Briefing 191 | PPP, Wahl zur Bremischen Bürgerschaft 2023
Die Zeiten ändern sich, vieles muss neu gedacht werden. Das gilt auf vielen Ebenen. Hat es die Politik schon begriffen? Wir werden es sehen. Wir ändern jedenfalls noch nichts an der Tradition, die Wahl-O-Mate auszufüllen, auch wenn wir in dem Bundesland, für das sie erstellt wurden, nicht wählen dürfen. Heute geht es um die Wahl zur Bremischen Bürgerschaft, wie der Landtag dort heißt.
Die Bürgerschaft des kleinsten heutigen Bundeslandes trat im Jahr 1433 erstmals zusammen. Da kann man wirklich von Tradition sprechen und es ist gar tröstlich, dass durch allen Wandel hindurch, natürlich auch mit Unterbrechungen, immer noch die Bremische Bürgerschaft gibt. In Hamburg heißt das Landesparlament ebenfalls Bürgerschaft, beide Bundesländer sind ja auch Hansestädte mit einer langen bürgerlichen Tradition. Trotzdem gab es nach der letzten Wahl im Jahr 2019 eine Mitte-Links-Premiere:
Das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hatte die SPD die relative Mehrheit der Stimmen verloren und die CDU wurde stärkste Partei in der Hansestadt. Allerdings einigten sich SPD, Grüne und Linke auf einen Koalitionsvertrag, sodass die SPD weiterhin den Bremer Bürgermeister stellen konnte. Das Bündnis bedeutet die erstmalige Regierungsbeteiligung der Linken in einem westdeutschen Bundesland. Nachdem der bisherige Bürgermeister und Spitzenkandidat der SPD, Carsten Sieling, seinen Rücktritt angekündigt hatte, wurde Andreas Bovenschulte am 15. August 2019 zu dessen Nachfolger gewählt.[15]
Die damals geschnürte Koalitionsbündnis hat bis heute durchgehalten. Nach aktuellen Umfragen könnte die SPD sich wenigstens wieder als stärkste Partei etablieren (28 bis 30 Prozent), die Union würde ihr letztes Ergebnis etwa halten (25,5 bis 28 Prozent), die Grünen würden klar verlieren, die Linke wohl ebenfalls etwas abgeben müssen. Allerdings wäre angesichts des Zustands der Gesamtpartei jedes zweistellige Ergebnis für die Linke ein herausragender Regionalerfolg. In die nächste Bürgerschaft wird aber wohl mit gegenwärtig etwa 9 Prozent Umfragewert eine Gruppierung einziehen, die es in anderen Bundesländern nicht gibt, das oder die BIW.
Die Abkürzung BIW steht für “Bürger in Wut”. Es ist eine deutsche rechtspopulistische Partei mit Sitz in Bremerhaven, die bei Wahlen nur im Bundesland Bremen antritt. Die BIW selbst bezeichnen sich als bürgerlich-konservative Wählervereinigung12.
In Bremen kam es nach der letzten Wahl zu einer Spaltung der AfD-Fraktion, die AfD wurde von den aktuellen Wahlen ausgeschlossen, davon profitiert nun diese neue Gruppierung. Wir rechnen deren Stimmen also im Wesentlichen den Menschen zu, die ansonsten AfD gewählt hätten oder den Freien Wählern in anderen Bundesländern nahestehen. Bremen war stets eine Stadt mit linker Prägung, das wird sich auch nach der heutigen Wahl nicht ändern, zumal sich die SPD wohl wenigstens ein paar Stimmen wird zurückholen können. Das wäre auch für Kanzler Scholz ein positives Signal, angesichts der wieder einmal schwachen Umfragewerte der SPD im Bund. Die aktuelle Koalition hat gemäß den Umfragewerten wohl genug Stimmen zu erwarten, um ihre Arbeit fortsetzen zu können.
Welche Partei aber würden wir wählen, wenn wir in Bremen abstimmen dürften? Wie immer werden wir bei einigen Regionalthemen, die uns nicht geläufig sind, „neutral“ angeben. Damit geht es schon gleich los, weil die Frage lautet „Soll die Außenweser für große Schiffe vertieft werden?“. Wir haben zwar eine Idee dazu, welche Parteien welche Position vertreten könnten, aber wir springen jetzt nicht zu diesen Positionen, um nachzusehen, welchen Argumenten wir uns wohl anschließen würden, wären wir Bremer Bürger. Auch das nächste Thema ist regional: Die Bremer Mietpreisbremse. Abschaffen oder beibehalten? Da sind wir aus unseren negativen Berliner Erfahrungen mit dem Umgang der Politik mit den Mietenden ganz klar für eine Beibehaltung. Es handelt sich zwar um eine örtliche Besonderheit, aber das Thema Mietenwahnsinn ist nicht nur in Bremen drängend und wir haben uns aus Berliner Sicht damit umfassend auseinandergesetzt. Auch die öffentliche Trägerschaft von Krankenhäusern ist ein überregionaler Gegenstand: Ganz klar, wir sind dafür, dass Krankenhäuser verstärkt dem neoliberalen Gewinnerzielungsprinzip entzogen werden, das ist bei öffentlichen Trägern nun einmal eher möglich. Das Gleiche gilt selbstverständlich für Alten- und Pflegeheime. Weitere Erklärungen und Ansichten unter dem Ergebnis:
Und so haben wir bei den einzelnen Themen abgestimmt:
Dass wir dieses Mal mit keiner Partei ein Übereinstimmungsergebnis von mehr als 90 Prozent erzielen würden, war im Grunde klar, angesichts der Tatsache, dass wir einige Male mit „neutral“ gestimmt haben, auch wenn es Parteien gibt, die zu manchen Themen ebenfalls neutral stehen. Außerdem haben wir bewusst ein paar konservative Akzente gesetzt, zum Beispiel bei der Frauenquote im ÖD. Uns hat schlicht das „mindestens“ vor „50 Prozent“ gestört. (Für Führungspositionen von landeseigenen Betrieben soll es eine verbindliche Frauenquote von mindestens 50 Prozent geben.) Wir sind zudem nach wie vor der Ansicht, dass gerade bei Führungspositionen vor allem die bestmögliche Qualifikation den Ausschlag geben sollte. Ob Männer-Seilschaften oder Frauenquote, beides kann das beste Ergebnis für die Besetzung einer Stelle verhindern.
uch „Abitur (erst) nach 9 Jahren“ ist sicher eine eher konservative Position, die wir aber unterstützen. Die Qualität der Bildung in den Sekndarschulen, gerade in Städten wie Berlin und Bremen, ist so schlecht, dass die Beendigung nach acht Jahren nicht zu verantworten ist. Im Grunde müsste hier wie dort die Sekundarstufe zehn Jahre dauern, damit ein auskömmliches Niveau erzielt wird. Einige Fragen, nicht allzu viele, haben wir doppelt bewertet, darunter die oben erwähnte Frage der Trägerschaft von Betrieben, die im Kern der Daseinsvorsorge oder des städtischen Services angesiedelt sind.
Ansonsten sind wir sozusagen im linksgrünen Mainstream angesiedelt, da fühlen wir uns eigentlich auch ganz wohl, abgesehen von der Tatsache, dass wir bei uns selbst den richtigen Drive zum Klassenkampf nicht immer verspüren. Der wäre dann aber nicht mehr Mainstream, und zu Wahlen gehen oder sich mit ihnen so zu befassen, wie wir es hier tun, ist immer systemaffin, sofern man nicht eine Kleinstpartei wählt, die ohnehin keinen politischen Einfluss ausüben kann.
Dass wir ein Thema doppelt gewichten, das nur an einem einzigen Tag des Jahres relevant ist oder sein sollte, wie das dringend notwendige Verbot von privatem Silvesterfeuerwerk, liegt wiederum daran, dass wir uns damit hier schon ziemlich beschäftigt haben, weil es in Berlin in dieser Sache immer wieder zu unhaltbaren Zuständen kommt. Dies oft schon lange vor Silvester.
Beinahe traditionell ist Die Partei am Ende weit vorne. Auf dem ersten Platz liegt aber eine Gruppierung, die wir bisher nicht kannten und die sich MERA nennt.
MeRA25 ist eine paneuropäische Bewegung namens “Demokratie in Europa 2025” (DiEM25), die 2016 unter anderem von dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis ins Leben gerufen wurde. Die Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, eine stärker direktdemokratische, solidarischere und nachhaltigere Europäische Union zu schaffen12. MeRA25 selbst ist eine links-grüne Partei, die 2018 gegründet wurde und bei der Bürgerschaftswahl Bremen 2023 antritt13.
Wir sind keine direkten Fans von Yannis Varoufakis, dem wir bei einer Veranstaltung an der Berliner FU schon live erleben durften, was aber eher an einigen seiner Positionen als an seiner Person liegt; was ChatGPT oben kurz über MERA zusammengefasst hat, trifft es aber ganz gut: Die EU muss endlich ihr neoliberales Gepräge ablegen, das darauf ausgerichtet ist, Menschen immer mehr zu ökonomisieren, sie konsequent und unter Ausnutzung des Nationalismus gegeneinander aufzustellen, damit wir der europäischen Integration aus vollem Herzen zustimmen können. Eine Integration Europas, die auf sozialer Desintegration fußt, ist nicht unsere Vorstellung von dem Kontinent, auf dem wir leben wollen. In Bremen würden wir aber Die Linke wählen, die auf Platz drei unserer Liste steht, damit die jetzige Koalition mit einer starken Betonung des Sozialen fortgesetzt werden kann.
Das BIW steht erwartungsgemäß ziemlich am Ende der Liste, aber gemäß unseren oberen Ausführungen gibt es sicher auch die eine oder andere Position, bei der wir übereinstimmen. Den Vogel schießt wieder einmal die FDP ab. Wer diese Partei wählt, ohne dass man ihm zu attestieren hat, dass bei ihm nicht alle Schrauben fest angezogen sind, muss wirklich Erzkapitalist:in oder Lakai dieser Klasse sein, mit dem Gesicht immer dort, wo diese Klasse auf die Gesellschaft und das Gemeinwohl furzt, das sie so sehr ausnutzt wie keine andere Klasse. Lakaien halten den üblen Geruch, der dabei entsteht, um kleiner Vergünstigungen willen gerne aus. Wir stehen auf der Seite der Arbeitenden, deswegen haben wir (mit doppelter Gewichtung) auch für die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich gestimmt. In vielen Branchen werden kürzere Arbeitszeiten ohnehin die Zukunft sein, wenn es nicht zu hoher nomineller Arbeitslosigkeit kommen soll.
Dies fußt aber auf Produktivitätsfortschritten durch weitere Automatisierung und vermehrt durch KI, davon müssen auch die Arbeitenden durch vollen Lohnausgleich profitieren. Irgendwann wird es auch zu einem echten Bürgergeld kommen müssen anstelle der Umlabelung von Hartz IV, denn es wird nicht mehr genug auskömmliche Arbeit für alle da sein, so sehr sie sich auch bemühen, eine solche zu finden. Gegenwärtig werden zum Beispiel im Einzelhandeln noch viele Menschen gesucht. Man sieht aber in Berlin schon, wo es hingegen wird: Zur absoluten Selbstbedienung, inklusive der Kassen und zu weiteren Verschiebungen in Richtung Online-Handel. Das ist nur einer von vielen Bereichen, in denen die Notwendigkeit des Einsatzes von Menschen sich drastisch reduzieren wird, der gesamte Verkehrs- und Logistikbereich ein weiterer. Bleiben wir doch noch etwas beim Thema Wirtschaft:
Zur Außenweser hat übrigens „Die Partei“ folgende Position: „Man sollte sie nicht vertiefen, sondern für längere Schiffe verlängern“. Diese Partei muss man irgendwie liebhaben, oder? MERA und viele andere sind dagegen. Die Linke ist, wie so oft, in einem Dilemma gefangen:
„Die geplante und beantragte Vertiefung der Außenweser auf 13,5 Meter Fahrrinnentiefe hat erhebliche ökologische Auswirkungen und wird bereits dazu führen, dass sich Sturmfluten stärker bis nach Bremen auswirken. Wir tragen diese Vertiefung aus Gründen der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit der Bremischen Häfen noch mit, aber es muss die letzte sein. Eine weitere Vertiefung über diese Maßnahme hinaus kommt nicht in Frage.”
Es ist nicht so einfach wie bei den rein ökologisch orientierten Parteien, die sich nicht sehr um die ohnehin in Bremen raren guten Arbeitsplätze sorgen und anstatt der Vertiefung mehr internationale Kooperation anstatt Konkurrenz, wie MERA es sich wünscht, ist ebendies: Ein Wunsch. Die niederländischen Häfen gewinnen auf Kosten von Hamburg und Bremen im europäischen Vergleich sowieso immer mehr Marktanteile. Wir sehen also dieses Dilemma auch in unseren eigenen Ansichten gespiegelt: Wie ist in manchen Bereichen das ökologisch Wünschenswerte mit der Notwendigkeit in Einklang zu bringen, dass auch Geld für die Einrichtung der transformierten Wirtschaft bei akzeptablen Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung da sein muss, die nicht zur herrschenden Klasse zählt? Vor allem der wichtige Containerhafen, der einmal das größte Terminal Europas hatte, ist dabei ein wichtiger Faktor.
„In Bremerhaven führt der vorerst ungebrochene Anpassungsdruck hin zu immer größeren Containerschiffen zur geplanten Vertiefung der Außenweser. Vor dem Hintergrund der angestrebten mittel- und langfristigen Hafenkooperation, insbesondere mit dem anteilig Bremen gehörenden Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven, halten wir die Außenweservertiefung für nicht erforderlich. Auch wegen ökologischer Bedenken möchten wir eine Außenweservertiefung vermeiden.” (Die Grünen)
„Die Bremer Häfen sind zentrales Element der Bremischen Wirtschaft. Sie sichern tausende Arbeitsplätze ab und legen den Grundstein für den Wohlstand in unserem Land. Wir wollen, dass sie auch zukünftig im internationalen Wettbewerb bestehen können. Dafür ist es wichtig, dass auch zukünftig große Containerschiffe Bremerhaven ansteuern können.” (SPD)
Auch in der Bremer Regierungskoalition gehen die Meinungen also auseinander. Letztlich werden die Grünen sich aber wohl nicht sperren, so wirkt deren Positionierung auf uns. Zumal, wenn sie bei der heutigen Wahl eine Niederlage einfahren und die SPD aus ihr gestärkt hervorgehen sollte.
Nachdem wir dieses Thema nun doch etwas – sic! – vertieft haben, wünschen wir den Bremer:innen heute ein gutes Händchen bei der Wahl und dass sie für sich das Richtige tun.
TH