Sonderrecht (Verfassungsblog + Leitkommentar: Rechts-Änderungen wegen Antisemitismus) | Briefing 350 | Geopolitik, Recht

Briefing 350 Geopolitik, Gesellschaft, Recht, Antisemitismus, Verfassung, Einschränkung von Grundrechten

Liebe Leser:innen, aus gegebenem Anlass republizieren wir wieder einmal einen Beitrag des Verfassungsblogs. Sie können sich denken, worum es darin geht. Wir bilden alles ab, was mit dem Israel-Palästina-Konflikt zu tun hat, auch die Verweise auf weitere Beiträge, nicht aber Hinweise auf Beiträge zu anderen Themen. Wir kommentieren unterhalb des Artikels.

*** Editorial Verfassungsblog vom 28.10.2023 ***

Sonderrecht

Dies ist eine Zeit großer Trauer, Furcht und Verwirrung, und ich fühle mich drei Wochen nach dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel nicht bereit, starke Meinungen rauszuhängen zu dem, was da in Hinblick auf die israelische Reaktion, den Protest dagegen und die Repression dieses Protestes gerade passiert. Gleichzeitig nimmt mir die 9/11-hafte Wucht, mit der sich auch und gerade hier in Deutschland im Augenblick die Koordinaten des grundrechtlich Geschützten bzw. Verbietbaren zu verschieben scheinen, den Atem. Was passiert hier gerade unter unseren Füßen?

Plötzlich sind sich offenbar weite Teile der Politik und der öffentlichen Meinung darin so einig, als verstünde sich das völlig von selbst, dass die Antwort auf die Frage, wie weit der Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit reicht, nicht in bestimmten benennbaren Normen des Grundgesetzes zu suchen und zu finden ist, sondern in etwas, das sich „Staatsräson“ nennt. Was genau soll das sein? Die Sicherheit Israels ist stets im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, sehr gut, bin ich absolut dafür. Aber wie kann ein außenpolitisches Staatsinteresse eine Rechtfertigung dafür sein, Bewohner*innen und Bürger*innen der Bundesrepublik im Inland, auf dem Geltungsbereich des Grundgesetzes, in ihren Freiheitsgrundrechten einzuschränken? Wie konstruiert man das rechtlich? In welchem Verfahren wurde der Rechtssatz, der diese Schranke errichtet, in Geltung gesetzt? Oder steht das implizit schon drin im Grundgesetz, und wenn ja, wo und wie genau? Ehrlich, ich versteh’s nicht. Vielleicht kann mir das jemand erklären.

Die CDU will die Leugnung des Existenzrechts Israels unter Strafe stellen. Ich habe, to state the obvious, keinerlei Sympathie mit Menschen, die Israel das Recht zu existieren absprechen. Und ich kann auch jeden verstehen, der Verdruss angesichts der Notwendigkeit empfindet, Gegendemos zu organisieren, auf dass die Leugner nicht unwidersprochen bleiben. Man wünschte, man könnte die Polizei rufen gegen sie. Aber das Grundgesetz schützt bekanntlich innerhalb der Schranken der „allgemeinen Gesetze“ die Freiheit, auch die abscheulichste Meinung zu haben und zu äußern. Mittels allgemeiner Gesetze kann der Staat das Geeignete, Erforderliche und Verhältnismäßige tun, um die gefährlichen Auswirkungen von Meinungsäußerungen für bestimmte Rechtsgüter zu regulieren, wozu selbstverständlich auch und insbesondere die Sicherheit von Jüd*innen in Deutschland gehört – schrecklich genug, dass die wieder und immer noch so gefährdet ist. Aber was er nicht tun kann, ist ein „Sondergesetz“ erlassen, das direkt das Haben und Äußern einer ganz bestimmten Meinung verbietet. Das ist ihm nach Art. 5 Grundgesetz verboten.

Der hessische Justizminister Roman Poseck, der diese neue Strafnorm auf die Tagesordnung der nächsten Justizministerkonferenz am 10. November gesetzt hat, steht einem Pressebericht zufolge auf dem Standpunkt, die Leugnung des Existenzrechts Israels sei gar keine Meinung, sondern eine falsche Tatsachenbehauptung: Das Völkerrecht garantiere Israels Existenzrecht, und wer das leugnet, behauptet eine falsche Tatsache. Wie er darauf kommt, ist nicht schwer zu erraten: Die Holocaust-Leugnung ist bekanntlich auch strafbar, und das ist in der Tat keine Meinung darüber, wie die Wirklichkeit sein sollte, sondern eine Behauptung, wie die Wirklichkeit bereits beschaffen ist, und zwar eine evident falsche (zur etwas komplizierteren Holocaust-Verharmlosung: hier). Dass sich das nicht auf die Leugnung des Existenzrechts Israels übertragen lässt, liegt auf der Hand. Was rechtlich gilt oder nicht, ist keine Tatsachenfrage, was eigentlich jeder, der eine juristische Ausbildung durchlaufen hat, im Schlaf wissen müsste.

Das Verbot von Sondergesetzen gilt nicht lückenlos, sondern seit einer spektakulären und hoch riskanten Intervention des Bundesverfassungsgerichts 2009 mit einer Ausnahme: Die Meinung, die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft sei zu billigen, zu verherrlichen oder zu rechtfertigen, durfte der Gesetzgeber in der Tat mittels eines Sondergesetzes (§ 130 IV StGB) verbieten, ohne gegen Art. 5 II GG zu verstoßen. Das nationalsozialistische Gewalt- und Willkürregime, so die Begründung, sei nicht irgendein Regime, zu dem man als Bundesdeutsche*r diese oder jene Meinung haben könne, sondern „für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (von) gegenbildlich identitätsprägende(r) Bedeutung“. Das Grundgesetz sei als „Gegenentwurf“ zu diesem Regime entstanden und sei „von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen“. Sich auf die Seite dieses Regimes zu schlagen, sei daher keine Meinung, deren Gefährlichkeit mittels allgemeiner Gesetze in den Griff zu bekommen ist, sondern als solches „ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential“.

Das, so das Gericht, gilt aber nur für die Verherrlichung des historischen NS-Regimes 1933-45. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus insgesamt müsse die Bundesrepublik ohne Sondergesetze hinbekommen. Das Grundgesetz kenne „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip“, so der Erste Senat in Abgrenzung zum Oberverwaltungsgericht Münster, mit dem er sich damals eine fortdauernde Fehde über die Verbietbarkeit von Nazi-Demonstrationen lieferte. „Das Grundgesetz gewährt Meinungsfreiheit im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung vielmehr grundsätzlich auch den Feinden der Freiheit.“

Es hat damals nicht an liberalen Stimmen gefehlt, die diese Ausnahme für gefährlich hielten. Wenn man mit den Ausnahmen mal anfängt, so hieß es, dann hört man so schnell nicht mehr auf damit. Mir hat das nicht eingeleuchtet. Das Verbot der Verherrlichung des NS-Regimes, so schien mir, ist die Ausnahme, die die liberale Regel kraftvoll bestätigt.

Ich bin da nicht mehr so sicher. Könnte man nicht die Leugnung des Existenzrechts Israels genauso als „Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential“ sehen? Warum sollte man dafür nicht eine weitere Ausnahme von der Regel zulassen? Und wenn man das tut, was macht das dann mit der für unsere Demokratie doch so „schlechthin konstitutiven“ Regel?

Eine Ausnahme bestätigt die Regel. 25 Ausnahmen bestätigen die Nichtgeltung der Regel. Kann es sein, dass wir uns bereits irgendwo dazwischen befinden?

Die letzten zwei Wochen auf dem Verfassungsblog

Dass „Palästina-Demos“ pauschal und präventiv verboten werden dürfen und sollen, darauf scheinen sich im Augenblick nicht nur in Deutschland eine Menge Leute bemerkenswert mühelos verständigen zu können. CLEMENS ARZT klärt die versammlungs- und verfassungsrechtliche Rechtslage und sieht einen bedenklichen repressiven Trend.

Unterstützer*innen der Terrororganisation Hamas auszuweisen oder ihnen gar die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen – geht das? Wo die migrationsrechtlichen Grenzen verlaufen, zeigt ANDREA KIEßLING.

Wie Online-Antisemitismus effektiv bekämpft werden kann, untersuchen WERNER SCHROEDER und LEONARD REIDER.

Wie die Europäische Union, insbesondere Nachbarschaftskommissar Olivér Várhelyi und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in Hinblick auf den Terrorangriff der Hamas und den anschließenden Krieg in Gaza kommuniziert hat, findet PETER VAN ELSUWEGE entsetzlich und sieht Anlass, kritisch zu überprüfen, wie die Union sich nach außen präsentiert.

Wer aus Gaza über die einzige Grenze außer der zu Israel fliehen will, nämlich der ägyptischen, steht vor verschlossenen Toren. Ägypten lässt niemand durch. Warum das ein Verstoß gegen das Non-Refoulement-Verbot und damit klar völkerrechtswidrig ist, begründet JAMES HATHAWAY.

Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, bleibt dabei aber dabei an das humanitäre Völkerrecht gebunden. Daran erinnert KAI AMBOS, und was das für die Pflichten Deutschlands bedeutet, untersuchen MURIEL ASSEBURG und LISA WIESE. Das moralische Dilemma der israelischen Regierung, Hamas nicht ohne extreme Schäden für Tausende Unschuldige effektiv bekämpfen zu können, diskutieren BARAK MEDINA und DAVID ENOCH.

Die Absolutheit der Menschenwürde zu verteidigen, führt noch nicht zu einer Antwort auf die Frage, wie Israelis und Palästinenser in sicheren, friedlichen Staaten leben können, was VICENTE MEDINA in einem moralphilosophischen Essay ausführt.

*** Ende republizierter Text ***

Kommentar

Nur mal Atem holen und nicht mehr up to date

Der Fluch des Zuwartens zeigt sich meist dann, wenn das Zuwarten ein Ende haben soll. Der Artikel, den wir hier besprechen, ist eine Woche alt und seitdem ist wieder viel passiert. Im Gazastreifen, in Israel, aber auch bei uns. Unter anderem die Rede von Robert Habeck zur Sache, die wiederum Gegenstand des heutigen Editorials des Verfassungsblogs ist. Da wir aber nicht zwei dieser Artikel fast  zeitgleich republizieren und damit deren Gemeinfreiheit zu sehr strapazieren möchten, für die wir sehr dankbar sind – und zumal wir fast immer kommentieren –, bauen wir einen neuen Rückstand auf. Warum auch nicht, das Thema ist so immens schwierig, dass gerade eine kleine zeitliche Distanz oft erst das Durchatmen ermöglicht. 

Wir haben uns zuletzt vor einer Woche umfassend zum Thema geäußert, in einem unserer Leitkommentare, die es im Durchschnitt etwa alle zwei Wochen zu lesen gibt. Antisemitismus – die Täter:innen sind fast immer rechts (Statista + Leitkommentar zur aktuellen Lage: beidseitige Kritik und Zustimmung + Israel, Palästina, Nahost, UNO und EU)

Das Grundgesetz ist nicht heilig, aber unendlich wertvoll

Was halten Sie von dem obigen Beitrag? Wir verfolgen den Verfassungsblog sehr aufmerksam, weil wir politische Ansichten anhand der rechtlichen Darstellungen darin sehr gut überprüfen können. Häufig unterstützt das, was dort in rechtlicher Hinsicht ausgeführt wird, was wir politisch denken. Das ist vermutlich deshalb so, weil wir eine am Grundgesetz orientierte demokratische Haltung für uns beanspruchen und uns auf unsere Weise ebenso für die Verfassung und ihre Bewahrung einsetzen wie es dort mit einem direkten fachlichen Hintergrund getan wird. Wir sind zum Beispiel, wie die Autor:innen des Verfassungsblog, nicht der billigen Hetze gegen die „Klimakleber“ gefolgt, sondern haben in deren Aktionen sehr wohl auch berechtigte und verfassungsrechtlich zu berücksichtigende Elemente entdeckt.

In den letzten Wochen treibt uns etwas anderes um und für uns war es auch emotional, zu lesen, dass es Menschen, die diese Demokratie schützen wollen, die sich sogar nach Thüringen begeben, um dort AfD-Forschung und etwas wie ein Gegenkonzept zu erarbeiten, das auf rechtlich sicherem Boden steht, sich nun Sorgen um die Meinungsfreiheit machen. Wir haben das in bisher jedem Artikel zum Israel-Palästina-Konflikt oder -Krieg angesprochen: Es gibt überall Rechte, die unter dem Deckmantel der Israel-Solidarität die Meinungsfreiheit beschränken wollen. Wir formulieren das etwas härter, politischer, als es Herr Steinbeis, der Herausgeber des Verfassungsblog und Verfasser des obigen Textes, tut.

Ein  Blick zurück: die Pandemie

Wir beobachten ja auch von der politischen Seite aus und sehen solche Ansätze immer wieder. Wir waren ziemlich still, als es um Corona ging und die Stigmatisierung von Meinungen dazu ging, zugegeben. Das lag vor allem an einem Aspekt, der auch hier eine Rolle spielt: Wir haben Corona und die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu als Fakten angesehen, nicht als Haltungen, zu denen man wiederum diese oder jene Meinung haben kann. Wenn man so will, ähnlich wie die Holocaust-Leugnung und damit die Leugnung einer bewiesenen Tatsache. Deswegen haben wir auch schon mal ziemlich pauschal den Kampfbegriff „Corona-Leugner“ gebraucht, der natürlich eine Anspielung auf Holocaust-Leugner ist und auch auf Klima-Leugner, also jene, die den Klimawandel entweder ganz leugnen, aber auch auf jene, die menschliche Anteile daran negieren.

Ähnlich mit Corona: Existiert es gar nicht oder ist nur die Art, wie es bekämpft wird, falsch, die Darstellung seiner Herkunft, möglicher Absichten dahinter, der ganze Cluster an Verschwörungstheorien und Übertreibungen? Diese Differenzierung war auch zu Beginn nicht einfach, wegen der Novität des Virus und der Unmöglichkeit, die Entwicklung der Pandemie und ihre Folgen von Beginn an richtig einschätzen zu können. Deswegen sagen wir auch heute noch: Dass die Kritiker der Corona-Politik in manchen Dingen recht behalten haben, ist mehr oder weniger Zufall gewesen. Da hatten sie einfach Glück, nicht etwa das bessere Wissen und auch nicht den besseren gesunden Menschenverstand, der ja auch eine juristische Figur darstellt.

Wurde im Rahmen der Pandemie wirklich die Meinungsfreiheit eingeschränkt? Ja, und zwar nicht per Gesetz, sondern dadurch, dass in den sozialen Medien zensiert wurde. Das heißt, ohne gesetzliche Grundlage. Wie hätte man diese auch erstellen wollen? Es gibt ganz enge Voraussetzungen für die Einschränkung der Meinungsfreiheit, auch wenn „Leitplanken“ existieren, die es z. B. so in den USA nicht gibt. Deshalb wird von dort aus Nazi-Content in alle Welt verbreitet, deshalb dürfen dort aber auch Juden für eine Feuerpause im Gazastreifen demonstrieren, wie in den letzten Tagen an einem sehr prominenten Ort in New York geschehen, ohne dass sie von der eigenen Community dafür als semitische Antisemiten bezeichnet werden. Und selbst, wenn dies der Fall ist: Es sind Meinungen, es geht nicht die Verknüpfung mit einer Staatsräson, wie bei uns, auf die alle eingeschworen werden sollen.

Uns hat das auch wieder bewusst gemacht, dass die jüdische Community vielfältig ist und nicht alle die immer mehr rechtslastige Politik Israels befürworten. Für uns ist das selbstverständlich kein semitischer Antisemitismus. Dieses Label ist ein Kampfbegriff, so, wie Leugner in verschiedenen Zusammenhängen ein Kampfbegriff gegen abweichende Meinungen ist, weil er mit dem feststehenden Terminus der Holocaust-Leugnung in Verbindung gebracht wird, mithin fordern auch wir implizit ein Verbot von Meinungen, die wir als Leugnung bezeichnen, das ist uns leider erst in letzter Zeit richtig bewusst geworden. Die andere Seite der Medaille ist der Judenstern als Missbrauchsobjekt für Scheinheldentum, was leider mittlerweile gerichtlich gebilligt wurde.

Ob wir in einer neuerlichen Situation wie der hitzigen Corona-Diskussion darauf verzichten werden, „Leugner“ als Kampfbegriff zu verwenden? Was, wenn wir alle, die erkennbar die Verfassung aushöhlen wollen, als Verfassungs- oder Grundgsetzleugner bezeichnen? Das könnten wir so lange tun, bis tatsächlich weitere Tatbestände eine Sonderregelung erhalten, die sich mit § 130 IV StGB vergleichen lässt. Nur, wo müssten wir da anfangen? Aufgrund unserer Erfahrungen mit zivilgesellschaftlichem Widerstand in Berlin sind wir da nicht in luftiger Höhe, sondern haben vielfach konkret mitbekommen, wie repressiv das Recht angewendet wird, dass teilweise erst neue, repressive Urteile erst ermöglicht haben, dass sehr wichtige soziale Kämpfe verlorengingen und wir dadurch auf Gebieten wie der Wohnungspolitik festgefahren sind.

Das in der Öffentlichkeit kaum diskutierte Voranschreiten der Repression

Das Grundgesetz wird häufig dermaßen konservativ und einseitig an der Eigentumsideologie ausgelegt, dass man auch darin eine Schräglage  in Bezug auf die wahrscheinlichen Absichten seiner Verfasser erkennen kann. Es werden dabei immer wieder neu Grenzen ausgetestet, wie weit man nach rechts gehen kann. Deswegen sind wir generell in Habachtstellung, wenn wieder neue Einschränkungen erwirkt werden sollen. Es gibt Publikationen, die sich ausgiebig damit befassen, wie einfaches Recht, zum Beispiel das Polizeirecht, seit Jahren immer weiter verschärft und der Staat damit schleichend autoritärer wird. Wir haben hier nicht die Kapazität, das alles zu besprechen. Das scheinbar Paradoxe: Gegen tatsächliche, alltäglich spürbare Missstände tut sich trotzdem nichts. Wozu also diese Verschärfungen? Um die harten Brocken, Terroristen und Großverbrecher besser bekämpfen zu können? Da sehen wir keine Fortschritte. Oder doch eher, um überwiegend brave Brüger:innen besser bespitzeln und drangsalieren zu können? Das ergibt zumindest insofern Sinn, als diese sich in der Regel nicht allzu gewaltsam wehren werden oder können.

Was wir jetzt erleben und worüber sich Herr Steinbeis im Editorial des Verfassungsblogs Sorgen macht, ist im Grunde in eine Kontinuität zu stellen, die sich auf viele Lebensgebiete erstreckt und seit Jahren eine eindeutige Tendenz zu mehr Repression offenbart, die wir in Artikelreihen wie „Diskursverschiebung nach rechts“, aber auch mit dem Begriff „Demokratie in Gefahr“ immer wieder erwähnt haben und worüber wir uns immer wieder besorgt gezeigt haben. Jahre, bevor alles so deutlich ins Rutschen kam wie jetzt. Wir sind aber entsetzt über die Wucht, mit der jetzt alle möglichen Ereignisse im In- und Ausland verwendet werden, um die Rechtsverschiebung voranzubringen, humanitäre und demokratiefreundliche Praxis einzugrenzen. Aber wir sind nicht grundsätzlich nicht überrascht darüber, dass man die Gelegenheit beim Schopf packt.

Alle offen Rechten und viele gemäß Selbstbeschreibung Mittige ergreifen diese Gelegenheit. Deswegen lautete auch die Überschrift eines unserer Artikel „Wie die Hamas den Rechten hilft.“ In Israel, aber auch im Westen allgemein und speziell bei uns. Damit kann sogar die AfD weiter an ihrer Hoffähigkeit arbeiten: Unter prosemitischem Vorwand an der Demokratie sägen, das ist derzeit absolut en Vogue, damit kann man punkten in der sogenannten Mitte. Dass auch die CDU sich nicht verschließt, war zu erwarten. Interessant hingegen die Haltung der FDP: Eindeutig israelfreundlich (damit wir nicht in eine Falle tappen: unkritisch jeder rechtslastigen Politikgestaltung in Israel gegenüber) wie keine andere, aber bei rechtlichen Änderungen immer ein wenig zurückhaltend. Was wir haben, reicht aus, wenn es richtig angewendet wird, ist der Grundtenor. Was haben wir uns deshalb schon über Herrn Buschmann geärgert, wenn er eine nach unserer Ansicht progressive Rechtsetzung blockierte, aber in diesem Fall zeigt sich eine Reserviertheit, die sich die FDP vermutlich auch leisten kann, weil niemand sie im Verdacht hat, antisemitisch zu sein. Solange sie Politiker oder Ex-Politiker vroweisen kann, die auf Facebook posten, man könne doch aus dem Gazastreifen super einen großen Parkplatz machen, kann da gar nichts passieren. Die Person ist jetzt übrigens Rüstungslobbyist. Nur, um ein Schlaglicht darauf zu werfen, wer von allen Kriegen am meisten profitiert und dazu natürlich auf die Unterstützung durch rechte Kriegstreiber angewiesen ist.

Viele andere hingegen scheinen unbedingt etwas beweisen zu wollen, und sei es auf Kosten der Grundrechte. Wie ironisch das in Bezug auf die deutsche Geschichte ist, muss hier wohl nicht mehr dargestellt werden. Es belegt aber auch, dass das „Nie wieder“ mehrere Aspekte beinhaltet, von denen man nicht denjenigen, dass es nie wieder eine Diktatur auf deutschem Boden geben darf, dass Grundrechte für alle gelten müssen, gerne mal unter den Tisch fallen lässt, wenn man wieder ein bisschen an der Repressionsschraube drehen kann. Vielleicht macht das sogar mehr Spaß, dieses ständige Drehen, als wenn man, weil eine Demokratie sich dagegen nicht gewehrt hat, so rasch und rüde die Macht ergreifen könnte, wie damals die Nazis. So plump muss es nicht noch einmal laufen. Man kann sich auch über kleine Erfolge gegen die Demokratiebewahrung freuen.

Von Verboten: Meinungen oder Parteien und ein Instrument, das zu Unrecht nicht beachtet wird?

In dem Zusammenhang möchten wir ein weiteres Thema ansprechen: Das AfD-Verbot. Als der Tenor im Verfassungsblog noch war, wenn sie verfassungsfeindlich ist, ist sie verfassungsfeindlich und muss verboten werden, haben wir uns bereits gefragt, ob das angesichts der des enormen Zulaufs zu der Partei die Demokratie und damit die Verfassung nicht mindestens ebenso beschädigen würde, wie sie nur politisch zu bekämpfen. Mittlerweile fragt man sich auch beim Verfassungsblog, ob es für ein Verbot angesichts der Abwägung von Vor- und Nachteilen, nicht rechtlich gesehen, nicht zu spät ist.

Aber dort kam der Herausgeber auch auf eine ganz interessante und insofern innovative Idee, als er etwas gefunden hat, das es zwar schon lange gibt, aber das nicht beachtet wurde: Die individuelle Grundrechte-Verwirkung, um einzelne Exponenten des rechten AfD-Flügels politisch aus dem Verkehr im Sinne des Politikbetriebs ziehen zu können. Das prominenteste Beispiel, die Referenz geradezu, ist Björn Höcke. Innovativ ist die Idee für uns deshalb, weil dieses Instrument des Demokratieschutzes weithin unbekannt ist. Vermutlich wurde es, wenn überhaupt, nur ganz selten angewendet. Dabei geht es um Art. 18 des Grundgesetzes:

Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.

Auch dem Autor, der dieses „Instrument der streitbaren Demokratie“ ins Spiel gebracht hat, ist klar, dass es sich hier um eine mühevolle Angelegenheit handelt, die bisher nie zum Erfolg geführt hat. Wir könnten uns vorstellen, dass man dieses Instrument auch auf Menschen anwenden könnte, die sich individuell antisemitisch gezeigt und das Existenzrecht Israels geleugnet haben. Was genau wo und in welchem Zusammenhang passiert ist, wäre dann zu prüfen. Das ist etwas anderes als Zensur und Meinungssteuerung von oben. Man  muss sich bei Anwendung dieses Instruments die Mühe machen, abzuwägen und das Vorliegen einer spezifischen Form von Antisemitismus zu untersuchen, unabhängig davon, ob es um Einzelne in hervorgehobener Position oder Gruppen geht, die bei Demonstrationen entsprechende Parolen skandieren.

So einfach nicht

Allerdings laborieren wir in dem Zusammenhang noch an der Ermächtigungsgrundlage für eine Grundrechtsverwirkung herum, da kann es leicht zu einem Zirkelschluss kommen: Wer das Grundgesetz selbst angreift, verwirkt dessen Grundrechtsgewährung. Wer den Holocaust leugnet, ebenfalls, weil er von einfachem Recht verboten wird, das mit dem Grundsgesetz vereinbar ist. Es bräuchte also doch eine valide Grundlage dafür, dass auch die Leugnung des Existenzrechts Israels eine solche Verwirkung nach sich ziehen kann. Womit wir wieder bei Tatsachen und Meinungen wären, wie im besprochenen Artikel dargelegt. Uns dämmert, warum der Autor seine Überlegungen zur Grundrechtsverwirkung nicht auf diesen aktuellen Gegenstand ausgedehnt hat. 

Wir brechen an dieser Stelle erst einmal ohne Lösung ab, betonen aber unsere Haltung, Grundrechte ernst zu nehmen, inklusive Selbstkritik an einigen unserer Äußerungen in den Corona-Reporten, auch wenn sie unter dem Eindruck vieler täglicher Todesfälle geschrieben wurden (viele mehr davon allein in Deutschland, als es hoffentlich während des gesamten neuen Krieges geben wird) und werden uns weiter intensiv mit den Entwicklungen in diesem Krieg auseinandersetzen. Einen für uns komplett tragfähigen Begriff für diesen Krieg gibt es bisher übrigens nicht. „Nahostkrieg“ greift noch zu weit und wir hoffen, dass es nicht so weit kommt, „Israel-Hamas-Krieg“ (oder umgekehrt) ist hingegen zu eng formuliert, da zum Beispiel auch die Hisbollah sich  vom Libanon aus beteiligt.

TH


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