Frontpage | Briefing 98 | Wirtschaft Russland China Geopolitik
Liebe Leser:innen, nun haben wir uns erst gestern mit russischem Öl beschäftigt und es geht gleich weiter. Sie wollen auf sicherer Datengrundlage diskutieren können? Wir helfen Ihnen dabei. Interpretationsfähig sind diese Daten sowieso immer, das wissen Sie ja.
Hier zunächst zum gestrigen Artikel, der sich speziell mit den Ölimporten aus Russland befasst hat:
Unumstößlich ist zum Beispiel, dass Russland mit seinen Rohstoffexporten in die EU den größten Reibach seiner Geschichte gemacht hat. Mitten im Krieg. Trotz der Sanktionen. Schauen Sie sich die Grafik bitte an:
Infografik: Russlandhandel: Öl und Gas sorgen für Import-Rekord | Statista
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Bis einschließlich Oktober 2022 haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Waren im Wert von rund 181 Milliarden Euro aus Russland importiert – damit ist das Volumen gegenüber dem gesamten Vorjahr um 38 Prozent gestiegen. Das heißt indes nicht, dass die in Folge des russischen Angriffskrieges verhängte Sanktionen keinen Effekt hätten, wie der in der Statista-Grafik abgebildete Abwärtstrend andeutet. Der Import-Rekord des vergangenen Jahres erklärt sich durch die stark gestiegenen Preise für fossile Brennstoffe. In den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres war das Segment „Mineralische Brennstoffe, Schmiermittel und verwandte Erzeugnisse“ laut Eurostat für 131,5 Milliarden Euro der EU-Einfuhren verantwortlich – das entspricht einem Anteil von 73 Prozent des Gesamtvolumens. Zum Vergleich 2021 beliefen sich die russischen Einnahmen mit Öl und Gas auf 104 Milliarden Euro, die 64 Prozent der EU-Importe ausmachten.
Russland hat also 2022 den Reibach seines Lebens gemacht, trotz der Sanktionen? Schauen wir uns die Grafik etwas genauer an. 2018 und 2019 lagen die Importe der EU aus Russland auf relativ niedrigem Niveau – weil die Rohstoffpreise niedrig waren. Selbst die bei jeder noch so kleinen Preiserhöhung sofort Alarm schlagenden Autofahrer und ihre Lobbys waren damals relativ ruhig. 2020 begann es auf etwas besserem Niveau, aber dann ging es steil abwärts. Warum? Wegen Corona. Der Verbrauch sank wegen der Lockdowns, die Preise sanken mit. 2021 sah es jedoch ganz anders aus: Lange vor dem Ukrainekrieg stiegen die Preise bereits deutlich an. Das hatte mit der wieder ansteigenden Wirtschaftstätigkeit zu tun, aber auch mit Störungen im weltweiten Versorgungssystem und mit einer Preispolitik der ölfördernden Länder, die gezielt auf Anhebung ausgerichtet war, als es sich wieder einigermaßen durchsetzen ließ. Sie erinnern sich, dass 2021 die allgemeine Inflation bereits anstieg, und das konnte nichts mit dem Ukrainekrieg zu tun haben.
Der Kriegsausbruch hat dann selbstverständlich für einen Boost gesorgt. Die Ankündigung der Sanktionen, nicht die Sanktionen selbst, wirkten sich sofort aus, zudem war klar, dass Russlands seinerseits die Rohstofflieferungen als Erpressungsmittel einsetzen konnte. Das trieb die Weltmarktpreise nach oben und Mitte 2022 war es dann soweit. Die Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland per Pipeline versiegten weitgehend. Es ist eine ganz missliche Sache, dass der Krieg erst einmal den Angreifern hilft, wenn sie über viele Rohstoffe verfügen. Denn Sanktionen lassen sich von heute auf morgen umsetzen und schon gar nicht kostenneutral. Deswegen ist unsere Kritik weniger eine an den Sanktionen selbst, sondern daran, wie die Bundesregierung sie überwiegend auf die Normalbüger:innen abwälzt, während die Reichen und die Konzerne teilweise sogar profitieren. Wenn die Umschichtung der Lieferländer so eingerichtet ist, dass wieder ein breites Angebotsportfolio ex Russland besteht, werden die Preise wieder zurückgehen. Wohl nicht auf das vorherige Niveau, denn das günstige Gas war ja ein Lockmittel, wenn man so will eine Droge, die Russland vor allem in Deutschland erfolgreich angeboten hat.
Wir können es nur in jedem Artikel wiederholen: Die Crux ist die versemmelte Energiewende in Deutschland, das hat die CDU/SPD-Regierung zu verantworten, die wir bis 2021 hatten (um nicht immer zu schreiben „Angela Merkel ist schuld“. Die SPD hätte damals auch mehr Druck machen können, aber sie war nie und ist bis heute keine Ökopartei. In dieser Grafik, die wir im vorausgehenden Briefing gezeigt haben, bildet sich das Desaster ab: Sie belegt, dass die Erneuerbaren, hätte man ihren Ausbau massiver vorangetrieben, schon heute ca. 2/3 der deutschen Energieversorgung decken könnten.
Die Hoffnung liegt auf der Kreuzung der roten und der orangenen Linie im Oktober 2022: Ist es möglich, Russland nun doch auszutrocknen? Wenn die Tendenz der letzten Monate sich fortsetzt, wird es so kommen, trotz der per Saldo immer noch hohen Preise.
Es ist in dem Zusammenhang übrigens eine ganz fiese Nummer der Freund:innen Putins, rechthaberisch und hämisch darauf hinzuweisen, dass Putin „von den Sanktionen profitiert“. Nein, er profitiert davon, dass er die Ukraine in Schutt und Asche legt, weil das den Rohstoffmarkt beeinflusst hat. Sanktionen können unmöglich sofort wirken und sie müssen sehr konsequent sein und von vielen Ländern getragen werden, damit sie überhaupt wirken. Einige Staaten leben seit Jahrzehnten mit Sanktionen, weil es immer wieder viele Lücken gibt. Ganz sicher kann man das als Kritikpunkt anführen: Was nützt es, wenn bei uns die Preise explodieren, aber Russland andere Abnehmer für seine Exportartikel findet?
Die Zeit spielt nicht für Russland, so viel ist aber trotzdem klar. Der moralische Niedergang des Landes, der sich in der Ukraine in der Art der Kriegsführung jeden Tag mehr zeigt und die Zerstörung guter Handelsbeziehungen insbesondere zu Deutschland sind auf Jahrzehnte nicht wieder auszugleichen und manches wird nie wieder werden wie vorher. Eher richten sich mit dem Ausbau der Erneuerbaren die Strompreise wieder auf früherem Niveau ein, als dass Russland wieder so an die EU andocken kann, wie es bis zum Angriff auf die Ukraine der Fall war. Das heißt auch, das Scheinimperium wird zum Spielball echter Imperien wie China und das wird sich negativ auf die Möglichkeit auswirken, hohe Preise für Rohstoffe durchsetzen zu können. Es war bereit schwierig in Normaljahren mit guten wirtschaftlichen Beziehungen zur EU, es wird ohne sie noch schwieriger werden. Ein Fehler war ganz gewiss, dass man auf die Krimbesetzung 2014 nicht härter reagiert hat, gerade in Deutschland nicht.
Dadurch haben sich Probleme verschärft, Abhängigkeiten erhöht und Putin wurde darin bestärkt, es mal eine Nummer größer zu versuchen.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt der aktuellen Entwicklung, dieser hat sowohl wirtschaftliche wie psychologische Auswirkungen auf Russland: Viele wichtige Unternehmen des Westens ziehen sich vorerst oder ganz aus dem Land zurück. Darunter solche, deren Marken in Russland sehr begehrt sind, denn was immer die Bevölkerung vom Westen hält, auf dessen Luxus- und Gebrauchsartikel steht sie. Es ist ein klares Minus, wenn nun viele dieser Artikel nicht mehr oder nur als Direktimporte zu sehr hohen Preisen erhältlich sein werden, und das kratzt am Selbstverständnis einer Bevölkerung, die sich insofern verwestlicht hat, als sie vor allem konsumorientiert ist. Gemeint sind die Teile der Bevölkerung, die sich Westwarenkonsum leisten können. Eine Minderheit, aber eine kaufstarke Minderheit.
In der zweiten Grafik bildet sich diese für Russland negative Entwicklung ab:
Infografik: Über 800 Unternehmen haben Russland den Rücken gekehrt | Statista
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/deed.de erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
830 internationale Unternehmen haben Russland infolge der Ukraine-Invasion den Rücken gekehrt. Das geht aus einer fortlaufend aktualisierten Auflistung der Yale School of Management hervor. Davon haben sich 335 Unternehmen vollständig zurückgezogen – darunter auch deutsche Unternehmen wie Aldi, Daimler und DB Schenker. Weitere 495 Unternehmen haben ihre Aktivitäten zu 100 Prozent ausgesetzt, halten sich aber eine Rückkehr offen. In diese Kategorie fallen aus Deutschland zum Beispiel Adidas, die Commerzbank und DHL. Die Yale-Liste beinhaltet außerdem 332 weitere Unternehmen, die ihre Aktivitäten eingeschränkt haben oder einen Investitions- beziehungsweise Entwicklungsstopp verhängt haben.
Die Daimler-Benz AG hatte erst vor wenigen Jahren eine Montagelinie für bestimmte Automodelle in Russland errichtet, also der russischen Autoindustrie auf die Sprünge geholfen, wenn man es so salopp ausdrücken möchte. Solche Investitionen sind Dosenöffner dafür, dass Länder sich langfristig besser aufstellen können, wie man eindrucksvoll an China sieht. Wenn die Liste stimmt, müsste die Produktion der Mercedes-PKW nun gestoppt worden sein. Hat China überhaupt ein Interesse daran, diese Lücke zu füllen? In einer Hinsicht vielleicht: Dass Russland auch technologisch von China abhängig wird, indem westliche Bauteile durch chinesische ersetzt werden. Geostrategisch ist das für Russland keineswegs eine Verbesserung.
Chinesische Direktinvestitionen im Hightech-Bereich in Russland sind bisher kaum der Rede wert gewesen, der Westen hat sich durchaus stärker engagiert. Aber nicht so stark, dass nun die westlichen Unternehmen ernsthafte Einbußen zu befürchten scheinen, wenn sie sich aus Russland zurückziehen / in Russland zurückhalten. Auch dies wieder ein fundamentaler Unterschied zu China: Dort die Segel streichen zu müssen, wäre eine Katastrophe für viele Firmen aus den USA und aus Europa, die in den letzten Jahren nur dank des China-Geschäfts weiterwachsen konnten, anstatt auf gesättigten Märkten wie dem deutschen (noch mehr) Rabattschlachten ausfechten zu müssen, um Anteile zu erobern oder zu halten. Dass manche Westprodukte weiterhin als Luxusartikel gelten, die Begehren aulösen, hat auch mit der wachsenden, kauffreudigen und nicht so kompliziert-kritischen Kundschaft in Asien zu tun. Die neue russische Oberschicht spielt dabei mittlerweile nur noch eine untergeordnete Rolle. Das war anders nach der Öffnung der Grenzen nach Osten, als der Nachholbedarf riesig war, die Wirtschaftssysteme in Wildwestmanier umgepflügt wurden, besonders in Russland und den ehemaligen weiteren Sowjetrepubliken, und das Geschäft mit China und seinen Vorhof-Staaten, die heute vor allem als Werkbänke fungieren, noch kaum eine Rolle spielte.
Putin und seine Entourage ebenso wie die Freunde des Oligarchensystems und seine Führers in unserem Land überschätzen die tatsächliche Bedeutung Russlands maßlos. Selbst die vielen russischen Rohstoffe haben nicht dazu geführt, dass das Land mehr als die Hälfte des deutschen BIP erwirtschaften konnte, obwohl die Bevölkerung beinahe doppelt so groß ist. Unter diesen Umständen als Imperium von Weltgeltung auftreten zu wollen, wird auf Dauer nicht funktionieren, denn it’s still the Economy, stupid. In Deutschland werden wir zwar auch von den Umwälzungen besonders gebeutelt, aber wenn endlich damit aufgehört wird, die sozialen Lasten dieser Umwälzungen so ungleich zu verteilen, trauen wir dem Land mittelfristig eine Rückkehr zur alter Stärke zu. Allerdings nicht mehr mit den alten Methoden. Unbedingt wichtig ist dafür eine kohärente strategische Wirtschaftspolitik, die eine Antwort gibt auf die Unmöglichkeit, mit Russland weiter wie bisher Geschäfte zu machen, die eine Antwort gibt auf die Gefahr der wachsenden Abhängigkeit von China und auch auf die protektionistischen, Deutschland gegenüber unfreundlichen Wirtschaftspraktiken, die in den USA mehr und mehr um sich greifen. Das alles ist möglich, aber anstatt den Schwanz einzuklemmen oder Unsinn herumzuposaunen, z. B. in der Außenpolitik, muss man eine halbwegs diskrete, aber wirksame Marschroute für die Zukunft erarbeiten. Welche Rolle Russland darin spielt, wird sich auch daran bemessen, wann endlich das Blutvergießen in der Ukraine aufhört und wie man sich danach verhält.
TH