Frontpage | Briefing 136 (hier zu 135) | Geopolitik, Ukrainekrieg
Schon im gestrigen Briefing hatten wir wieder über den Ukrainekrieg und die allgemeine Stimmungslange berichtet, da kommen neue Daten und Umfragen zum richtigen Zeitpunkt. Wir haben auch angemerkt, dass noch andere Probleme auf der Welt gibt, aber wenn man glaubt, der Dritte Weltkrieg stünde kurz bevor, ist der russische Überfall auf die Ukraine natürlich das gefährlichste Thema überhaupt.
Zuletzt war mehr über Waffenlieferungen als über die vielen Sanktionen gegen Russland geredet worden. Was hilft der Ukraine nun mehr. Die Sanktionen oder die Waffen? Was uns hierzulande mehr schadet, ist wohl klar. Ebenso klar: Es gibt Profiteure, aber zu denen zählen wir und zählen Sie vermutlich nicht. Was Sie in der folgenden Grafik sehen, wirkt gigantisch – 14.000 Sanktionen! Aber was davon bewirkt wie viel?
Infografik: Mehr als 14.000 aktive Sanktionen gegen Russland | Statista
Seit einem Jahr wütet der Krieg in der Ukraine. Während die Ukrainier:innen sich militärisch gegen den Aggressor Russland verteidigen, sind die Waffen des Westens eher ökonomischer Natur. Schon im Februar 2022, wenige Tage nach den ersten Angriffen, wurde Russland mit mehr als 1.000 wirtschaftlichen Sanktionen belegt. Seitdem sind jeden Monat mindestens 100 bis teilweise über 3.000 neue Beschränkungen hinzugekommen, wie eine Auswertung der OpenSanctions-Datenbank von CORRECTIV zeigt. Aktuell werden mehr als 14.500 (Stand: 10.02.2023) aktive Sanktionen gegen russische Unternehmen, Institutionen oder Einzelpersonen gezählt.
Den Recherchen zufolge sind es dabei vor allem Politiker:innen und Oligarch:innen, die mit wirtschaftlichen Blockaden, wie beispielsweise dem Einfrieren der europäischen Konten, belegt wurden. Unter den sanktionierten Unternehmen befinden sich russische Banken, Rüstungsunternehmen aber auch Medienkonzerne wie Russia Today (RT), die auch in Deutschland aktiv sind.
Mit rund 2.100 die meisten wirtschaftlichen Maßnahmen wurden von den USA oktroyiert. Die Schweiz folgt mit etwa 1.500 Sanktionen. Das Vereinigte Königreich und die EU haben jeweils knapp 1.200 Blockaden verhängt. Neben den Sanktionen auf staatlicher Ebene haben sich auch viele Unternehmen individuell dafür entschieden die Geschäfte in Russland einzustellen oder sich sogar vollkommen aus dem Land zurückzuziehen.
Für uns bleiben nach dieser Darstellung Fragezeichen und wir gehen davon aus, dass nur eine weitgehende, weltweit mitgetragene Rohstoff-Exportblockade Russland schnell in die Knie zwingen würde. Auf dem Gebiet gibt es aber Durchbrechungen aller Art auch aus dem Lager der Sanktionierer und viele Länder, die nicht mitmachen. Ganz sicher kann zum Beispiel russisches Gas nicht von heute auf morgen komplett anderswo abgesetzt werden als bei den bisherigen Geschäftspartnern, beim Öl aber herrscht bereits mehr Flexibilität.
Nicht die Absatzmöglichkeiten, sondern die Preise sind wohl das Instrument der Wahl: Wenn Russland bei seinen Ersatzabnehmern, in der Zwangslage, in der es sich befindet, geringere Preise erzielt als normalerweise am Weltmarkt, ist das auch ein Erfolg für die sanktionierenden Staaten. Andererseits: Wenn man bedenkt, wie Hitlerdeutschland im Verlauf des Krieges von immer mehr Quellen abgeschnitten war und doch den Krieg jahrelang fortführen, sogar die Rüstungsproduktion bis 1944 immer wieder steigern konnte, kann man sich vorstellen, wie ein so rohstoffreiches Land wie Russland noch Mittel und Wege finden wird, den Bankrott, den seine Gegner sich wünschen, hinauszuschieben. Allerdings muss dann auch offiziell ganz auf Kriegswirtschaft umgestellt werden, und davor scheut Wladimir Putin sich bisher.
Dafür spart er nicht mit atomaren Drohungen und überhaupt sieht es eher düster aus für den Frieden auf der Welt, wie auch im Begleittext der folgenden Umfrage festgestellt wird, an der Sie teilnehmen können. Sie wurde heute erst erstellt:
Civey-Umfrage: Sind Sie aktuell um die allgemeine globale Sicherheitslage besorgt? – Civey
Begleittext aus dem Newsletter:
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende sendete der Westen ein starkes Signal an Russland, hinter der Ukraine zu stehen. Selbst China kündigte für Freitag einen Friedensplan für den Ukrainekrieg an, was ntv als gutes Zeichen sieht, da der chinesische Staatspräsident Xi Jinping Einfluss auf Wladimir Putin habe. Die NATO kritisierte China bisher, da es Sanktionen gegen Russland nicht mitträgt und keine Vermittlerrolle einnahm.
„2023 muss das Jahr des Sieges werden”. So optimistisch äußerte sich Wolodimir Selenski gestern bei einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden in Kiew. Biden versprach zusätzliche Militärhilfe im Wert von einer halben Milliarde Dollar. Trotz der Zuversicht und des symbolisieren Zusammenhalts in München und Kiew kommentierte der Spiegel gestern früh: „Die Aussichten auf eine friedlichere Welt – sind leider trübe bis düster.”
Zugleich nehmen Spannungen zwischen China und den USA zu. Erst schossen die USA kürzlich einen mutmaßlichen chinesischen Spionageballon ab und nun werfen sie China vor, Waffen an Russland liefern zu wollen. US-Außenminister Anthony Blinken drohte China am Samstag bei NBC in dem Fall mit „ernsthaften Konsequenzen“ für ihre Beziehung. China bestreitet dies und wirft den USA vor, durch ihre Militärhilfe Kriegstreiber zu sein.
Es gibt auch Stimmen, die behaupten, hinter den Kulissen sprechen die USA und China sehr wohl konstruktiv miteinander, und das ist für den Weltfrieden die wohl wichtigste Beziehung. Wären sich die beiden Länder einig, würden andere es sich mehrmals überlegen, andere zu überfallen, wie Russland es schon zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren mit der Ukraine tut. Aber die Rivalität ist eben auch vorhanden und schließt den gesamten Westen einerseits und viele, die den Westen nicht zu dominant werden lassen wollen auf der anderen Seite ein.
Nicht weniger als 56 Prozent der Abstimmenden sind sehr besorgt über die Sicherheitslage. Im Grunde dürften diese 56 Prozent keine Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, denn objektiv ist das riskanter, als Russland einfach siegen zu lassen. Daran führt kein Weg vorbei. Gemeint ist damit aber die kurzfristige Perspektive. Wir sind, mit vielen anderen, der Meinung, dass ein solcher Fehlfrieden die Kriegslüsternheit auf der Welt eher verstärken würde und langfristig wäre die Rechnung, dass Russland oder andere Länder weitere Staaten versuchen zu erobern. Was ist also letztlich der Sicherheitslage zuträglicher: Appeasement oder Dagegenhalten? Es gibt eine pazifistische Haltung, die sehr interessant ist. Prinzipiell ist friedlich immer besser. Mit einer Ausnahme. Es war gerechtfertigt, dass die Welt gegen Nazideutschland gekämpft hat. Putin ist also ein anderer Fall. Mag schon sein, aber als der Zweite Weltkrieg begann, gab es noch keine atomare Abschreckung. Wie sähe die Welt heute ohne sie und mit Typen wie Putin an der Macht aus? Friedlicher? Wir haben Zweifel. Vielmehr glauben wir, dass wir auch in Europa seitdem schon wieder konventionelle Kriege erlebt hätten, wären sie nicht mit dem Risiko der atomaren Eskalation verbunden. Mehr davon, als es ohnehin gab, wie die Jugoslawienkriege oder eben den aktuellen Krieg um die Ukraine.
Trotzdem haben wir uns nicht zu den 56 Prozent gesellt, sondern zu den nächsten 26, die mit „eher ja“ gestimmt haben. In weiten Teilen der Welt ist die Sicherheitslage schon seit längerer Zeit miserabel, vor allem, wenn man Binnenkonflikte einrechnet. Jetzt ist der Krieg wieder näher an uns herangetreten. Die meisten gehen doch wohl in erster Linie von ihrem eigenen Sicherheitsgefühl aus, wenn sie die Sicherheitslage bewerten, und das haben wir auch getan. Wir fühlen uns noch nicht so massiv bedroht, dass wir vor Sorge platzen würden. Russland wird nach unserer Ansicht den Atomschlag nicht wagen, auch wenn wir in früheren Artikeln immer wieder mit dem Gedanken gespielt haben, was denn wäre, wenn Russland a.) in der Ukraine „kleine“ Atomwaffen einsetzen würde oder gar NATO-Staaten wie Deutschland angreifen würde, konventionell oder auf ebensolche Weise? Wir haben geschrieben, es sei nicht sicher, dass die Bündnisverpflichtungen in letzterem Fall wirklich greifen würden. Bisher hat es niemand darauf ankommen lassen. Nicht beim Bau der Berliner Mauer, nicht in der Kuba-Krise und in keiner anderen politischen Lage seit dem Beginn des Atomzeitalters. Diese „Brandmauer“ wird auch jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach halten. Daran ändern auch wilde Propagandaschlachten nichts.
Und wenn wir ehrlich sind: Für uns mitten in Europa zählt doch vor allem dies: Ob wir vor bewaffneten Konflikten in unseren eigenen Ländern sicher sind. Der letzte Krieg abroad, vielleicht auch der einzige, der die Menschen hierzulande wirklich aufgeregt hat, war der Vietnamkrieg, und der ist schon lange her. Alles, was seitdem passiert ist, hatte interessenseitig die Schwindsucht, wie man an der mittlerweile fast mikroskopisch kleinen Friedensbewegung merkt. „Frieden schaffen ohne Waffen“ ist längst vorbei. Frieden schaffen mit immer mehr Waffen ist seit der „Zeitenwende-Rede“ von Olaf Scholz nach dem russischen Angriff gegen die Ukraine noch die defensivste Variante des aktuellen Trends. Das bedeutet aber noch nicht maximalen Alarm. Es bedeutet nur, dass die Gefahren dichter und spürbarer geworden sind.
TH