Frontpage | Briefing 140 (hier zu 139) | Geopolitik, Friedensverhandlungen, Friedensinitiative, Diplomatie, Ukrainekrieg
Im gestrigen Briefing zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine haben wir uns skeptisch in Bezug auf einer diplomatischen Lösung gezeigt. In mehreren aufeinanderfolgenden Briefings zuvor haben wir begründet, warum wir so denken.
Selbstverständlich ist damit immer gemeint: „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“. Wir können nicht wissen, was sich in einem Jahr getan haben wird, in einem Monat. Schon morgen kann ein plötzliches Ereignis oder ein Stimmungsumschwung bei einem der wichtigen Mitspieler alles auf den Kopf stellen, was bisher sichtbar geworden ist und eine echte Chance auf Frieden ermöglichen. Daher ist die Frage, wie Civey sie gestellt hat, nur so überhaupt sinnvoll: Es geht um das Hier und Jetzt und darum, wie man das, was bisher geschah, beurteilt.
Erläuterungstext aus dem Newsletter vom 24.02.2023
Vor einem Jahr begann Russlands Invasion der Ukraine. Seither verloren etliche Menschen ihr Leben oder mussten ihre Heimat verlassen. Der Westen reagierte mit Militärhilfen für die Ukraine und Sanktion gegen Russland. Gestern einigte sich die UN-Vollversammlung auf eine Friedensresolution für die Ukraine mit der Forderung zum russischen Rückzug. China enthielt sich, rief aber heute in einem eigenen Friedensplan zu Waffenstillstand und Friedensgesprächen auf.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warb am Wochenende im „Le Figaro” erneut für diplomatische Bemühungen. Der Krieg könne nur durch Verhandlungen beendet werden. Auch sei eine völlige Niederlage Russlands keineswegs erstrebenswert. Ähnliche Forderungen gibt es seitens der AfD und Linke, die dabei auf die wirtschaftlichen Konsequenzen Deutschlands und die Gefahr einer Kriegsausweitung auf NATO-Gebiet verweisen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nennt Diplomatieversuche angesichts der russischen Haltung „Zeitverschwendung“. Wladimir Putin bekräftigte am Dienstag in seiner Rede zur Lage der Nation das Bestreben, die Angriffe fortzuführen. Zugleich machte er den Westen für den Krieg verantwortlich und setzte den Atom-Abrüstungsvertrag „New Start“ aus. US-Präsident Joe Biden wies die Vorwürfe zurück und kündigte weitere Sanktionen, aber auch Gesprächsbereitschaft an.
Nachdem der französische Präsident sich gestern geäußert hatte, kamen es in deutschen Medien umgehend zu Artikeln, die sich mit der prorussischen Connection in Frankreich befassten, inklusive einem Bild von einer Ordensverleihung an Wladimir Putin durch den damaligen Präsidenten Jacques Chirac. Nun ja, das ist lange her und man muss einfach festhalten, dass Macron hier richtig liegt. Ein Zusammenbruch Russlands, eine Implosion des Staates nach der Implosion des sowjetischen Imperiums kann nicht im Interesse von Menschen überall auf der Welt sein, die sich Frieden und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit wünschen. Eine allseitige Dominanz der USA würden nämlich keineswegs zu seinem solchen Zustand führen, sondern die Ungleichheit in jeder Hinsicht weiter anwachsen lassen. Bürgerkriegszustände auf dem Gebiet Russlands mit seiner über 4000 Kilometer langen Grenze zum eigenen Land beispielsweise fürchtet nicht nur China und versucht deshalb, das Putin-Regime zu stützen, ohne es sich mit dem Westen komplett zu verderben. ABer auch der Westen selbst sollte nicht auf die Entstehung weiterer Unruheherde setzen.
Man sieht im Nahen Osten oder in Libyen, wie viel Leid die Taktik der Schaffung von Failed States ohne jede strategische Option auf etwas Besseres mit sich bringt, die insbesondere durch die USA befördert wurden. Analysten betonen, dass die Tatsache, dass Russland wirkt, als ob man weder siegen noch zurück könne, auch innenpolitischen Problemen geschuldet ist. Ausgerechnet Scharfmacher Dimitri Medwedew hat eine Bemerkung fallen lassen, der in dieser Hinsicht viel Gewicht beigemessen wird. Eine vollständige Niederlage Russlands wird eine Destabilisierung, vielleicht sogar eine Auflösung dieses Staates bewirken, deutete er kürzlich an. Nun gingen die Völker der früheren Sowjetunion friedlich auseinander, weitgehend jedenfalls. Doch immer wieder gibt es Konflikte, wie zum Beispiel denjenigen um Tschetschenien,. Dieser findet innerhalb der russischen Föderation statt. Aber auch russische Interventionen in ehemaligen Teilen der Sowjetunion, wie in Georgien und jetzt in der Ukraine sind zu verzeichnen.Am Zerfall des viel kleineren Jugoslawiens hat man außerdem gesehen, was passieren kann, wenn eine zentrale, einigende Kraft nicht mehr vorhanden ist, in Fällen, in denen ein Staatsgebilde ethnisch sehr heterogen ist.
In Russland geht es um ungeheure Mengen an Bodenschätzen, das darf man nicht vergessen, wenn man glaubt, eine friedliche Trennung sei möglich. Die Zentrale in Moskau wird alles daransetzen, so viel wie möglich vom gegenwärtigen Territorium zu retten und dafür auch die Atommacht-Karte spielen, die bei manchen Menschen im Westen aktuell ganz gut funktioniert, obwohl es ebenso wenig wahrscheinlich ist wie am ersten Kriegstag, dass Putin wirklich das Risiko eingehen wird, Atomwaffen in der Ukraine oder gar gegen den Westen einzusetzen. Gerade, wenn ein Wladimir Putin sagt, wir bluffen nicht, dann darf man davon ausgehen, dass es sich genau um dies handelt: einen Bluff, der den Westen spalten soll. Wäre aber Russland selbst in Gefahr, auseinanderzufallen, wäre die Situation noch einmal ganz neu zu bewerten.
Deswegen wäre es richtig, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich für eine diplomatische Lösung des Ukrainekrieges bietet. Wie das funktionieren soll, ohne dass eine Seite das Gesicht und die Ukraine Territorium verliert, weiß aktuell niemand. Wenn Russland schlechter dabei wegkäme als vor der Krimbesetzung im Jahr 2014, wäre Wladimir Putin erledigt und niemand kann abschätzen, wer und was danach kommt und was es für uns in Europa bedeuten wird. Insofern muss man bei allem Verständnis für die Interessen der Angegriffenen überlegen, bei welchem Status man letztlich ansetzt, wenn es um einen ehrenhaften Friedensschluss geht.
Die Lage ist so komplex, dass Politiker sich nicht trauen, sie ehrlich an die Bevölkerung zu vermitteln. Lässt man Russland gewähren, werden weitere Übergriffe auf fremdes Territorium die beinahe sichere Folge sein und weitere Autokraten wissen dann, wie wenig der Westen bereit ist, längerfristig einen Einsatz für die Eindämmung von Eroberungskriegen zu erbringen. Hinzu käme, wie auch im Fall Russland / Ukraine, dass Atomstaaten sich alles erlauben könnten. Versucht man, Russland zu zerstören, wie einige im Westen es unverhohlen öffentlich gemacht haben, kann das ebenso unwägbare Folgen haben. Diese äußerst schwierige Konstellation zu erklären, Argumente zu sammeln und abzuwägen, anstatt mit markigen Worten zu sagen „Wir sind alle Ukrainer“ (was ganz sicher nicht stimmt) oder „Wir stehen an der Seite des großen Russlands“ (auch falsch, wenn es falsch handelt), ist äußerst unpopulär, daher rührt die totale Einseitigkeit der meisten öffentlichen Vorträge von politischer Seite. Außerdem stehen handfeste Interessen hinter diesen Aussagen, die alles andere als altruistisch, hilfeorientiert einerseits und friedensorientiert andererseits sind. Es geht sehr oft um Macht, Ökonomie und um Ideologie.
Es wäre die Aufgabe von Journalist:innen, das alles verständlich darzustellen und einige tun das auch. Man muss aber manchmal etwas suchen, bis man solche Stimmen findet. Wir sind zum Beispiel niemandem verpflichtet und nicht ideologisch so gebunden, dass wir Perspektiven und Szenarien ausklammern oder bewusst falsch darstellten müssten, damit sie in unser Weltbild passen. So starr ist dieses nämlich nicht und wir sind immer bereit, angesichts neuer Erkenntnisse Positionen zu verändern. Dabei geht es nicht um Grundüberzeugungen wie den Antikapitalismus, sondern darum, zu überlegen, was ist in diesem Sinne die beste Lösung und darf man sich wirklich komplett auf die Seite eines fragwürdigen Regimes wie des russischen stellen, nur, weil man die westlichen Systeme hasst? Wir glauben nicht, dass man das darf und damit glaubwürdig und anderen Menschen zugewandt wirken kann.
Zum Jahrestag des russischen Einmarschs in die Ukraine hat die Weltgemeinschaft Präsident Wladimir Putin erneut mit großer Mehrheit zum Rückzug seiner Truppen aufgefordert. 141 der 193 Mitgliedstaaten in der UN-Vollversammlung stimmten für eine entsprechende Resolution. Mit Belarus, Nordkorea, Eritrea, Mali, Nicaragua und Syrien gab es sechs Länder, die zusammen mit Moskau gegen den Entwurf stimmten. Wie auch schon bei vorangegangenen Abstimmungen enthielten sich China und Indien, zwei mächtige Staaten und Handelspartner Russlands.
Am Rande der Vollversammlung forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock China auf, seinen Ankündigungen Taten folgen zu lassen und einen Friedensplan unter dem Dach der UN-Charta vorzulegen. Dies sei notwendig, weil China als UN-Sicherheitsratsmitglied nicht nur Vetorechte, „sondern eben als Mitglied eine besondere Verantwortung hat, den Weltfrieden wiederherzustellen“. Deswegen sei ein echter, von China unterstützter Friedensplan notwendig.
UN-Resolution für Truppenabzug: Russlands stärkste Partner enthalten sich – n-tv.de
Deswegen können wir an dieser Stelle auch schreiben, unbeschadet unserer manchmal fundamentalen Kritik an Außenministerin Baerbock, dass sie hier dazugelernt hat oder gut gebrieft wurde. Es darf China nicht erlaubt werden, mit einer Wünsch-dir-was-Liste Punkte bei den neutralen Ländern zu machen, ohne sich wirklich zeigen zu müssen. Nur China kann Russland bremsen, nur China kann Russland stabilisieren, wenn es zu einem für Russland ungünstigen Friedensschluss kommen sollte. Deshalb liegt der Schlüssel bei diesem ständigen Mitglied des Weltsicherheitsrates.
Würde dieses ständige Mitglied Druck auf Russland ausüben, würde sich erweisen, dass China wirklich am Weltfrieden und nicht nur am eigenen Nutzen interessiert ist, den man aus dem blutigen Konflikt ziehen kann. Bisher wirkt es so, als ob sowohl China als auch die USA ganz gut damit klarkommen, dass im Ukrainekrieg kein Ende abzusehen ist und in vorausgehenden Artikeln haben wir aufgezählt, warum beide ganz gut damit leben können. Angesichts der chinesischen „Initiative“ dieser Tage konzentrieren wir uns aber etwas mehr als bisher auf die chinesische Sicht der Dinge.
Was wir z. B. anders sehen als manche Analysten, die die USA offenbar etwas unterschätzen: China profitiert von der Lage, das ist eindeutig. Aber u. E. nicht in der Form, dass die USA keine Kapazitäten mehr hätten, sich im Pazifik strategisch zu positionieren, weil die Ukraine brennt. Das kriegen die Vereinigten Staaten mit ihren unzähligen Truppenstützpunkten in der Region und vielen Strategen und Experten, die auf diese Region spezialisiert sind, allemal hin und werden, wenn es die Lage erfordert, auch nicht finanziell durch Haushaltssperren gebremst. Was in normalen Zeiten ein Mittel der Opposition sein kann, um die Regierung zu zwiebeln, würde im Falle eines offenen Pazfik-Konflikts mit China nämlich als hochgradig unpatriotisch angesehen.
Die USA fallen also als aktive Beschleuniger eines Friedensschlusses in der Ukraine derzeit ebenso aus wie China, weil sie es einfach nicht nötig haben. Solange es nicht um Republikaner-Populismus, sondern um nüchternes Rechnen geht, sieht es sogar richtig gut aus für die Verienigten Satten, weil jetzt alle auch bei bisher unverkäuflichen, weil zu teuren Produkten aus US-Herstellung angelaufen kommen, die bisher mit Russland im Geschäft waren. Besonders Deutschland. Ganz wichtig für die USA: Dass keine eigenen Soldaten im Einsatz sind, anders als zuletzt noch in Afghanistan. Keine amerikanischen Toten = keine zwingende Notwendigkeit zur Deeskalation, sofern nicht wirtschaftlich-geostrategische Gründe eine andere Entscheidung angeraten sein lassen.
Wenn man bei China, aber auchbeim Westen etwas genauer hinschaut: Es geht es viel um den Eindruck, den man gegenüber den „Neutralen“ macht, die immer mächtiger werden und zu denen offiziell auch China selbst zählt. In dem Zusammenhang muss man sich sogar fragen, ob der Westen überhaupt ein Interesse an einem von China gestifteten Ukraine-Frieden haben kann, wie immer dieser auch aussehen mag. Wäre China nämlich Vermittler, nicht, wie es gegenwärtig mehrheitlich wahrgenommen wird, Partei zugunsten eines Angreifers, dann hätte das Land eine so gute geostrategisch wirksame Reputation wie nie zuvor, die wiederum die Welteroberung dank Soft Power erheblich unterstützen würde. Auch diese Sorge des Westens muss man immer mitdenken, wenn es darum geht, dessen Reaktion auf chinesische Vorschläge zu bewerten.
Wir haben oben mit „unentschieden“ gestimmt. Was wir uns wünschen, ist eine Sache. Was die beiden Supermächte zulassen oder fördern, eine andere. Die Ukraine spielt in diesen Überlegungen der Strategen auf dem weiten Feld der Geopolitik eine untergeordnete Rolle. Deren Regierung kann lediglich versuchen, die Lage auszunutzen, dass der Westen nicht klein beigeben will. So, wie Putin es als grundsätzlich schwächerer Partner ausnutzt, dass China ihn nicht einfach fallenlassen kann, ohne sich selbst in mehrfacher Hinsicht zu schaden. Der Preis für die chinesische Unterstützung wird für Russland hoch sein, das ist sicher. Die Ukraine hingegen wird vom Westen nach dem Krieg hochgepäppelt werden auf ein ökonomisches Niveau, das sie zuvor nie kannte, falls sie bestehen bleibt. Insofern hat Putin schon verloren, nämlich an Unabhängigkeit, wenn die Ukraine nicht ganz von der Landkarte verschwindet. Und selbst dieser Erfolg könnte ein zu hoher Preis sein, falls China die Option wählt, sich künftige Ausfälle dieser Art zu verbitten, um in Ruhe weiter wirtschaftlich voranstreben zu können. Für eine Zeit kann der Schwanz auch mal mit dem Hund wackeln, aber der Hund wird eine Reaktionsmöglichkeit darauf finden. Und wenn er sich hinsetzen und feste mit der Pfoto auf den eigenen Schwanz treten muss, um dessen allzu bereitwilliges Wedeln zu unterbinden.
TH