihre Art, mit der Sache umzugehen, zeigen, wer sie sind.

Weitere Aspekte hätten uns auf die 1970er Jahre bringen müssen: Der kritische Umgang mit dem amerikanischen Dogma, dass nur der Sieger zählt und der Zweite, wie gut er auch sein mag, schon der erste Verlierer ist. In keinem anderen Jahrzehnt ist diese „The Winner takes it all“-Sichtweise in den USA so ernsthaft hinterfragt worden wie in der Zeit um das Ende des Vietnamkrieges herum, der 1975 endlich vorbei war – und natürlich ist das kein Zufall. Auch die erste Ölkrise lag zum Zeitpunkt des Drehs schon auf dem Weg zurück und hat erste Zweifel an der Unendlichkeit des Wachstums aufkommen lassen. Außerdem ist der Held des Films, der ehemalige Rough Rider Sam Clayton (Gene Hackman) ein richtiger Tierfreund und es gibt eine vergleichsweise moderne Frau unter den Wettbewerberinnen (gespielt von Candice Bergen).

Was uns zunächst an den 1960ern festgehalten hat, war vermutlich die Zeitnähe zu den anderen Filmen mit großen Rennen, die „Bite the Bullet“, so der Originaltitel, dann gehabt hätte, der grundsätzliche Optimismus, der von den harten Spätwestern wesentlich abweicht, ebenso wie der vergleichsweise hohe Zivilisierungsgrad der meisten Rennteilnehmer, der eher den Edelwestern der späten 1950er und frühen 1960er gleicht als den Typen, die wir in Peckinpah-Filmen sehen und die wirklich luxuriöse Art zu filmen. Die Natur spielt ihre eigene Karte in diesem Film aus, in dem es um ein großes Spiel geht, das sich für einige der Teilnehmer, wie den Verleger und den Gambler Matthews (James Coburn) durch zusätzliche Wetten außerhalb des Preisgeldes enorm erweitert. Beide setzen mehr oder weniger auf sich selbst bzw. das eigene Pferd.

Regie führte Richard Brooks, von dem wir für den Wahlberliner bisher „The Brothers Karamazov“ (1957) und „The last Hunt“ (1956) rezensiert haben (mittlerweile einige Filme mehr, Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes Ende 2022), der aber auch den hoch dekorierten „Elmer Gantry“ (1960) und den heute als Klassiker geltenden Newman-Taylor-Film nach einem Stück von Tennessee Williams, „Cat on a hot Tin Roof“ (1958), inszeniert hat. In einem Satz: Brooks war ein Dramen-Spezialist, der menschliche Gefühle und Charaktere hervorragend ausloten und auch dann glaubhaft auf die Leinwand bringen konnte, wenn die Vorlagen eine vergleichsweise theaterhafte Spielweise der Figuren und sehr stark psychologisierende Momente unabdingbar machen. Aber auch in diesem Western, in dem die Darsteller lakonischer agieren, gelingt die Figurenzeichnung.

Eine andere Sache ist, dass Brooks kein klassischer Western-Regisseur ist und dies das ein gewisses Problem. Dieses wird dadurch verstärkt, dass er auch das Buch geschrieben hat und es demgemäß kein Korrektiv durch einen erfahrenen Western-Drehbuchautor gibt. Der auffälligste Fehler des Films ist, Tierschutzmentalität von Sam Clayton hin oder her, wie mit den Pferden umgegangen wird. Niemals kann während eines 700 Meilen-Ritts das Tempo so angezogen werden, nur um einen kleinen Zwischenspurt mit einem Mitbewerber zu starten, wie das hier gezeigt wird – zumal in der heißesten aller denkbar heißen und trockenen Wüsten innerhalb der USA. Die Pferde wären alle zusammengebrochen, nicht nur eines, das hier besonders hart behandelt wurde. Am Ende aber schafft ein absoluter Pferdekenner wie Sam Clayton es nicht, sein robustes Tier bis ins Ziel zu bringen, sondern es gibt wenige Meter vorher auf und er muss es am  Zügel führen. Ein so erfahrener Mann hätte sich das anders einteilen dürfen, ein Marathon-Profi macht in der Regel auch nicht kurz vor dem  Ziel schlapp, weil er sich einen Kilometer vorher noch ein unsinniges Sprintduell  einem anderen Läufer geliefert hat. Dass er das Pferd dann von allen Lasten befreit und sogar sein Gewehr wegwirft, okay, dramatisch, aber Unsinn – witzigerweise ist das ansonsten stark schwitzende Pferd auch unter dem Sattel trocken, als Clayton ihn schließlich abnimmt.

Dass ein Quasi-Abenteuerfilm, bei dem ein Ereignis sich chronologisch an das nächste reiht, andere Anforderungen an die Handlungslogik stellt als ein Familiendrama, wird an einem anderen Punkt deutlich: Warum bleibt Miss Jones, die in Wahrheit nur mitreitet, um ihren Mann zu befreien, der als Sträfling in einer Eisenbahn-Baukolonne arbeitet, nicht ein Stück hinter den anderen zurück als es in den Tunnel geht? So riskiert sie, dass Clayton und Matthews, die dicht hinter ihr sind, in die Sache verstrickt werden. So soll es ja auch sein, denn ihr Mann entpuppt sich als überschießend und nimmt den beiden die Pferde weg – logisch ist es trotzdem nicht, denn sie hat mit dieser Aktion ja nicht gerechnet. Überhaupt ist diese Sequenz etwas zu simpel konstruiert, um glaubwürdig zu wirken. Schade, dass der beste Twist im Film, nämlich die wirklichen Motive der Dame, auf diese Weise ein wenig vergeigt wird. Außerdem, was hätte sie davon abgehalten, weiter teilzunehmen, nachdem Matthews und Clayton ihren Mann gemeinsam mit zwei Fernschüssen getötet haben? Sie hatte doch dann kein anderes Ziel mehr und die beiden im Grunde gutmütigen Männer hätten ihre Teilnahme wohl auch zugelassen. Der Zeitungsverleger hingegen äußert sich zu dieser Sache nicht, wohl aber wird das Motorrad von dessen Eventmanager von Clayton und Matthews verwendet, um den mit ihren Pferden flüchtenden, befreiten Sträflingen nachzujagen. Auch das ist Quatsch, mit einem Motorrad aus 1906 im unwegsamen Gelände Pferde verfolgen zu wollen.

Der junge Mann hingegen, der im Film seine Initialisierung erfährt und eine Wandlung durchmacht, zwingt diese Gauner mit Dynamitwürfen, immer in der Nähe des Weges  zu bleiben, auf dem Clayton und Matthews mit dem Motorrad tuckern. Jeder echte Flüchtling wäre einfach weitergeritten, in dem Bewusstsein, dass er damit am besten weiteren Dynamitanschlägen entkommt, denn irgendwann hört die Reichweite eines Werfers ja einmal auf. Hätte die Handlung den leicht absurden und hoch komödiantischen Charakter wie in den erwähnten Filmen aus den 1950ern, 1960ern über große Events und Rennen über die Langdistanz, wär’s okay gewesen, in „Bite the Bullett“ wirkt der plötzlich aufkommende skurrile Einschlag befremdlich.

Der durchgängige Edelmut von Sam Clayton (bis auf die Stelle, an welcher er dem alten Freund verrät, dass er das Rennen eben doch gewinnen will, was er bis dahin immer abgestritten hatte) und die große Fairness oder Sportlichkeit einiger weiterer Teilnehmer wirken ein wenig sehr poliert, aber sind kein Filmfehler im engeren Sinn, sondern lediglich eine Glaubwürdigkeitsfrage.

Im Grunde ist der Film für 1976 sehr konservativ, was die Figuren, den Verlauf der Handlung und das Ende des Films angeht. Bis auf den erwähnten Haken mit Miss Jones und einige kleinere Momente, die man nie im Detail vorhersehen kann, ist er daher auch wenig überraschend. Selbst diese Sache, dass Clayton und Matthews am Ende versuchen, gemeinsam zu siegen, hatten wir uns zwischenzeitlich schon als die perfekte Lösung im sehr humanistischen Sinn des Films zurechtgelegt. Keine Frage, in einer Zeit, in der viele Filme ohne ganz offensichtliche und vor allem ohne ganz eindeutige Botschaft daherkommen, setzt Regisseur Richard Brooks als Vertreter des alten Hollywood mit seinen klaren Zuordnungen und einem funktionierenden Gut-Böse-Schema ein Gegenzeichen. Der „700 Meilen westwärts“ ist damit auch eine Auflehnung gegen den gewaltsameren und mehr ins Düstere gehenden Stil der 1970er, der nicht nur den Western für eine Zeit erheblich veränderte und dazu führte, dass jene kurze Epoche zwischen Aufbruch und Neo-Konservativismus unter Präsident Reagan innerhalb des großen US-Kinos diejenige mit den am wenigsten affirmativen Werken war.

Finale

Zu dem Charakter des Films, der beinahe ein Wohlfühlmovie aus der Zwischenphase zwischen Klassik, New Hollywood und Neowestern ist, auch wenn zwei der Rennteilnehmer sterben, gehört es aber, genau dies zu sein: Optimistisch, auch ein wenig kritisch und für seine Zeit schon sehr politisch korrekt. Mit einem Typ wie Sam Clayton als Begleiter fühlt man sich siebenhundert Meilen lang gut aufgehoben, in der Prairie, in der Wüste und den unwegsamen Felsen und sogar im Schnee.

Recht spannend ist der Film trotz seiner Vorhersehbarkeit auf eine ganz eigensinnige Weise: Man fragt sich, wird er so vorhersehbar enden, wie man denkt, oder gibt’s doch eine andere, überraschende Lösung? Für das Auge ist dieses Werk sehr angenehm, unsere Emotionen hat es nur moderat in Schwung bringen können. Wären wir Pferdeliebhaber, hätten wir uns vermutlich mehr angesprochen gefühlt, denn der Umgang mit den Reittieren spielt eine bedeutende Rolle in „700 Meilen westwärts“, dann hätten wir auch den Umstand, dass in  Zeitlupe der Tod eines Pferdes gezeigt wird, auf vermutlich negative Weise mehr in die Bewertung einfließen lassen. So begnügen wir uns damit, dass die Filmcrew versichert hat, kein Tier sei tatsächlich zu Schaden gekommen.

Das reale Vorbild für die Handlung ist eines der vielen Preisausschreiben, die in der Zeit von etwa 1880 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges von Zeitungen gemacht wurden, die mit der Exklusivberichterstattung von diesen frühen Groß-Events, die sich über mehrere Tage oder Wochen zogen, ihre Auflagen steigern konnten. Die IMDb weist ein von der Denver Post gesponsertes Rennen aus 1908 von Evanston in Wyoming nach Denver, Colorado als Ideenlieferant für den Film aus. Es ging tatsächlich über 700 Meilen, das Preisgeld betrug 2.500 Dollar, nicht 2.000, wie im Film.

70/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Richard Brooks
Drehbuch Richard Brooks
Produktion Richard Brooks
Musik Alex North
Kamera Harry Stradling jr.
Schnitt George Grenville
Besetzung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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