#Aufstehen, aber mit dem richtigen Fuß! (Holdger Platta in „Rubikon“) / #Wagenknecht #Lafontaine #Rubikon #Chemnitz #Linksbewegung

Analyse 11 

Wieso schon wieder so spät dieser Beitrag, 9 Tage nach dem Rubikon-Artikel, auf den wir uns beziehen?

Chemnitz hat uns in den letzten Tagen so in Atem gehalten, dass wir die Artikelplanung ändern mussten – es geht eben nicht alles gleichzeitig. Dieser Beitrag sollte ursprünglich bereits am 26.08.2018 erscheinen, zwei Tage nach der Veröffentlichung des Beitrags von Holdger Platta in „Rubikon“. Er ist das Gegenstück zum einen Tag später erschienen Artikel von Daniela Dahn, dem wir uns bereits gewidmet haben. Zum Ausgleich für die Verspätung ist diese Auseinandersetzung etwas länger geworden als geplant und deswegen und aufgrund der Vorgehensweise wird sie jetzt auch der Rubrik „Analyse“, nicht wie vorgesehen, der Kategorie „Kommentar“ zugeordnet.

Wie immer, wenn ein Beitrag von einem nicht ganz so bekannten Namen kommt und wir erstmalig etwas besprechen,  das von diesem Autor oder dieser Autorin kommt: Wer ist Holdger Platta?

Wir machen es uns jetzt einfach und übernehmen die Kurzbiografie aus „Rubikon“: Platta, Jahrgang 1944, ist Autor und Wissenschaftsjournalist. Er studierte Germanistik, Geschichte, Pädagogik und Politologie. Er verfasste zahlreiche Rundfunk-Features zu sozialpsychologischen Themen und zum Rechtsextremismus und schrieb wissenschaftliche Beiträge für Fachzeitschriften wie Psyche, Neue Sammlung, psychosozial und Psychologie heute. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen unter anderem „New-Age-Therapien. Pro und contra“ und „Identitäts-Ideen. Zur gesellschaftlichen Vernichtung unseres Selbstbewusstseins“.

Klingt nett, aber warum ist Plattas Meinung so wichtig?

Wir haben doch hier zwei Grundsätze: Jemand schreibt etwas wirklich Gutes oder ist eine einflussreiche Person, dann schauen wir uns an, was er an seine vermutlich sehr vielen Leser vermittelt. Oder aber: Er ist ein typischer Vertreter. Ich halte Platta für einen klassischen „Bewegungslinken“. Einige davon sind in der Partei DIE LINKE, viele aber in kleinen sozialen Bewegungen aktiv, die natürlich von „Aufstehen“ jetzt eventuell vorgemacht bekommen, wie man Menschen in größerer Zahl motiviert. Diese Zuordnung wird aber das Folgende nicht beeinflussen, denn der Absatz wurde am Schluss, kurz vor der Veröffentlichung des Artikels, eingefügt.

Wie ist der Stand der Diskussion über Aufstehen denn jetzt, 9 Tage nach dem Erscheinen des Beitrages?

Was ich befürchtet hatte, ist eingetreten. Dass man die Ereignissen in Sachsen / Chemnitz und „Aufstehen“ nun miteinander verknüpft. Was noch fehlt, ist, dass „Aufstehen“ dafür schon vor seiner Gründung mitverantwortlich gemacht wird, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis der Meinungskampf des Establishments auch in diese Richtung geführt wird, wenn wieder irgendwo Nazis freidrehen.

Kann man unter den gegenwärtigen Umständen einen Beitrag wie den von Holdger Platta noch ruhig besprechen?

Ich bin bisher einigermaßen ruhig geblieben bzw. ich schreibe nur dann, wenn die Stimmung es zulässt, sachlich zu argumentieren. Andere haben es da nicht so leicht. Holdger Platta bezeichnet Oskar Lafontaine gleich zu Beginn als „Stehaufmännchen der linken Politik“ und im Verlauf stellt sich heraus, dass Platta gekränkt ist, weil Lafontaine ihn nicht mit einer Antwort bedacht hat. Gut, ich halte mich nicht für prominent oder für zu bevorzugen, aber mir ist klar, dass zum Beispiel, wenn ich ans „Team Sahra“ schreibe, Antworten, wenn sie kommen, von Teammitgliedern, nicht von ihr selbst verfasst werden. Das gilt auch für weite Teile der Kampagne selbst, die üblicherweise in die Hände von Mitarbeiter_innen gelegt werden.

Aber Lafontaine ist doch genau das, ein Stehaufmännchen?

Da prädestiniert ihn doch geradezu, „Aufstehen“ mitzugründen, oder nicht? Er ist eben ein zäher alter Knochen und gut ausgeprägter Narzissmus hat einen Vorteil: Man ist auf eine Weise unbeugsam trotz aller Niederlagen und selbstgemachter Schwierigkeiten. Was Lafontaine schon alles gedreht und erlebt hat, würden wie wenigsten Menschen so unbeschadet und weitgehend unverändert verkraften. Ich denke dabei nicht nur an die Politik, sondern auch an eine Messerattacke 1990 und seine Erkrankung, die er 2010 überstand. Jenseits der Bewertung der Person im Sinn von Charakterzeichnung ist es für mich ein Vorteil, dass Lafontaine keine parteipolitische Karriere mehr machen muss, sondern seiner Frau mit seiner Erfahrung und seiner unbestreitbaren Fähigkeit, Strategien und Idee zu entwickeln, helfen kann, „Aufstehen“ zum Erfolg zu führen. Für ihn ist das die richtige, sozusagen entfesselte Plattform, wir werden noch sehen, wie er zu Hochform aufläuft, egal, was die Funktionäre in der LINKEn davon halten und soweit er gesund bleibt.

Wir können ja gleich in die aktuelle Diskussion einsteigen, die wir selbst auch privat führen: Wie weit muss man nach rechts, um manche Bürger abzuholen?

Wenn das Bild vom „Abholen“ richtig ist, könnte es ja heißen, abholen, sie an die Hand nehmen un sie auf den guten, demokratischen Weg zurückzuführen. Ich schreibe zurückführen, denn ich glaube nicht an einen Nazi-Bodensatz von 25 Prozent in Sachsen. Ebenso, wie ich nicht daran glaube, dass in anderen europäischen Ländern, die derzeit einen massiven Rechtsdrall erleben, die Nazis wie Pilze aus dem Boden schießen, wo vorher nur beste Demokraten lebten: Wie etwa in Schweden, wo den „Wahren Schweden“ bei den anstehenden Wahlen 20 Prozent zugetraut werden, die Tagesthemen haben gestern Abend darüber berichtet. Wenn in diesem Musterland des sozial gedämpften Kapitalismus so viele Menschen sagen, sie stimmen zwar mit vielen Positionen der „Wahren Schweden“ gar nicht überein, aber sie gehen jetzt mal protestieren gegen das Establishment, dann ist es richtig, darüber nachzudenken, wie man diese Menschen zurückholen kann.

Sie heißen „Schwedendemokraten“.

Sorry. Und sie machen ebenfalls in Blau – und mit Blumen. Alles sanfter als die AfD und man müsste überprüfen, ob sie wirklich ein weitgehend deckungsgleiches Programm haben. Ich glaube schon, dass Schweden, SD hin oder her, noch ein Stück zivilisierter ist, aber es geht ja um die  Tendenz, und die wäre zu Olof Palmes Zeiten undenkbar gewesen. Und dann hat diese Regierungspolitikerin vorletztes Jahr unter Tränen erklärt, man könne keine weitere Geflüchtete mehr aufnehmen, die Belastungsgrenze sei einfach erreicht. Ich glaube nicht, dass damit die materielle Belastungsgrenze gemeint war. Schweden kann das, besser noch als Deutschland. So ein gutwilliges Land. Und es hat sich stark verändert, in letzter Zeit, das sagt jeder, der dort war – in den Städten, nicht auf dem Land natürlich, an den nach wie vor recht einsamen Seen.  Und jetzt vergleichen wir mal: Deutschland ist immer noch aufnahmebereit. Es gibt und gab nie ein No Go, wenn es um Geflüchtete geht. Das ist eine humanistische Tat und Grundhaltung, die offenbar von einigen, die immer mehr und immer mehr fordern, in ihrer Tragweite nicht richtig eingeschätzt wird.

Aber Platta lobt doch zunächst die Bewegung, diesen „Großversuch.“

Ja, diejenigen, die sich jetzt mit #Wirsindmehr so mehrheitlich geben, haben genau das nicht geschafft, links zu vereinigen und zu einer Mehrheit zu machen, die bestimmte Voraussetzungen für ein sozialeres und damit (noch mehr) aufnahmebereites Land erst schaffen kann. Das möchte ich an der Stelle festhalten und ich zitiere einen Ausschnitt aus Plattas Beitrag und dies mit einem Hintergedanken: „Ich bin zwar selber dieser Ansicht – die an anderer Stelle zu begründen wäre –, dass erst eine grundlegende, systematische Umgestaltung unserer kapitalistisch-strukturierten Gesellschaften imstande wäre, eine wirkliche, eine auch ökonomisch abgesicherte Gewährleistung der Menschenrechte bei uns wie weltweit herzustellen.“ Zu Susan Bonath und ihrem Salonmarxismus habe ich mich schon geäußert.

Gut, wir behalten das im Sinn und gehen weiter. Platta bezieht sich im Folgenden auf das #Fairland-Papier aus dem Mai 2018.

Soweit ich es verstanden habe, sollte dieses gar nicht an die Öffentlichkeit gehen – und sich drei Monate später darauf zu beziehen, als bereits klar ist, dass sowohl namentlich als auch inhaltlich wohl einiges anders laufen wird, finde ich nicht sehr – fair. Aber gut. Weiter. Platta greift sich also drei Punkte aus dem Papier heraus, die er für problematisch hält. Wir zitieren sozusagen derivativ:

„3. Ein erneuerter starker Sozialstaat, der Armut verhindert: für Renten, die den Lebensstandard im Alter sichern, eine gute Gesundheitsversorgung unabhängig vom Einkommen und eine solide Arbeitslosenversicherung statt Enteignung durch Hartz IV.

8. Sicherheit im Alltag: mehr Personal und bessere Ausstattung von Polizei und Justiz statt Symbolpolitik.

10. Hilfe für Menschen in Not: das Recht auf Asyl für Verfolgte gewährleisten, Waffenexporte in Spannungsgebiete stoppen und unfaire Handelspraktiken beenden, Armut vor Ort bekämpfen und in den Heimatländern Perspektiven schaffen.“

Es tut mir leid, Plattas Aussagen zu Punkt 3 sind lächerlich. Das ist, wie Platta selbst schreibt, ein kurzes Thesenpapier. Wer mehr zur Ausgestaltung wissen will, soll sich in die Programmatik der LINKEn vertiefen. Das Aktuellste dazu ist das Bundestagswahlprogramm 2017. Dort ist bezüglich Hartz IV und den Renten ziemlich konsensual, soweit ich weiß, eine Festlegung getroffen, und da steht genau drin, wie die solidarische Grundsicherung aussehen soll und wie der Mindestlohn aussehen soll, der eine auskömmliche Rente gewährleistet, auch die Anhebung des Rentenniveaus selbst ist genau beziffert. Weshalb ich glaube, dass dies in der Linken Konsens ist? Weil es schon so im ersten Programmentwurf von Riexinger / Kipping stand und später durch alle Beratungen in der Partei hindurch, die über Monate liefen, nicht mehr inhaltlich, sondern lediglich stellenweise ein wenig formulierungsseitig verändert wurde. Das heißt, die Bewegung wird hinter diese Standards nicht zurückgehen. Und das reicht mir, um sie vorerst okay zu finden. Nicht im Sinn einer langfristigen Systemveränderung, aber deswegen schreibe ich ja auch in letzter Zeit häufiger, wir müssen diese Werdung einer humaneren Ordnung als Prozess begreifen, da sind mir alle, auch Lafontaine und Wagenknecht nicht klar genug – wie wir dann weitergehen, nachdem das erreicht ist, was die Programmatik derzeit hergibt. Aber das ist es ja nicht, was Platta kritisiert, er hält das Papier für unklar, weil er es nicht in die Programmatik der LINKEn einordnet. Wo Wagenknecht und Lafontaine anderer Ansicht sind als andere in der Partei, wissen wir auch: Es ist nicht die Mindestsicherung und es ist nicht der Mindestlohn.

Dann zu Punkt 8. Mehr Polizei, verkürzt geschrieben.

Die rot-rot-grüne Regierung der Stadt Berlin, der Stadt, in der ich lebe, steht nicht im Verdacht, Wagenknecht und Lafontaine besonders nah zu stehen. Und sie fordert genau das und setzt es um. Es gibt diesbezüglich einen Allparteienkonsens unter Einschluss von Politikern, die früher selbst auf dem Myfest randaliert haben und Häuser besetzt haben. Womit ich nichts gegen Hausbesetzer gesagt haben will. Aber was wollen wir eigentlich? Einen Staat, der alles überwacht und alles weiß oder mehr Polizeipräsenz, um die Brennpunkte in den Griff zu bekommen? Und diese Brennpunkte gibt es in Berlin und das Gefühl der Unsicherheit ist greifbar.

Und genau darum geht es. Gerade Wagenknecht kritisiert jedes neue Gesetz, das unsere Meinungsfreiheit und unsere Privatsphäre einschränken könnte und ihr und Lafontaine quasi zu unterstellen, sie würden das, was beim G20-Gipfel in Hamburg passiert ist, gutheißen, ist haltlos. Es war ein gewisser Olaf Scholz von der SPD, der das mit seiner rotgrünen Stadtregierung angezettelt hat, was heute teilweise als False Flag Action angesehen wird, zumindest von linken Gegenmedien. Und ich erinnere mich, wie in einer Diskussion vor der Wahl 17 ein CDU-Politiker dieses Ding gegen die LINKE wenden wollte – in dem Sinn, dass sie die „Chaoten“ zu verantworten hätte, die zu einem Teil wohl Agents Provocateurs waren und dieser Wagenknecht nahestehende Politiker dagegen halten musste.

Mein Eindruck verdichtet sich, dass Platta von den realen Kampflinien nicht allzu viel mitbekommt. Und in meinem Bezirk startete DIE LINKE  letztes Jahr eine Protestaktion gegen die neuen Kameras mit Gesichtsfelderkennung, die gerade im Probeversuch an einem S-Bahnhof gelaufen sind. In anderen Ländern ist man da wesentlich weiter, aber wir als Linke, alle, die ich kenne oder beobachte, wollen dieses Abwanderung in den Polizeistaat so weit wie möglich verhindern. Denn sie ist das genaue Gegenteil der Erzeugung eines Sicherheitsgefühls durch gut geschulte, immer ansprechbare Streifen vor Ort – und vielleicht etwas mehr Ermittlungsarbeit, nebenbei bemerkt.

Gut, das haben wir also ausinterpretiert und widerlegt – nun aber Punkt 10.

Jetzt haben wir aber einen hübsch langen Anlauf genommen, bis wir zum eigentlichen Thema kommen, das nach meiner Ansicht auch der Punkt ist, warum Platta überhaupt so ablehenend eingestellt ist, seine Einlassungen zu 3.) und 8.) haben für mich mehr Alibi-Charakter: Damit der 10er nicht so allein, so monumental dasteht, wie er wirklich ist.

Platta gehört im Prinzip zur Open-Border-Fraktion und damit haben wir alles erklärt. Und dass dies auf Wagenknecht und Lafontaine nicht zutrifft, wissen wir. So, und jetzt zu dem Merker, den wir uns oben gemacht haben, ich zitiere noch einmal, damit niemand scrollen muss: „Ich bin zwar selber dieser Ansicht – die an anderer Stelle zu begründen wäre –, dass erst eine grundlegende, systematische Umgestaltung unserer kapitalistisch-strukturierten Gesellschaften imstande wäre, eine wirkliche, eine auch ökonomisch abgesicherte Gewährleistung der Menschenrechte bei uns wie weltweit herzustellen.“

Und jetzt vergleichen wir das mal mit seiner Kritik zu Punkt 10. Und da merken wir etwas. Er widerspricht sich leider selbst. Denn er spricht zunächst richtigerweise von zu schaffenden Voraussetzungen für das, was ich hier einmal als totale, oder, besser, vollkommene Humanität bezeichnen möchte. Und dann kritisiert er Lafontaine und Wagenknecht, dass die nicht heute und jetzt sofort alles, das ganze Welteinladungsprogramm anbieten, wie es einige in der LINKEN gerne hätten, die uns aber leider nicht erklären kann, wie’s funktionieren soll – schon gar nicht, wenn sie Mitglieder einer Stadtregierung von Berlin sind, die einen Bildungspolitik-Fail apokalyptischen Ausmaßes produziert und damit belegt, dass sie schon mit den aktuellen Anforderungen nicht Schritt halten kann.

Ich kann nichts dafür, ich bemerke bei den Wagenknecht-Lafontaine-Gegnern immer wieder einen beachtlichen Mangel im Logikbereich. Aber anders kriegt man die stante pede Implementierung des optimalen Morgen in ein bereichsweise recht beschissenes Heute wohl auch nicht hin. Und alle, die auf gewisse Denkfehler hinweisen, werden am liebsten gleich als Rassisten gestempelt, weil man das ja gar nicht hören will, dass man einer überaus einnehmenden Geschichte über sich selbst folgt, aber nicht den Spuren des Hier und Jetzt, wie sie sich gerade in Berlin täglich zeigen.

Aber es geht ja noch weiter, Platta greift das Wagenknecht-Stegemann-Interview an, auch hier können wir weiterzitieren: „Die politisch sinnvolle Grenze verläuft nicht zwischen den Ressentiments der AfD und der allgemeinen Moral einer grenzenlosen Willkommenskultur. Eine realistische linke Politik lehnt beide Maximalforderungen gleichermaßen ab. Sie unterstützt die vielen freiwilligen Helfer in der Zivilgesellschaft, die sich um die Integration der Flüchtlinge kümmern. Und zugleich lässt sie sich nicht von kriminellen Schlepperbanden vorschreiben, welche Menschen auf illegalen Wegen nach Europa gelangen.“

Ja, da hat Platta was gefunden. Wohlgemerkt nach seinem Ablehnungsbrief an Lafontaine. Ich will jetzt auch keinen Whataboutismus drehweise betreiben, etwa so: Alle, die nicht sofort die Grenzen komplett abschaffen wollen, sind Rassisten. Es gibt genug „allgemeine“ Ansichten, die genau diese Zuschreibung auch versuchen. Ich behaupte, sie sind nicht minder verantwortungsbewusst.

Trotzdem – die Passage halte ich für missglückt. Obwohl Platta sich oben den Klops des Selbstwiderspruchs geleistet hat und auch sonst nicht sehr präzise argumentiert, hier muss ich sagen, wurde ein Fehler gemacht, den er bennent – in der Formulierung, nicht in der Logik, das wiederum gibt Platta selbst zu. Wenn Wagenknecht so intelligent ist, wie auch Platta es ihr zutraut, dann wäre nun zu fragen, ob diese Formulierung durchgerutscht sein kann – oder eine Testprovokation war. So etwas zu platzieren, wäre in der Tat dem Vorgehen der AfD ähnlich. Ich will das auch nicht relativieren und in einen Kontext einordnen oder gar behaupten, das sei nun nicht gerade eine Zentralaussage für die Gestaltung von „Aufstehen“, daran solle man sich nicht so festbeißen.

Da steckt nämlich noch etwas drin, das Platta gar nicht erwähnt: Er geht zwar darauf ein, dass mit den Schleppern wiederum die Geflüchteten kriminalisiert werden, was ich  nicht Eins zu Eins so sehe, aber – der von rechts geschürt Verdacht, die Seenotretter würden mit den Schleppern gemeinsame Sache machen, der wird getriggert. Denn wirklich  nach Europa können ja nur die gelangen, die mit ihren Nussschalen durchkommen oder eben von den Seenotrettern aufgegriffen werden. Diejenigen, auf die beides nicht zutrifft, ertrinken elend und das ist eine Katastrophe und ein Skandal, der auf die gesamte EU zurückfällt.

Dann wird es aber wieder sehr prinzipiell: Was ist Realismus und darf man nicht mehr träumen?

Ich muss schreiben, das hat mich geradezu berührt. Aber das ist es doch. Der Realismus des Heute ist für heute und von hier aus schreiten wir voran. Dafür müssen wir aber erst aufstehen. Dafür müssen wir einen nicht einfachen Weg gehen und dabei einig sein über das Ziel. Im Elfenbeinturm sitzend und träumend werden wir die Welt hier nicht verpflegen, mit Wohnungen guter Arbeit und mit Bildungsangeboten versorgen können, die wenigstens halbwegs Chancengleichheit herstellen und damit eine für jede solidarische Gesellschaft unabdingbare Grundlage.

Aber zum guten Schluss dreht Platta die Argumentation um. Solange die von Wagenknecht geforderte Eindämmung der Fluchtursachen nicht funktioniert, weil es keine solidarische Weltgemeinschaft gibt, muss eben hier im Westen geholfen werden, wo die Geflüchteten ankommen.

Vielleicht noch kurz zum Unterschied zwischen politisch Verfolgten und Kriegsflüchtlingen. Vom Grundgesetz ist der Schutz politisch Verfolgter, mit mittlerweile geltenden Einschränkungen, die zudem immer wieder mal geändert werden. Ganz offen: Politische Verfolgung ist in vielen Fällen nicht nachprüfbar, deswegen wurde ja auch im Spätherbst 2015 für syrische Geflüchtete das Asylanerkennungsverfahren zwischenzeitlich ausgesetzt, das war auch unter diesen schwammigen Voraussetzungen nicht mehr zu bewältigen. Das Problem, das ich bei dem Verfahren sehe, ist, dass derjenige, der am besten gebrieft ist und die beste Story bereithält, eher Asyl erhält als ein unbedarfter Mensch, der wirklich einfach nur Hals über Kopf flieht, ohne dabei auf eine gewisse Logistik zurückgreifen zu können. Das kommt daher, weil die Anerkennung zwangsläufig nicht auf einer lückenlosen und  glaubwürdigen Dokumentation beruht, sondern auf Einschätzungen bezüglich der Plausibilität des Vorgetragenen.

Das erinnert mich ein wenig an die Gewissensprüfung seinerzeit, wenn man keinen Dienst an der Waffe leisten wollte.  Dieses System ist nicht gerecht und genau das lässt sich wohl nicht ändern. Die Alternativ wäre eine Abschaffung sämtlicher Zugangsregelungen. Und die fordert außer Teilen der deutschen Linken keine andere Partei in Europa. Keine. Das, was wir haben, ist sowieso ein deutscher Sonderweg, den ich kostbar und wichtig finde, aber natürlich ist auch er nicht unendlich breit und wie man ihn verbreitern kann, ohne dass das System entsprechend zurückweicht und Raum dafür gibt, das erklärt natürlich auch Platta nicht. Bis jetzt bin ich noch nicht auf jemanden gestoßen, der da ernsthaft etwas anbietet.

Das am meisten Zielführende, was ich bisher in der gesamten Diskussion gelesen habe, beschäftigte sich damit, wie „Aufstehen“ organisiert sein könnte, um wirksam zu werden.

Fazit?

Die missglückte Mittelmeer-Rhetorik von Wagenknecht und Stegemann konzedierte ich Platta als Punkt, den hat er also gemacht – aber ansonsten bin ich nicht weitergekommen. Will mir endlich jemand sagen, wie wir das Morgen, weit wie das Meer weiter noch, ins enge, Millionen von Menschen in Deutschland ohnehin marginalisierende Heute stopfen wollen? Alles fordern könnte ich auch und wenn ich es dabei beließe, hätte ich viel weniger Stress mit dem Nachdenken über das „Wie“.

Es ist wichtig, dass sich Menschen auch um die Problem der ganzen Welt kümmern und sie sind wichtige Stimmen. Aber „Des Glückes Unterpfand“, wie es witigerweise jetzt die Grünen ganz klassisch nennen, das steht unter der Prämisse, dass wir erst einmal alle zusammenarbeiten müssen, um die Voraussetzungen zu schaffen. Das darf man, wenn man ethisch ganz korrekt sein will, nicht denjenigen überlassen, die Probleme und Begrenzungen sachgerecht benennen und sie dann, wenig ethisch anspruchsvoll, noch als Rassisten beschimpfen. Nur, wer die Dinge beim Namen nennt, kann Lösungen erarbeiten. Und nur, wer das kann, der ist wirklich aufgestanden und auf dem Weg dorthin, wo diejenigen, die gerne alles für hier du heute fordern, doch so gerne hinwollen.

Wenn man es sich etwas länger und genauer anschaut, belegt hingegen Platta am Ende noch einmal, warum er oben den analysierten Denkfehler begangen hat: Es wäre ja eine intellektuelle Großtat, wenn er den Weg vorzeichnen könnte, also die Gestaltung aller vor uns liegenden Aufgaben und Lösungen. Er hat aber nicht einmal eine Vorstellung von der richtigen Reihenfolge, der Prioritäten-Kette, wenn man es so nennen will. So werden wir nicht vorankommen.

© 2018 Der Wahlberliner, Thomas Hocke


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2 Kommentare

  1. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß der alberne Kalauer, der Oskar Lafontaine in dem anmoderierenden Text zu meinem Analyseversuch zur Sammlungsbewegung „aufstehen“ zum „Aufstehmännchen“ gemacht hat, nicht von mir stammt. Mein Versuch, mich dagegen zu wehren, ist leider erfolglos geblieben. Positiv:

    Ich halte von Oskar Lafontaine wie von Sahra Wagenknecht viel zu viel, nach wie vor, als daß ich es für angebracht hielte, derart dämlich auf beide als Personen loszugehen. Diese Tatsache müßte eigentlich auch meinem Text der freundschaftlichen Kritik aufs deutlichste anzumerken sein.

    Mein eigentlicher Hauptpunkt wird in der kritischen Auseinandersetzung – nichts ist legitimer als das! – mit meinem kritischen Beitrag nahezu völlig ausgespart:

    Ich wende mich gegen die Pseudo-Alternative „Fluchtursachenbekämpfung“ versus „Soforthilfe für die flüchtenden Menschen jetzt“. Wiederum positiv formuliert:

    Ich habe gegen das Konzept von Sahra Wagenknecht/Oskar Lafontaine, Fluchtursachenbekämpfung zu betreiben, überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil: diese ist aufs dringlichste erforderlich. Aber:

    Da dieses den Menschen, die jetzt auf der Flucht sind (weil sie es müssen, um Krieg, Folter oder dem Hungertod vielleicht entgehen zu können), aber nicht hilft, da „Fluchtursachenbekämpfung“ – leider! – eine Langfrist-Aufgabe ist, gehört zu einem humanen Umgang mit den Flüchtlingen jetzt die von mir vertretene „Soforthilfe“ unverzichtbar mit hinzu! Dieses ist ebenfalls aufs dringlichste erforderlich.

    Bitte schreiben wir uns wechselseitig nicht Vereinseitigungen hinein, die in meinem Fall völlig unabgebracht sind! Zur linken Solidarität gehört, nicht Pseudo-Alternativen in die Köpfe der Menschen hineinschreiben zu wollen, sondern die existenten (!) Gemeinsamkeiten nicht wegzupolemisieren.

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    1. Sehr geehrter Herr Platta, herzlichen Dank für die engagierte Replik. Die Befassung mit „Aufstehen“ muss leider derzeit etwas hinter andere Themen zurücktreten, aber ich hoffe, ich komme bald wieder dazu, mich weiter damit und natürlich auch mit Ihren Argumenten auseinanderzusetzen.

      Viele Grüße
      Thomas Hocke

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