Tote Taube in der Beethovenstraße – Tatort 25 #Crimetime 1240 #Tatort #Zoll #Köln #Kressin #WDR #Taube #Beethovenstraße

Crimetime 1240 – Titelfoto © WDR

Das Experiment

Der Spielfilm Tote Taube in der Beethovenstraße ist ein deutscher Fernsehfilm der Krimireihe Tatort aus dem Jahre 1973. Er spielt hauptsächlich in Bonn und Köln. Er wurde vom Amerikaner Samuel Fuller geschrieben und gedreht, was eine Besonderheit in der Tatort-Reihe darstellt. In den USA lief er 1974 auch als Kinofilm. 

1972 führte auf Anfrage des produzierenden WDR erstmalig ein ausländischer Filmemacher Regie bei einem Tatort und schrieb auch gleich das Drehbuch. Und es war nicht irgendwer, sondern einer der innovativsten und kontroversesten Köpfe in Hollywood: Samuel Fuller.

Kontrovers bis heute wird auch „Tote Taube in der Beethovenstraße“ gesehen. Der Film ist in der Tatortliste dem Fahnder Kressin zugeordnet, der auch tatsächlich mitspielt, doch sonst ist dieser allererste Jubiläumsfall (Nr. 25) ein ganz eigenständiges Werk, sowohl formal als auch besetzungstechnisch. Wie sich nach über 40 Jahren ein Film anfühlt, der mehr für die US-Kinoauswertung als fürs deutsche Fernsehen inszeniert scheint, beschreiben wir in der -> Rezension.

Handlung

Ein Mann bricht in Bonn in der Beethovenstraße zusammen. Sein Mörder flüchtet. Der Tote, ein Privatdetektiv aus New York, war einem internationalen Erpresserring auf der Spur. Unterstützt von Zollfahnder Kressin übernimmt Sandy, des Toten Kompagnon, den Fall. Es gelingt ihm, sich in den Erpresserring einzuschmuggeln. Doch die Turbulenz des Kölner Karnevals macht den Fall immer verwirrender, undurchschaubarer und endet schließlich in einem finsteren, blutigen Alptraum.

Rezension

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2024: Wir haben im Wesentlichen den Text des Entwurfs übernommen – Bezüge wie die „TatortAnthologie“ gelten dem „ersten Wahlberliner“ (2011 bis 2016), ebenso Bemerkungen zum Stand unserer „Tatort-Forschungen“, der Zeitpunkt, zu dem der Entwurf entstand, war der Dezember des Jahres 2015.

Die ungewöhnlich knappe und nebulöse Handlungsbeschreibung lässt erahnen, dass die ARD selbst nicht so recht mit dem Film klarkommt, aber in der Wikipedia gibt es, wie zu mittlerweile der Mehrzahl aller Tatorte, Weiteres über den Verlauf des Films zu lesen.

Wir lernen, je weiter wir mit der TatortAnthologie vorankommen, wie groß die Zahl an Varianten in der Reihe immer schon war, und wie es immer wieder zu Experimentierphasen kam. Wir befinden uns gerade wieder in einer und warten auf „Wer bin ich?“, den Meta-Tatort mit dem Spezialisten für neuzeitliche Tatort-Experimente, Felix Murot, als Ermittler. Es gab auch konservativere Zeiten, etwa in den 1980ern, als das Format sich nicht wesentlich weiterzuentwickeln und immer mehr von Standards beherrscht schien, die jeder Film der Reihe aufweisen musste. Doch beim Start im Jahr 1970 war das ganz anders, was schon daran lag, dass die ersten Filme teilweise noch als eigenständige Einzelproduktionen gedreht und dann in die mittlerweile gegründete Tatort-Reihe eingegliedert wurden (zum Beispiel „Taxi nach Leipzig“ (1) und „Saarbrücken an einem Montag“, die ersten beiden Tatorte). Anfangs war es auch nicht zwingend, dass zu Beginn oder ziemlich zu Beginn eine Leiche ihren Auftritt haben musste und daraufhin zwingend die Ermittler, nämlich am Tatort. Manche Filme hatten gar keine Leichen.

Anders aber bei Samuel Fullers Werk, das ein „harter Thriller“ sein sollte – und gewiss für seine Zeit auch war. Gewaltsamer und reicher an Toten (mindestens 3) als die damals üblichen deutschen Krimis, vor allem aber: Bis heute ein Einzelstück. Ein faszinierendes, über das es nur zwei Meinungen geben kann: Entsetzlich oder kultig.

Um unseren Lesern eine thrillerartige Rezensionsdramaturgie zu ersparen, schreiben wir’s noch im ersten Drittel des Beitrags: Wir neigen sehr zu letzterer Meinung. Wir bewerten aber generell die eher gewagten Tatorte besser als der Durchschnitt der Nutzer, die sich zum Beispiel beim Tatort-Fundus versammeln (2). Unter ihnen gibt es viele Traditionalisten, was insgesamt zu einem gut ausbalancierten Meinungsbild führt. Meistens jedenfalls. Und jetzt arbeiten wir uns Punkt für Punkt voran.

  • Wir hatten uns auf Kressin gefreut, weil wir ihn mittlerweile als erste Kultfigur unter den Tatortermittlern der ersten Garde entdeckt haben. Der Mini-Bond! Der Frauen**********r! (3) Der Zöllner! Was macht der Zöllner immer bei den Mordfällen? Manchmal gibt es ja keine oder erst später im Verlauf einer eher auf Vermögensdelikte ausgelegten Handlung. Am wenigsten überzeugend ist Kressin sicher an den Tatort 25 angedockt. Deswegen hat Samuel Fuller ihn auch gleich anschießen lassen und ins Krankenhaus verfrachtet, wo er für den Rest der relativ langen Handlung (insgesamt fast 100 Minuten) nicht mehr stört. Einmal wird noch gezeigt, wie er von einer schönen Afrikanerin massiert wird. Das passt dann wieder und reicht wohl auch. Konnte Fuller den Rupp nicht leiden oder war es der geplanten US-Auswertung geschuldet, dass dieser Schauspieler, den jenseits des Atlantik wohl kaum jemand kannte, wenig Spielzeit bekam? Dann hätte Fuller aber auch seiner Frau Christa Lang nicht die weibliche Hauptrolle geben dürfen, denn als US-Superstar ist sie uns bisher auch nicht aufgefallen. Vielleicht hatte Fuller auch einfach keine Lust, nur wegen Kressin seine Idee und die Dramaturgie wesentlich zu ändern, die er für den Film im Kopf hatte.
  • Die Dramaturgie und das Thema lassen jederzeit erkennen, dass Fuller einen sehr intensiven Zugang zum Film noir der 1940er und 1950er hatte. Leider konnte er nur wenige Werke dieses Genres inszenieren, war noch zu jung und unbekannt, während der großen Zeit dieser Filme. Aber er begann als Kriminalreporter und endete als Regisseur, der immer mit besonderen Ansätzen arbeitet und deswegen nicht recht ins Studiosystem von Hollywood passen wollte. Ein Orson Welles light. Und formal in „Tote Taube“ anderen Tatorten der Zeit – voraus, enteilt, entrückt, bereits wieder retrospektiv, unter anderem wegen der teilweise an den Italo-Western angelehnten Ästhetik, die seinerzeit en vogue war? Das schnelle Zoomen, die harten Schnitte, die Ultra-Großaufnahmen von Augenpaaren, das alles hätte auch von Sergio Leone sein können. Der Plot aber ist immer noch Film noir, wenn auch ohne Narration. Die hat es ja nun, so viele Jahre später, in der genuinen Nachfolge-Schiene der Einzelexperimente, bei Felix Murot und beim HR endlich gegeben („Im Schmerz geboren“). Der HR strahlt auch gegenwärtig die Kressin-Filme aus, obwohl sie beim WDR und NDR entstanden sind.
  • Fantastisch ist die Musik gelungen. Und immer dachten wir, woher kennen wir das bloß, woher bloß? Beim Nachdenken fiel’s uns ein. Das düsterste unter den verwendeten Themen, das so schön unheilschwanger-einsam-monoton daherkommt, wenn wir’s richtig im Kopf haben, mit einem Akkordeon als Leitinstrument, wurde bei der jüngsten Restauration des möglicherweise noch düstereren „Der Tag bricht an“ („Le jour se lève“) aus 1939 beinahe kopiert und dort so überreizt, dass es schon wieder genervt hat. In „Tote Taube“ ist das nicht so, zumal es mit ganz anders gelagerten, flirrenden Musikschnipseln wechselt und das gesamt Szenario abwechslungsreicher gestaltet ist. Alles Musikalische wurde gemacht von der Kölner Gruppe „Can“, die wir bisher nicht kannten.
  • Die Idee. Politiker mit Sexgeschichten erpressen, das könnte aus vielen Filmen abgeschaut sein, unter anderem von „Das Mädchen Rosemarie“ (1958), nur die Profi-Organisation, die das nicht aus politischen Gründen betreibt, um Gegner zu diskreditieren, sondern als einen eigenständigen Geschäftszweig, die wirkt ein wenig übertrieben. Aber schon mit Video-Einzelschaltung zu allen Einsatzorten, wo gerade Tauben gegen Falken aufgestellt werden, wobei die Tauben sich als Trojanerinnen herausstellen und die Falken anfangen zu bibbern wie Espenlaub, angesichts drohenden Karriereverlustes. Nach heutigen Maßstäben ist der Film bei weitem nicht so kryptisch, wie ihn viele Zuschauer damals wohl empfunden haben. Anfangs schon, ja. Aber es löst sich alles auf eine gut nachvollziehbare und, ebenfalls an heutigen Maßstäben gemessen, sogar überdurchschnittlich logische Weise auf. Das kommt wohl daher, dass Fuller von der Prämisse ausgegangen ist, dass alles sich dem Streben nach bestimmten Erpressungssummen unterordnet und – dass natürlich für die Liebe in diesem hoch kompetitiven Geschäftsfeld kein Platz ist. Auch das ist sicher nicht so weit hergeholt. Alle sind letztlich allein. Die Politiker, die Drahtzieher in dem Geschäft, die Mitspieler und Handlanger. Sicher ist da auch ein wenig James Bond drin, wie in vielen Kressin-Filmen, obwohl es dieses Mal keinen Sievers gibt, sondern ein gewisser Mensur die Fäden in der Hand hält, bis Sandy, der Privatdetektiv, der von einem US-Politiker angeheuert wurde, um kompromittierende Fotos bzw. die Negative sicherzustellen, sie ihm abnimmt. In einer furiosen Szene kurz vor dem Ende.
  • Und damit zum Stil. Selbst heute ginge der nur in Filmen, die erkennbar auf einer Sonderwelle reiten. Er stellenweise komplett gegen den Strom, der damals betont sachlich und ruhig dahinfließen sollte. Das war ja eine Gegenreaktion zu der Aufgeregtheit, die sich in gewissen, insgesamt paranoiden und hysterischen Zeit in Deutschland eingestellt hatte. Der Tatort glich damals doch sehr den kühlen, distanzierten Autorenfilmen deutscher Herkunft, in denen kleinste Gefühlsregungen mit einer Bedachtsamkeit und peinlicher Zurückhaltung inszeniert wurden, die schon damals etwas Stilisiertes, negativer: Maniriertes hatte. Aber dieser Stil hatte damals eine Berechtigung. Kurioserweise waren seine Apologeten ebenso wenig Mainstream wie Fuller mit dem genauen Gegenteil. Besonders die Art, wie er Christa Lang spielen lässt, macht deutlich, dass der Film nicht einfach nur amerikanischer und damit emotional ein paar Grade höher angesiedelt ist als ein damals üblicher Tatort. Da ist auch ein Stück Surrealismus drin. Das Hysterische, das dann immer wieder in Dialoge ausfließt, die psychologisch verblüffend stimmig wirken, ist eine Show. Optische Entsprechungen gibt es auch, etwa in der Schlussszene, in der Sandy und Christa aufeinander schießen. Da kommt Fullers Zeit in Frankreich offenbar durch, und wohl nicht umsonst hat die bekannte Chabrol-Schauspielerin Stéphane Audran hier eine Gastrolle übernommen. Selbstverständlich ist auch die stilisierte Szene im Fecht- und Stoßwaffenzimmer von Mensur eine Orgie für Leute, die es gerne beziehungsreich mögen. In ihr kulminieren beinahe alle Einflüsse, die der Film zeigt. Western, Mantel- und Degenfilm, aber auch Agententhriller und natürlich avantgardistischer Kunstfilm, der erwähnte Surrealismus und auch den deutschen Expressionismus hat Fuller nicht ganz vergessen (der ja den amerikanischen Film noir gestaltungsseitig wiederum sehr beeinflusst hat). Zudem erkennt man bereits Elemente der Videoclip-Ästhetik, die erst in den 1990ern Mainstream wurde und ihrerseits Auswirkungen auf heutige Filme hatte.
  • Dass der Film trotzdem einen hohen Wiedererkennungswert regionaler Natur hat, liegt an den Bonn- und Köln-Szenen. Wie hier der Karneval als Marsch des Todes für eine der Figuren inszeniert wird, das ist nicht nur bond-mäßig, das läuft entsprechenden Szenen, etwa in „Leben und sterben lassen“, der kurz nach „Tote Taube“ entstand, sogar voraus. Und es erinnert an einem weiteren großartigen Film: „Orfeo negro“ (1959) von Albert Camus, ebenfalls ein künstlerisches Experiment, und eines von hohem Rang, in dem der tragische Tod des Gitarre spielenden und singenden Orpheus geradezu in die Ekstase des Karnevals von Rio wie in die Unterwelt hineinfällt und nie wieder aus dieser auftaucht. Außerdem ist es eine Anspielung auf das häufig verwendete filmische / literarische Motiv, dass die Orte des ausgelassenen Volksvergnügens mit Tod und Chaos konnotiert werden (Kirmeszenen wie in Hitchcocks „Der Fremde im Zug“ (1951) sind dafür exemplarisch). Weitere bekannte Locations der Rheinregion werden gezielt gegen ihr Image oder ihre Bestimmung eingesetzt, wie etwa das Beethoven-Museum, in dem ein profaner Streit über die Aufträge zwischen Sandy und Christa stattfindet, der wiederum zu Beethovens Feinsinnigkeit einerseits und seiner Gehörlosigkeit in späteren Jahren andererseits in Bezug gesetzt wird. Am Ende liegt die Taube mit der Erdbeere tot in der Beethovenstraße. Ach ja. Die beiden hätten doch ein interessantes Paar abgegeben, trotz der Tränensäcke von Christa. So etwas darf wohl auch nur ein Regisseur ins Drehbuch schreiben, der seine Ehefrau vor der Kamera hat. Und auch dies nur dann, wenn sie ein so interessanter Typ ist.

Finale

Sicher ist der Film ein wenig unrund und lässt uns doch etwas übergenau und damit schon fast wieder auf typisch deutsche Art wissen, dass er eines auf keinen Fall sein will: Eine Routineproduktion, ein typischer Tatort. Auch kein typischer US-Krimi, denn die waren ebenfalls mehr am Geschmack des Durchschnittspublikums orientiert, das weniger harsche Schnitte und von Beginn an schlüssig wirkende Handlung bevorzugte.  

Besonders im Fernsehen, und fürs Fernsehen hatte Fuller lange Zeit gearbeitet, wie so viele Regisseure, die nicht recht ins Hollywood-System passten und sich von irgendetwas ernähren mussten. Das waren echte Schicksale, denn wer es im Film nicht mehr recht schafft, musste ausgerechnet beim Fernsehen arbeiten, wo die Möglichkeiten so viel geringer und die Standards so viel enger sind bzw. waren. Nun ja, einige Fernsehserien der frühen Jahre haben es auch zu Kult-Status gebracht. Auch in Deutschland gab es ähnliche Beispiele. Andererseits war es auch die Zeit von New Hollywood, da ging wieder was, und bezüglich der coolen Abgezocktheit, mit der die Gangster und auch deren Opponent Sandy hier vorgehen, um glaubwürdig zu wirken, steht „Tote Taube“ den harten Thrillern der frühen 1970er in der Tat kaum nach. Die Freiheit, die man ihm gab, hat Samuel Fuller genutzt, und nach unserer Ansicht zum Guten. Schade, dass es bei diesem einmaligen Experiment blieb? Hätte sich diese Art des Filmens 1972 schon durchgesetzt, wäre „Tote Taube in der Beethovenstraße“ heute nichts Besonderes. 

8,5/10

©2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Kursiv außer eigene Anmerkungen, tabellarisch: Wikipedia

(1) Kürzlich rezensiert, Veröffentlichung der Rezension ist für Ende 2024 / erstes Halbjahr 2025 vorgesehen.
(2) Der zur Orientierung innerhalb der Reihe sehr nützliche Tatort-Fundus ist leider während der Corona-Pandemie leider eingestellt worden.
(3) Anlässlich der Veröffentlichung zensiert.

Regie Samuel Fuller
Drehbuch Samuel Fuller
Produktion Joachim von Mengershausen
Musik The Can
Kamera Jerzy Lipman
Schnitt Liesgret Schmitt-Klink
Premiere 7. Jan. 1973 auf Das Erste
Besetzung

 


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