Edel sei der Mensch und gesund – Tatort 796 #Crimetime 1144 #Tatort #Berlin #Ritter #Stark #RBB #Gesundheit

Crimetime 1144 –  Titelfoto © RBB, Gordon Muehle

Da muss ein Stuhlkick

Edel sei der Mensch und gesund ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort. Der vom RBB produzierte Film wurde am 3. April 2011 erstgesendet. Kriminalhauptkommissar Till Ritter geht sein 30. Fall, auch aus privaten Gründen, sehr nahe. Zusammen mit seinem Kollegen Felix Stark, für den es sein 24. Fall ist, ermittelt er im Umfeld einer Arztpraxis, die das deutsche Gesundheitssystem anprangert.

Der Eindruck nach dem Film? Wir haben die Berliner Tatorte des Teams Ritter und Stark oft für diesen aufgesetzten Hauptstadtglamour kritisiert. Dieser entfällt beim 796. Fall komplett zugunsten einer Story aus dem Gesundheitswesen, die zwar nicht berlintypisch ist, sondern überall spielen könnte, aber die es in sich hat. Das heißt, sie könnte überall in Deutschland spielen, nicht in Ländern, in denen die medizinische Versorgung entweder grundsätzlich mies ist oder noch so gut ist, dass sie nicht durchökonomisiert werden muss. Die Frage ist, ob das so ein müsste, wenn man andere Prioritäten in anderen Bereichen setzen würde, aber dazu später mehr. Später, das heißt, in der –> Rezension.

Handlung (Eigene Kurzfassung in einem Satz)

Der Tod eines 68jährigen Mannes wirft Fragen auf, deren Beantwortung die Berliner Kommissare Ritter & Stark an die Basis es Medizinkomplexes führt, nämlich in die Praxis eines Internistenteams aus Vater und Sohn plus einer neuen Ärztin, welche die Zulassung des Vaters übernehmen will. Im Verlauf, in dem ethische und hippokratische Grundsätze gegen das Budgetierungssystem gestellt werden, entwickelt sich möglicherweise genau daraus eine tödliche Konsequenz für eine zweite Person im Geflecht aus Ärzten, Patienten und Beziehungen.

Handlung (ARD)

Einen Tag nach seinem letzten Besuch beim Hausarzt verstirbt Olaf Mühlhaus überraschend. Der Pensionär war unheilbar krank, doch unzählige Hämatome auf dem abgemagerten Körper des Leichnams lassen die Kommissare Till Ritter und Felix Stark daran zweifeln, dass die Erkrankung Ursache für den plötzlichen Tod des Mannes war.

Als die Obduktion ergibt, dass nicht etwa häusliche Gewalt, sondern ein Medikationsfehler zum Tod von Olaf Mühlhaus führte, geraten der behandelnde Arzt Dr. Gerhard Schmuckler und seine Praxisgemeinschaft ins Visier der Berliner Ermittler. Mühlhaus war seit Jahren bei Schmuckler in Behandlung – doch ausgerechnet am Tag vor seinem Tod kümmerte sich Antje Berger, die neue Ärztin im Team, um den chronisch kranken Patienten.

Während Ritter und Stark nach dem Verantwortlichen für den tödlichen Fehler fahnden, werden sie mit den Auswüchsen des krankenden Gesundheitssystems konfrontiert: teure Medikamente bei knappen Kassen, menschliche Schicksale wie das der kleinen Sophia Richthofen, deren Mutter Susanne nicht nur erbittert gegen die schwere Mukoviszidose ihrer Tochter, sondern auch mit den hohen Behandlungskosten zu kämpfen hat.

Rezension 

Ein großes Lob, das wir für die Berlin-Tatorte der Ritter & Stark-Ära bis zu „Gegen den Kopf“ selten aussprechen konnten, möchten wir auf „Edel sei der Mensch und gesund“ ausdehnen: Es hat uns hier wirklich gepackt. Mag schon sein, dass uns das Thema aus persönlichen Gründen nah ist, aber kranke, beinahe sterbende Kinder sind aber auch etwas, das nur veritable Steinseelen kalt lässt, und zu denen zählen wir uns nicht. Es sei denn, es wirkt unauthentisch, das ist in „Edel sei der Mensch und gesund“ nicht der Fall. Die Inszenierung ist bewusst ruhig, weil man sich für die Seriosität und das innere und zwischenmenschliche Drama entschieden hat, aber das ist so gut gemacht, dass uns die für heutige Tatorte eher langsame Gangart nicht gestört hat. Getreu unsere Maxime, es kann ein schneller, ein actionreicher oder ein sehr intensiv auf die Figuren oder das Sozialthema bezogener Tatort sein, wir wissen das alles zu schätzen, wenn es konsequent und glaubwürdig ist. Beides ist hier bis auf ein paar kleine Fehler oder Falschdarstellungen, die der Dramatisierung dienen könnten, der Fall.

Grundsätzlich wird man die Beschränkungen, welche das heutige Budgetierungssystem der Krankenkassen den Ärzten auferlegt, recherchiert haben, sodass genannte Zahlen wie Medikamente für 65 Euro pro GKV-Patient und Quartal stimmen dürften. Zumindest für die Verhältnisse von 2010 oder 2011. Ebenso die daraus erwachsenden Konsequenzen, nicht für die Medikamentierung, sondern auch für Behandlungen anderer Art und für Beratungsleistungen des Arztes am Patienten. Es dürfte aber nicht, wie im Film dargestellt, so sein, dass diese engen Grenzen auch für chronisch Kranke gelten, die Morbus Crohn oder Mukoviszidose aufweisen. Ganz unmöglich, diese mit 65 Euro pro Quartal zu versorgen. Wenn man’s genau nimmt, steht damit die hochdramatische Zuspitzung mit dem Mädchen und auch mit dem älteren Mann auf sehr dünnem Boden.

Grundsätzlich aber ist die Kritik am Gesundheitssystem berechtigt, wie es sich in den letzten Jahren entwickelt hat, und wir kennen Budgetgespräche und –aspekte, die genau diese Inhalte haben, die hier vermittelt werden, nämlich, dass nicht mehr das Bestmögliche für Patienten getan werden kann, sondern ein Mittelweg zwischen Budgets und hippokratischem Eid gesucht werden muss, der schon deshalb sehr heikel ist, weil, und das wird im Film ebenfalls angedeutet, aus Unterlassung bestmöglicher Maßnahmen auch strafrechtliche Konsequenzen folgen können. Hier ist es genau umgekehrt. Weil ein Arzt heimlich medikamentiert hat, ohne dies in der Krankenakte zu vermerken, verschreibt seine Vertretung ein Medikament, das mit dessen Verwendungen unvereinbar ist und den Tod des Patienten herbeiführt. Alle haben das Beste gewollt und sind Opfer des Systems geworden.

Was man aber noch hätte tun können: Zeigen, wie die Zahlung der quartalsmäßigen Praxisgebühr der GKV-Patienten, die tatsächlich gedacht gewesen sein sollte, um notorische Hypochonder zu zähmen, Ärzte entwürdigt und ihnen Inkassomaßnahmen aufbürdert, die nun wirklich systemfremd sind. Hätten Ärzte Lust auf solche Tätigkeiten gehabt wären sie Gerichtsvollzieher geworden. Das ist jetzt auch etwas zugespitzt, aber es ist ein Sakrileg am Selbstverständnis von Ärzten, das zwar in den Summen gering anmutet, aber eine wirkliche Demütigung von Menschen darstellt, deren Patienten wenigstens während der kurzen Besuchszeit in der Praxis mal nicht mit finanziellen Belangen konfrontiert sein sollten, eine Maßnahme die weit über diese geringen Beträge hinausgeht, die ihre Wirkung sowieso verfehlt hatten und ca. 2013 endlich abgeschafft wurden. Die Idee, Patienten die Artzbesuche so unangenehm zu machen und den Ärzten das Behandeln auch, dass sich in den Wartezimmern nur noch ein paar einzelne, kurioserweise seelisch besonders resistente Naturen verlieren, hat nicht funktioniert, und das ist gut so.

Ein Statement muss auch sein, schließlich haben wir eine politische Meinung zu alldem. Es ist leider richtig, auch dies wird anhand der Frau Dr. Berger klar, die Privatpatienten in ihr neues Berufsumfeld, die Praxis Dr. Schmuckler, mitbringen will: Die Privatpatienten subventionieren mit ihren hohen Beiträgen die Kassenpatienten. Besser, damit es nicht so auf Menschen bezogen klingt: Die PKV sorgt dafür, dass die GKV nicht pleite geht. Wir wären ja sehr für eine Bürgerversicherung, wenn es nicht dadurch folgenden Haken gäbe: Entfiele die PKV, würden die Leistungen für alle entweder gekürzt oder die GKV müsste teurer werden als bisher. Das aber wäre vor allem ein Vorteil für die Gutverdiener, die sich außerdem, denn das wird sicher niemals verboten werden, zusatzversichern können, um in etwa wieder den Leistungsstand der PKV zu erreichen.

Das wiederum heißt nichts anderes, als dass sich an der leider unbestreitbare Zweiklassenmedizin nur wenig ändern würde. Es ist, wie es ist: Gesundheit auf bestem technisch und medizinischen Stand ist heute nur noch für Wohlhabende. Und bei der Gelegenheit das Anschluss-Statement: Es könnte anders sein, wenn in Deutschland nicht unendlich viel Geld in Kanäle fließen würde, aus denen es garantiert nicht mehr zurückkommt. Gesunde Menschen, die gut behandelt werden, zahlen hingegen auf ihre Weise zurück – indem sie leistungsfähiger sind und vor allem, indem sich einsetzende Krankheiten nicht auswachsen und hohe Folgeschäden verursachen, die dann im Rahmen der Grundversorgung auf jeden Fall bezahlt werden müssen, denn an dieser wird wohl aus ethischen bzw. verfassungsrechtlichen Gründen kaum zu rütteln sein.

Der Krimi scheint demnach in den Hintergrund zu treten. Anfänglich ist sogar fraglich, wieso es überhaupt zum Einsatz der Gerichtsmedizin kommt, im zweiten Fall Dr. Berger natürlich nicht, aber der findet erst gegen Anfang des letzten Drittels des Films statt – mit einem überraschenden Ende, das von der Täterfigur ein wenig weit hergeholt scheint, aber Till Ritter zu dem Stuhlkick im Krankenhaus veranlasst, der uns die Schlagzeile zu diesem Tatort wert ist. Der selbst übrigens auch eine sehr gute Schlagzeile hat, an Goethe angelehnt, und, das muss man sagen, mit prägnanten Titeln, für die wir eh eine Schwäche haben, gehen die Berliner mit ihren Tatorten weiter voran als in irgendeinem anderen Punkt.

Der Krimi ist wirklich nicht das Hauptanliegen der Macher, wenn man ihn als konzentrierte Polizeiermittlung betrachten möchte. Aber das war bei Tatorten immer schon hin und wieder so, ist keineswegs eine neuere Entwicklung, wie wir mittlerweile aus über 300 Rezensionen wissen. Es ist eine Akzentuierungsfrage. Deswegen macht es auch nichts, dass das Ende scheinbar offen ist, nachdem die sympathischste von allen Figuren, Frau Richthofen, die Tochter des an Muskoviszidose erkrankten Mädchens, offenbar Frau Dr. Berger umgebracht hat. Die Hintergründe, das Motiv, sind komplex, aber gut gemacht, wie überhaupt die Seelenlagen und die daraus folgenden Handlungen aller Beteiligten sehr gut nachvollziehbar sind. Und das ist auch wichtig, neben der kriminalistischen Logik. Die Figuren sind fähig, uns einzubinden und zu emotionalisieren. Allerdings gilt das weit mehr für die Frauen als für die Männer. Eingeschlossen Ritter und Stark, die ein wenig verschnupft sind, ein schöner Kontrast zu den wirklich schwer Kranken im Film und um herauszustellen, dass hier keine Banalitäten verhandelt werden. Ritter und Stark wirken aber auch ein wenig lakonisch, insbesondere Stark ist dieses Mal etwas spärlich eingebunden. Ritter natürlich wieder dadurch, dass er eine Frau kennenlernt – es wird aber nicht dick aufgetragen, sondern dem Ernst des Themas gemäß agiert.

Am Ende aber kickt Ritter dann doch den bewussten Stuhl auf dem Flur des Krankenhauses, in dessen Notaufnahme die kleine Tochter von Frau Richthofen eingeliefert wurde. Aber er wird natürlich seine Erkenntnisse nicht verschweigen, und Frau Richthofen wird in irgendeiner Form wegen Totschlags verurteilt werden. Mindestens. Vielleicht in einem minder schweren Fall, angesichts der Umstände, sodass sie ihrer Tochter weiter zur Seite stehen kann – wegen der möglichen Aussetzung zur Bewährung bei einem Delikt nach § 213 StGB bei entsprechend geringem Strafmaß.

Es ist schon toll, wie hier Blicke und Gesten eingesetzt werden, wie Figuren aufeinander schauen oder am Fenster stehen und man weiß zunächst nicht, warum dieses Nachdenken über sich selbst un die anderen stattfindet – es hat auch etwas Lindenstraßenmäßiges, weil sich das ganze Beziehungsgeflecht in wenigen Häusern abspielt, und man kann von dem einen auf das andere schauen. Insbesondere die Arztpraxis, die Wohnung und das Café von Frau Richthofen sind eine Art sozialer Raum, ein menschlicher Mikrokosmos, der echte Kammerspielatmosphäre aufkommen lässt. Wenn man so will, ist es Lindenstraße plus zwei Todesfälle, die so gelaufen sind, dass die Kripo auf den Plan tritt – was sie dort aber sicher auch schon gemacht hat. Es ist aber besser gespielt, daran führt nichts vorbei. Wie erwähnt, vor allem die weiblichen Darsteller machen ihre Sache großartig und lassen uns an allen Emotionen teilhaben, die in diesem Film eine wichtige Rolle spielen.

Finale

„Edel sei der Mensch und gesund“ ist der letzte Tatort, den wir noch nicht „live“, also direkt nach der Erstausstrahlung, rezensiert haben (mit dem Tatort 797 („Jagdzeit“) aus München haben wir damit begonnen). Ganz sicher wirkt sich die mittlerweile gesammelte Tatorterfahrung positiv auf unsere Meinung zu diesem Film aus, wir können ihn gut in Relation zu den übrigen Ritter-Stark-Fällen setzen und auch zu denen anderer Teams.

Hätten Ritter und Stark noch etwas mehr gezeigt und wären nicht gewisse Fehler drin, die nicht ganz unwichtig für den  Handlungsverlauf sind, hätten wir wohl die bisherige Höchstwertung von 9/10 gegeben, wegen der intensiven Darstellung dieses Themas, das uns alle angeht oder noch angehen wird, wenn wir älter werden. So bleiben wir bei 8,5/10, aber das ist für Berlin ein herausragendes Votum, bisher nur für „Gegen den Kopf“ vergeben, der bei den Fans als einer der besten Tatorte überhaupt gilt.

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Regie Florian Froschmayer
Drehbuch
Produktion
Musik Oliver Kranz
Kamera Stephan Motzek
Schnitt Christian Sporrer
Premiere 3. Apr. 2011 auf Das Erste
Besetzung

 

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