UPDATE 3: „Der wahre Sieger der Türkei-Wahl“ (Die Welt) +++ Rechtsruck, Nationalismus, Islamismus +++ Willkommen, Brillante +++ Die Wahlergebnisse 2023 +++ Türkei, Demokratie? +++ So haben Türk:innen im Ausland bisher gewählt (Statista + Kurzkommentar) | Briefing 188 | Geopolitik

Briefing 188 | Warum die Wahlen in der Türkei auf jeden Fall eine besorgniserregende Tendenz zeigen würden – auch wenn Recep Erdogan die Stichwahl verlieren sollte

Dieses Update zur Türkei-Wahl bzw. zum bereits abgewickelten Teil und der noch bevorstehenden Stichwahl am kommenden Sonntag (28.05.2023) um die Präsidentschaft müssen wir Ihnen unbedingt ans Herz legen. Der Artikel, um den es geht, stammt von Deniz Yücel. Hier zum letzten Update, das auch diesem Beitrag angehängt ist:

UPDATE2: „Die Stichwahl in der Türkei ist schon entschieden“ +++ Willkommen in Deutschland, Ihr Brillanten +++ Die Ergebnisse der Wahlen in der Türkei 2023 +++ Ist die Türkei eine Demokratie? +++ So haben Türk:innen im Ausland bisher gewählt (Statista + Kurzkommentar) | Briefing 188 | Geopolitik

Der wahre Sieger der Türkei-Wahl (msn.com)

Deniz Yücel – Wikipedia

Den Namen haben Sie sicherlich schon gehört. Yücel ist einer der prominentesten Journalisten hierzulande mit türkischem Hintergrund und war von 2017 bis 2018 in der Türkei wegen angeblicher Terrorpropaganda inhaftiert, obwohl er deutscher Staatsbürger ist. Jetzt erklärt er uns trotzdem, warum es nicht nur den bösen Recep Erdogan und die gute Opposition gibt, sondern dass die Lage in der Türkei komplexer ist. Wir waren von diesen Einsichten überrascht und stellen wieder einmal fest, dass es sich lohnt, an einem Thema dranzubleiben und es etwas mehr zu vertiefen.

Ob Langzeitherrscher Erdogan bei der Stichwahl am 28. Mai sein Amt verteidigt oder nicht: Die ultranationalistische Rechte verzeichnet starken Zuwachs über Parteigrenzen hinweg. Es geht viel um Feindbilder und wenig um Probleme der Türkei. Mit einer Ausnahme, leitet Yücel seinen Artikel ein.

Wahlergebnis: Erdogan hat die absolute Mehrheit verfehlt und muss in die Stichwahl gegen Kilicdaroglu. Die ultranationalistische Rechte hat starken Zuwachs über Parteigrenzen hinweg verzeichnet.

Nationalismus und Islamismus: Erdogan hat sich ideologisch der MHP angenähert und eine Allianz aus Nationalismus und Islamismus geschmiedet. Die Opposition hat sich um den Laizismus gesammelt, aber auch radikal-islamistische Kräfte ins Parlament gebracht.

Migration als Schlüsselthema: Erdogan hat die prokurdische HDP und die PKK als Feindbilder benutzt. Kilicdaroglu will die Stichwahl zu einer Volksabstimmung über Migration machen und Millionen von Flüchtlingen abschieben.

Die MHP ist eine radikalnationalistische, rechtspopulistisch-militaristische Partei, die im zweiten Wahlgang Recep Erdogan unterstützen wird, was seine Wiederwahl so gut wie sicher macht. Im ersten Wahlgang gab es einen eigenen Kandidaten, der ca. 5 Prozent der Stimmen erhielt. 

Aber auch im Lager der größten Oppositionspartei CHP, die eher als sozialdemorkratisch gilt, haben sich Nationalisten gesammelt, sodass über die Parteigrenzen hinweg eine Stärkung der nationalistischen Strömungen zu beobachten ist, die sich mit islamistischen Tendenzen vereinigen. Die CHP ist die älteste türkische Partei und wurde vom großen Reformer Kemal Atatürk im Jahr 1923 gegründet.

Wir finden diese Verbindung von Nationalismus und Islamismus stimmig, obwohl der Nationalismus grundsätzlich mit der Religiosität konkurriert, weltanschaulich gesehen. Doch der politische Missbrauch von Religion ist ist bezüglich der verwendeten propagandistischen Methoden auf ähnliche atavistische oder erlernte rückständige Haltungen und deren Förderung ausgerichtet wie der Nationalismus. Uns ist sofort der „Türkei-Deal“ aus dem Jahr 2016 eingefallen, über den wir noch im alten oder ersten Wahlberliner berichtet hatten und der besagt, dass die Türkei der EU gegen erhebliche finanzielle Zusagen bei der Abschottung der „Balkanroute“ hilft, über die im Herbst 2015 eine Million Menschen nach Deutschland gelangt sind. Was wird aus diesem Deal werden, wenn in der Türkei, muslimische Brüder und Schwestern hin oder her, Millionen von Menschen abgeschoben werden?

Sind die Wahlen dennoch, egal, wie sie ausgehen, ein Sieg der Demokratie, weil sie möglicherweise nicht gefälscht sind? Wir haben uns dazu in den vorausgehenden Updates schon geäußert: eher nicht. Denn Freiheit der Wahl bedeutet auch, dass alle Politiker, die man wählen können sollte, in Freiheit sind und auch sonst nicht daran gehindert werden, Werbung für sich und ihre politische Agenda zu machen.

TH

Im gestrigen Update hatten wir den (bisherigen) Verlauf einer Wahl nachgezeichnet, im Ausgangsartikel das frühere und zu erwartende Wahlverhalten insbesondere der Türken in der Diaspora behandelt und heute wagen wir einen Ausblick auf die Stichwahl zwischen Recep Erdogan (AKP) und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP).

Für dieses Update können wir uns im Grunde auf einen Artikel beschränken, der genau das wiedergibt, was wir  im Update 1 geschrieben haben. Die Sache ist gelaufen, auch wenn Erdogan es dieses Mal etwas schwerer hatte als zuletzt. Es war aber nicht das erste Mal in seiner politischen Karriere, dass er in eine Stichwahl musste. Im Grunde ist sein Ergebnis herausragend, wenn man bedenkt, wie er die Türkei zuletzt in Schwierigkeiten gebracht hat. Nachgezeichnet wird im Artikel auch das, was wir über die türkische Community in Deutschland geschrieben haben. Dieses Mal von türkischer Seite, was den Vorteil hat, dass jemand es sagt, der selbst dieser Nationalität angehört. Auch die Einschätzungen zum Stand der türkischen Demokratie geben in etwa unsere Wahrnehmung wieder: keine gefälschten Wahlen, aber frei ist trotzdem etwas anderes.

In einem weiteren interessanten Beitrag wird der Türkein ein (weiterer) „Exodus der Brillanten“ vorhergesagt. Can Dündar, der in Deutschland ein bekannter Name ist, vielleicht bekannter als in der Türkei,  Sein Telefon klingelt ununterbrochen, sagt er, weil sich Menschen nach Exilierungsmöglichkeiten nach Deutschland erkundigen. Die wollen tatsächlich hier mit all den Erdogan-Anhänger:innen zusammenleben? Wir hätten nichts dagegen, wenn die türkische Community in Deutschland etwas ausgeglichener würde, wir hatten ja geschrieben, dass stanbul und die Westtürkei ein ganz anderes, viel moderneres Gepräge haben, als man es nach den hiesigen Verhältnissen für die gesamte Türkei vermuten würde. Aber würden wir als türkische Intellektuellet ausgerechnet nach Städten wie Berlin schauen, wenn es um den Exodus geht? 

Aber auch das Bild ist natürlich nicht vollständig, denn die große deutsch-türkische Community besteht immerhin zu etwa einem Drittel aus Menschen, die Erdogan im ersten Wahlgang ihre Stimme nicht gegeben haben. Wir hoffen, dieser Anteil wird sich künftig erhöhen und würden uns sehr freuen, wenn möglichst viele, die eine weltoffene, neue oder wiedererschaffene, säkulare Türkei aus dem Exil heraus fördern wollen, sich hier ansiedeln würden. Wie schwierig es wird, von hier aus Opposition zu machen, kann man wieder im ersten Artikel nachlesen. Aber es ist nicht neu, dass die DITIB hier machen darf, was sie will und dabei hilft, dass wir es weiterhin mit dem mittlerweile Halbdiktator Recep Tayyip Erdoğan zu tun haben werden, der die ohnehin schwierige Integration der hiesigen türkischen Community mit voller Absicht zu sabotieren und zu verhindern versucht.

Dabei geht es keinefalls darum, jemandem die kulturelle Identität  zunehmen, sondern ein Miteinander auf Augenhöhe und in Frieden zu ermöglichen. Integration ist nicht Assimiliation, aber Herr Erdogan versucht, den Leuten genau dies einzureden. Eine Anmerkung muss natürlich immer sein: Es ist nicht das Phänomen einer nationalen Community alleine, dass die Medienrezeption nicht in allen Bevölkerungsteilen die beste und kritischste ist. Sonst hätten wir in Deutschland nicht Politiker an der Regierung, die wir haben und die so oft gegen die Interessen der Mehrheit handeln. Bei der türkischen Community kommt aber hinzu, dass sie der Herkunft nach eben kein Durchschnittspanorama der Türkei darstellt. Jeder oder jede „Brillante“, der aus der Türkei hierher kommt, sollte also mit offenen Armen empfangen und unbedingt hier gehalten werden. Wir wünschen uns aber nicht, dass es in der Türkei nie besser werden soll, denn es geht um 85 Millionen Menschen, von denen die Hälfte mehr oder weniger stark unter den Verhältnissen leidet.

TH

Im Ausgangsartikel hatten wir uns vor allem mit dem Wahlverhalten türkischstämmiger und mit Wahlrecht in der Türkei ausgestatteter Menschen in der Diaspora befasst, mit dem Hintergrund, dass immerhin drei Millionen Menschen mit türkischer Herkunft in Deutschland leben. Damit ist die deutsch-türkische Community die größte jenseits der Türkei selbst.

Heute geht es aber um die Ergebnisse der gestrigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, wozu Statista wieder eine Grafik erstellt hat:

Infografik: AKP wieder stärkste Partei – Erdoğan muss in die Stichwahl | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Der amtierende türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan liegt laut aktuellen Stimmauszählungen im Rennen um die Präsidentschaft vorn. In den letzten Umfragen vom 4. Mai 2023 hatte sein Konkurrent Kılıçdaroğlu noch etwa fünf Prozentpunkte Vorsprung. Da aber voraussichtlich keiner der beiden Kandidaten über 50 Prozent der Stimmen erreichen wird, bahnt sich eine Stichwahl zwischen dem Vorsitzenden von AKP und dem Oppositionsführer am 28. Mai an.

Bei der Parlamentswahl ist Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) weiterhin die stärkste Kraft mit 35,4 Prozent der Stimmen (98,7 Prozent der Stimmen ausgezählt). Die Regierungspartei verliert jedoch im Vergleich zur Wahl 2018 rund 7,1 Prozentpunkte und damit auch die meisten Sitze (29) im Parlament. Die linkspolitische Cumhuriyet Halk Partisi kommt auf 25,4 Prozent – ein Zugewinn von etwa 2,8 Prozentpunkten gegenüber 2018. Auffällig ist, dass vor allem die politisch rechten Parteien an Stimmen verloren haben. Zum ersten Mal ins Parlament einziehen wird die grüne Yeşil Sol Parti (YSP). Mit einem Stimmenanteil von 8,8 Prozent, ist sie der größte Gewinner bei der diesjährigen Wahl (2018 noch nicht angetreten). In den Ergebnissen der Parlamentswahl spiegelt sich ein Umdenken der Bevölkerung wider – das rechte Regierungsbündnis bekommt die Unzufriedenheit der Türk:innen zu spüren, während linke und grüne Politik mehr Anhänger:innen findet.

Die Ergebnisse könnten jedoch in der Realität noch deutlicher zugunsten der Opposition ausfallen. Denn Erdogan und Anhänger:innen der Regierungspartei AKP werden von einflussreichen Oppositionellen taktische Manöver bei der Stimmenauszählung vorgeworfen. In Oppositionshochburgen lege die islamisch-konservative AKP bewusst Einspruch gegen die Ergebnisse ein, sagte beispielsweise Istanbuls Bürgermeister Mansur Yavas (CHP).

Was uns irritierte, war, dass sie zuletzt drittstärkste Partei (2018), die HDP, gar nicht auf der Grafik zu finden ist. Dass sie auf einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl verzichtet hat, war schnell in Erfahrung zu bringen. Diese „Partei der Kurden“ wollte mit dem Verzicht die Opposition und den CHP-Kandidaten gegen Erdogan unterstützen. So haben sich viele andere Parteien auch verhalten. Damit wurde Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ein Sammlungskandidat, der fast die komplette Opposition hinter sich bringen konnte. Trotzdem sieht es im Moment so aus, als ob Recep Tayyip Erdoğan einigermaßen beruhigt in die Stichwahl gehen kann – fast 50 Prozent im ersten Wahlgang dürften im zweiten ausreichen, um zu gewinnen, wenn nicht noch etwas Dramatisches passiert.

Präsidentschaftswahl in der Türkei 2023 – Wikipedia

Das mag schade sein, aber Menschen mit türkischem Hintergrund, die in Deutschland leben, pflegen uns zu versichern, dass Erdogan von unseren Medien immer gebasht wird und eigentlich ein herausragender Politiker ist. Das ist natürlich ganz pauschal und nicht auf die kurdischstämmigen Menschen aus der Türkei bezogen, die hier leben. Es hat aber einen leicht nachvollziehbaren Grund: Die meisten, die über Jahrzehnte hinweg in die BRD kamen, stammen aus den ländlichen Gegenden vor allem im Osten der Türkei, auch der Gebiete mit hohen kurdischen Bevölkerungsanteilen, in denen die AKP, Erdogans islamisch-konservative Partei, besonders stark vertreten ist. Man sieht das auf der Karte sehr schön, die Sie hinter dem Link zur Wikipedia finden. Istanbul zum Beispiel, eine Weltstadt von der mehrfachen Größe Berlins, hat einen Bürgermeister von der CHP, die mit ihrem Präsidentschaftskandidaten wohl scheitern wird. In den Großstädten, im Westen, in den Urlaubsgebieten hingegen wurde Erdogan weitaus weniger häufig bevorzugt. Es ist die Türkei, die in Deutschland wegen der Zuwanderung vor allem aus dem „Bauch“ des Landes, den ländlichen Regionen Anatoliens, nicht so bekannt ist; es ist die fortschrittliche und weltoffene Türkei mit vielen gut ausgebildeten und kulturell progressiven Menschen, die Erdogan jetzt immerhin einen Denkzettel verpassen wird.

Ganz klar, wir hätten uns seine Abwahl gewünscht, auch um des deutsch-türkischen Verhältnisses willen, das viel besser sein könnte, wegen der Lage der Menschenrechte in der Türkei und damit wieder tatsächlich faire Wahlen stattfinden können, die nicht dadurch beeinflusst werden, dass man Oppositionspolitiker drangsaliert oder gar ins Gefängnis steckt, potenzielle Wähler:innen der Opposition bedroht.

Damit haben wir auch die Erklärung dafür, warum eine so bedeutende politische Kraft wie die HDP gar nicht an den Parlamentswahlen teilnahm:

Die HDP hat sich entschieden, nicht an den Wahlen teilzunehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer der Gründe ist die Verhaftung von HDP-Mitgliedern und -Führungskräften durch die türkische Regierung. Die HDP hat auch angegeben, dass sie glaubt, dass die Wahlen nicht frei und fair sein werden1. (Antwort auf meine Frage, warum die HDP nicht teilgenommen hat von ChatGPT).

Geben die Wahlen in der Türkei also das wieder, was die Menschen wirklich denken? Bezüglich der Parlamentswahlen sind Zweifel angebracht, bei den Präsidentschaftswahlen sieht es schon eher nach einer validen Wiedergabe der Stimmung in der Bevölkerung aus, denn wer nicht für Erdogan ist, konnte ja seinen Herausforderer wählen, auf den sich fast alle Oppositionsparteien, auch die an den Parlamentswahlen nicht teilnehmende HDP, verständigt haben. Sofern die Wahlergebnisse also nicht gefälscht sind, sofern es nicht auch hier Durchstechereien und Repressionen gab, die Wahlen also auch geheim waren, hat Erdogan trotz vieler Probleme der Türkei durch seine Politik in den letzten Jahren immer noch etwa die Hälfte der Bevölkerung hinter sich. Ist die Türkei also doch noch eine vollständige Demokratie?

Laut dem neuesten verfügbaren Demokratieindex ist sie das nicht, sondern eine Mischform aus Autokratie und Demokratie: Democracy Index 2022 – Demokratieindex – Wikipedia, und zwar dichter an den vollständigen Autokratien als an den vollständigen Demokratien. Damit gibt es weiterhin im gesamten vorderasiatischen Raum keine einzige vollständige Demokratie. Als am meisten demokratisch wird immer noch Israel angesehen, mit ansteigender Tendenz über viele Jahre hinweg, aber noch immer mit dem Status einer unvollständigen Demokratie (gegenwärtig Platz 29 auf dem Index). Auch viele EU-Staaten werden nach den Maßstäben, die diesem Index zugrundeliegen, noch nicht als vollständige Demokratien bewertet. Deutschland liegt in diesem Ranking auf einem für die hiesigen Verhältnisse und Möglichkeiten mittelmäßigen 14. Platz, aber immerhin ohne wesentliche Verschlechterung seit 2006. Eine solche nehmen wir in der Tat auch eher bei den Bürger-  und Menschenrechten wahr als bei den formalen Bestandteilen der Demokratie.

Die Türkei liegt jedoch nur auf Platz 103 von fast 200 bewerteten Staaten. Richtiggehend schockiert hatte uns bei einer kürzlichen Recherche, dass die Türkei zu den Ländern mit den schlechtesten Arbeitnemer:innenrechten weltweit zählt, was aber wiederum beim Menschen- und Grundrechte-Index eine Rolle spielt.

Ganz hinten natürlich Kandidaten wie Nordkorea, Myanmar und Syrien.

Was diesen Ländern nicht passieren kann, weil sie sowieso ganz unten im Demokratieindex stehen: Die Türkei hat sich seit 2006 um etwa 1,5 Punkte verschlechtert. Das ist eine der negativsten Entwicklungen in allen Ländern, die sowohl Potenzial nach oben als auch nach unten haben (5,9 Punkte 2006, jetzt 4,35 Punkte). Sehr schade, aus unserer Sicht, dass es nicht in die andere Richtung gegangen ist. Das hätte auch die Anbindung der Türkei an die EU ermöglicht, die wir nicht aus kulturellen, sondern aus politischen Gründen ablehnen. Diese Ablehnungsbegründung, die sich auf die Menschenrechte bezieht, wird allerdings ergänzt dadurch, dass mit der Kultur allzu sehr Politik gemacht, dass seitens Präsident Erdogan und seiner DITIB-Helfer in Deutschland die Unzufriedenheit von Menschen mit türkischem Hintergrund geschürt und Abgrenzung gepredigt wird, wo wir doch dringend mehr Verständnis füreinander bräuchten, um die Zukunft gemeinsam bewältigen zu können.

Jetzt wurde leider die Chance für eine Annährung an Europa verpasst und es wird fünf Jahre dauern, bis sich diese Tür wieder öffnet. Es sei denn, Recep Erdogan denkt über seine geopolitische Rolle noch einmal nach. Falls er das tut, so unsere Befürchtung, wird er allerdings eher dazu tendieren, die Streitigkeiten zwischen den Großmächten noch mehr auszunutzen und dabei in den Konflikten der Region die Türkei als Partei aufzustellen, als dass er sich für eine friedliche Heimat in Europa begeistern könnte.

Wir fassen den Ausblick so zusammen: Wenn der Islam zu Deutschland gehört, könnte die Türkei auch zu Europa gehören. Aber unter diesem aktuellen und wohl auch künftigen Präsidenten sehen wir keine Chance auf einen Fortschritt bei den EU-Beitrittsverhandlungen, die schon seit längerer Zeit geführt werden.  

TH

Wird Recep Tayyip Erdoğan es noch einmal schaffen? Diese Frage bewegt die Türkei, bewegt die Kommentatoren auch bei uns und natürlich die hiesige türkische Community. Viel wurde darüber geschrieben, warum die Türken in Deutschland so Erdogan-treu sind. Es gibt auch stichhaltige Erklärungen dafür.

Wir werden darauf in diesem Beitrag nicht eingehen, sondern nur ein paar Infos liefern, die den Blick über Deutschland und die Türkei hinaus weiten, denn es geht um das Wahlverhalten aller wahlberechtigten türkischen Staatsbürger:innen, die im Ausland leben.

Infografik: So haben Türk:innen im Ausland bisher gewählt | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die Türkei befindet sich in der heißen Phase des Superwahljahres 2023. Bei den Wahlen am 14. Mai werden sowohl das neue Parlament als auch der Staatspräsident gewählt. Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger:innen endet die Abstimmungsfrist bereits am 9. Mai. Das betrifft laut Wahlkommission des Landes etwa drei Millionen registrierte Wähler:innen, die für Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP das Zünglein an der Waage im denkbar knappen Wahlkampf sein können.

Wie die Statista-Grafik zeigt, hat der Großteil der Auslandstürk:innen in der Vergangenheit regierungstreu gewählt. Die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) kam bei der letzten Parlamentswahl 2018 auf etwa 51,7 Prozent der Stimmen, gefolgt von der kemalistischen Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) mit 17,8 Prozent und knapp dahinter die mehrheitlich kurdische, linkspolitische Halkların Demokratik Partisi (HDP). Vor allem die HDP konnte bei den Auslandsstimmen seit ihrer Gründung 2012 deutlich gewinnen, während AKP und CHP Wähleranteile einbüßen mussten.

Die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) regiert schon mehr als 20 Jahre in der Türkei, im aktuellen Wahltrend kommt das Regierungsbündnis aus AKP und ultranationalistischer Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) aber auf keine Mehrheit. Auch bei der Präsidentschaftswahl liegt der Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) in den Umfragen vor Amtsinhaber Erdoğan.

Die Wahlbeteiligung ist mit insgesamt 83 bis 86 Prozent bei den vergangenen Parlamentswahlen auf einem stabilen Niveau. Von den Auslandstürk:innen haben 2018 zuletzt jedoch nur etwa die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben.

Die HDP, die sich im Aufstieg befindet, ist sicher die erste Wahl für Menschen kurdischer Abstammung mit türkischem Pass in Deutschland, ihr stehen auch kurdischstämmige deutsche Poliker:innen aus dem linken Spektrum nah und es ist immer wieder spannend zu sehen, wie diese sich zur PKK stellen, der die HPD wiederum nahesteht und die in vielen Ländern als terroristische Vereinigung gilt. Aktuell spielt dieses Problem beim NATO-Beitritt zweier skandinavier Staaten, vor allem Schwedens, eine Rolle, das nach der Ansicht von Recep Erdogan zu wenig gegen deren Aktivitäten in der Diaspora unternimmt.

Kann in einer Diktatur, als welche die Türkei vielfach schon bezeichnet wird, der Diktator abgewählt werden? Wir werden es sehen. Wenn es möglich ist, dann muss man sagen, es handelte sich noch nicht um eine vollständige Diktatur. Schockiert waren wir zuletzt über die Position der Türkei als eines der weltweit schlechtesten Länder in Sachen Arbeitnehmerrechte. Wir haben darüber noch nicht geschrieben, weil wir das Thema gerne etwas ausführlicher behandeln wollen, als uns das während der Grippe konzentrationsseitig möglich war. Selbst viele eindeutige Diktaturen liegen auf dem Gebiet der Bürger- und Menschenrechte, zu denen auch die Arbeitnehmerrechte zählen, nicht ganz so miserabel wie die Türkei. Man muss sich immer vor Augen halten, dass das Land sich im Beitrittsprozess zur EU befindet. S

elbst wenn man kulturelle Aspekte außen vor lässt: Die Türkei würde die rechtlichen Standards in der gesamten EU herunterziehen, allein durch die Anwesenheit eines so großen Landes mit schwieriger Rechtsstaatlichkeit im Club   (als bevölkerungsreichstes Land Europas, Russland nicht einbezogen, hat die Türkei Deutschland kürzlich überholt). Und diese Rechte sind schon ohne die Türkei immer wieder in Verteidigung gegenüber dem neoliberalen Durchmarsch. Es gibt viel mehr Gründe, die Türkei nicht in die EU aufzunehmen als solche, die dafür sprechen. Dafür spricht vor allem die Geostrategie.

Deswegen ist es den US-Strategen egal, ob die Türkei zur EU passt oder deren Regierung demokratische Werte vertritt, wenn sie eine Aufnahme des Landes in die EU propagieren. Was zählt, ist nur der imperalistische Aspekt, auch wenn das gesamte Gebilde EU dadurch noch instabiler würde, als es aus ökonomischen Gründen und wegen gewisser Diskrepanzen bei den Werten zwischen dem „alten Europa“ und den Regierungen einiger Länder im Osten der EU-Zone jetzt schon ist. Es knirscht in der sogenannten Wertegemeinschaft. Dringend angezeigt wäre Zuwachs ganz am oberen Ende, wie zum Beispiel durch Norwegen, nach dem Brexit, oder ein Beitritt reicher, stabiler Länder zur Eurozone, nicht das Gegenteil. Alle Kandidat:innen sind aber weit unter dem bisherigen ökonomischen und sozialen Durchschnitt. Nach unserer Ansicht ganz unmöglich, zum Beispiel die Ukraine und die Türkei beitreten zu lassen, unter gegenwärtigen oder in naher Zukunft zu erwartenden Umständen, ohne die EU damit endgültig und maßlos zu überdehnen und endgültig zu ruinieren. 

Es kann ja alles wieder anders kommen, aber dazu müsste Erdogan abgewählt werden. Wir hoffen das Beste, erwarten aber nicht, dass es bald zu einer Wende im Sinne einer (Re-) Demokratisierung der Türkei kommt, die es ermöglichen würde, als Beitrittskandidat zur EU wieder ernsthaft infrage zu kommen. Wir verstehen, dass Erdogan den Nationalstolz und die religiösen Gefühle der türkischen Menschen, die in Deutschland leben, gut zu bespielen weiß, aber bevor wir nun doch in die Analyse einsteigen, beenden wir diese kurze Darstellung mit einem Dank an Statista für die vielen interessanten Grafiken von dieser Stelle.

TH

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