Frontpage - Timeline | Umfrage | Coroan Lage (89)
Liebe Leser*innen,
es geht weiter. Das Weltgeschehen wird auch im neuen Jahr keine Ruhe geben und wir werden aufmerksam sein , wir werden noch aufmerksamer sein müssen. Wir haben beim Wahlberliner ein sehr gutes letztes Quartal 2020 hinter uns gebracht – obwohl wir nicht unabhängig sind von Corona, nur, weil die Schreibarbeit in einem einigermaßen geschützten Raum stattfindet.
Wir können beispielsweise keine Vor-Ort-Reportagen von sozialen Kämpfen mehr senden, wie schon im April und Mai 2020 und danach hatten wir bereits Schwierigkeiten, wieder hochzuschalten, das wird nach dem aktuellen Lockdown nicht anders sein. Wir haben uns bezüglich unserer Schwerpunkte jedoch ein wenig angepasst. Diese Möglichkeit haben viele andere Menschen nicht, deren berufliche Tätigkeit erlaubt kein Ausweichen.
Nun geht es, wie zu befürchten war, darum, ob der Corona-Lockdown verlängert werden soll – über das ursprünglich geplante Ende am 10. Januar 2021 hinaus. Darum fragt Civey:
Dieses Mal müssen wir auch die Meinungen der Politik mit abbilden. Das, was unterhalb der jeweiligen Umfrage regelmäßig und erklärungsweise ausgeführt wird, beeinflusst sowieso das Abstimmungsverhalten der Teilnehmer, aber die Politik hat hier natürlich eine Meinung:
Am kommenden Dienstag wollen Bund und Länder entscheiden, ob die Corona-Maßnahmen des „harten Lockdowns“ auch den Januar über in Kraft bleiben sollen. Der aktuelle Lockdown hat am 16. Dezember begonnen. Die Regelungen gelten bis mindestens 10. Januar. Sie umfassen unter anderem Kontaktbeschränkungen im privaten Bereich, die Schließung des Einzelhandels (ausgenommen sind Geschäfte des täglichen Bedarfs) und auch die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten.
In den vergangenen Tagen haben sich Politiker für eine Verlängerung des Lockdowns ausgesprochen. „Der Lockdown ist und war notwendig, und er muss wohl auch Anfang Januar verlängert werden“, sagte der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) der Rheinischen Post. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), sagte gegenüber RTL/n-tv: „Wenn die Infektionszahlen so hoch bleiben, dann gehe ich davon aus, dass wir mindestens diese Maßnahmen, die wir jetzt haben, auch verlängern werden.“
Als Kritiker der Maßnahmen hatte sich zuletzt die AfD positioniert. Im Vorfeld des aktuell gültigen Lockdowns sprach die Vorsitzende der AfD-Fraktion im Bundestag, Alice Weidel, von einer „untaugliche und kontraproduktive Holzhammer-Methode“. Weidel warf Bund und Ländern vor, in übergriffiger Weise ins Privatleben der Bürger hineinzuregieren. FDP-Chef Christian Lindner äußerte Zweifel an der langfristigen Wirksamkeit einer „Stop and Go-Politik“ von Bund und Ländern.
Hart sind die Maßnahmen für viele Menschen, daran besteht kein Zweifel. Aber allein der Begriff „harter Lockdown“ ist einfach falsch. Ein harter Lockdown würde stärkere Ausgangsbeschränkungen und auch das Herunterfahren weiterer Teile der Wirtschaft auf ein Mindestmaß dort bedeuten, wo Menschen nicht ins Homeoffice ausweichen können – bis auf die Gesundheitsversorgung natürlich. So hat man es in Wuhan, China, gemacht, als das Virus dort ausgebrochen war. Zwar gibt es jetzt Gerüchte, dass die Infektionszahlen dort viel höher liegen könnten als offiziell ausgewiesen, aber offiziell hatte der harte Lockdown vor einem Jahr Erfolg.
Ob hingegen ein Soft-Lockdown Erfolg haben kann, der bedingt, dass immer noch unzählige Menschen gar keine andere Möglichkeit haben, als in den Städten unterwegs zu sein, ist angesichts der massiven derzeitigen Infektionszahlen mindestens fraglich.
Wie habe ich geantwortet? Nicht mit „eindeutig ja“, sondern mit „eher ja“. Diese Antwort wirkt, als sei sie nicht maximal dezidiert, denn in der Auswertung wird sich nicht niederschlagen, dass ich Anfang November 2020 der Ansicht war, ein wirklich harter, aber zeitlich enger begrenzter Lockdown sei das Mittel der Wahl, als die Infektionszahlen steil anstiegen. Jetzt haben wir den Salat, Deutschland hat in Relation zu seiner Bevölkerungsgröße mit die höchsten Infektionszahlen und die höchsten Todesfallzahlen. Innerhalb weniger Wochen hat Deutschland seine Position als ein größeres, dicht besiedeltes Land des Westens, das noch einigermaßen gut durch die Pandemie kommt, eingebüßt. Weil eben die Strategie falsch war. Zu zögerlich, zu wenig, zu uneinheitlich. Deshalb ein „bedingtes“ Ja. Es gibt aber eine weitere Bedingung: Sollten sich in den nächsten Tagen, warum auch immer, die Zahlen stark ermäßigen, wäre es in Kombination mit den nun stattfindenden Impfungen in der Tat geboten, die Maßnahmen stärker auszudifferenzieren.
Grundsätzlich habe ich aber Verständnis dafür, dass aus der CDU und der SPD Stimmen kommen, die für eine Verlängerung der Maßnahmen plädieren, falls sich eben nichts Wesentliches an den Zahlen ändert. Besonders die enorm hohen Todeszahlen sollten langsam jeden erschrecken, der sich mit dem Thema befasst. Nach Weihnachten gab es einen erheblichen Schub, basierend vermutlich auch auf Nachregistrierungen. Am 29.12. kam es zur Ausweisung von 1.244 neuen Todesfällen. Das sind Zahlen, die man in Deutschland bisher weitgehend für unmöglich gehalten hatte. Auch gestern sah es in Relation zu anderen Ländern wieder nicht gut aus:
Deutschland steht demnach an fünfter Stelle weltweit bei den Todesfällen, die gestern gemeldet wurden. Voraus nur Länder mit wesentlich höheren Einwohnerzahlen und immer mal wieder entweder das Vereinigte Königreich oder Italien. Solange die Zahlen so drastisch bleiben, sehe ich keine Chance für eine Lockerung. Und ich will nicht sagen, dass es mich persönlich nicht auch immer mehr trifft. Nun schließt mein langjähriger Friseur, und es war so praktisch gewesen, immer auf die andere Straßenseite zu gehen und dort gut bedient zu werden. Wer weiß, was anstelle dieses Geschäfts nun in das Ladenlokal kommt, angesichts des stadtbekannt renditegeilen Vermieters und der Tatsache, dass vermehrt nur noch Geschäftsleute mit illegalen „Zusatzeinnahmen“ in dieser Situation durchhalten können und eine ganz spezielle Form von Infrastruktur sich dadurch immer weiter in die Kieze hineinschiebt. Was Corona in den Städten anrichten wird, lässt sich noch gar nicht richtig abschätzen, aber die Tendenz ist sehr negativ.
Gleichzeitig sammelt die AfD die Corona-Leugner ein, wie man an den obigen, unsinnigen Aussagen sieht. Was daran nicht nur unsinnig ist, sondern mir den Magen umdreht: Dass die AfD sich als Partei etablieren möchte, die für die Freiheitsrechte kämpft. Die FDP darf im Konzert der sogenannten Freiheitsliebenden nicht fehlen, die Freiheit immer nur als Freiheit des Stärkeren und gegen das Allgemeinwohl gerichtet sehen: Alles ist nach deren Ansicht nicht kleinteilig genug. Motto: Bis alles individuell nach unserem Gusto ausgefitzelt ist, ist es sowieso bürokratisch nicht mehr handhabbar und das ungebremste Walten der Unverantwortlichen hat mal wieder gesiegt – über die Vernunft und über die Menschlichkeit. Man weiß gar nicht, was man schlimmer finden soll.
Vielleicht wird es noch in die Köpfe der Starrsinnigen einsickern: Wir haben uns, Fehler der Politik hin oder her, die miserable gegenwärtige Lage selbst zuzuschreiben. Auch die Vernünftigen unter uns und da schließe ich mich ein: Nicht nur, wer den Mist verbockt, ist schuldig, sondern auch derjenige, der nicht hilft, ihn zu verhindern oder wenigstens aktiv dagegen protestiert. Wir hätten uns den freidrehenden Coronaleugnern in viel größerer Zahl und viel eindeutiger entgegenstellen müssen. Gerade wir in Berlin, denn wir haben die Möglichkeit, das so zu tun, dass es Öffentlichkeitswirksamkeit erzielt. Die meisten von uns haben es hingegen zugelassen, dass nur ein paar Aufrechte gegen den Irrsinn auf die Straße gingen. Einige von uns, die ansonsten demonstrationserprobt sind, waren auch deswegen zögerlich, weil sie selbst in den Wirren der Pandemie nicht mehr eindeutig Position beziehen und mit Abstufungen Verständnis für die Ansichten der Leugner haben. Darum geht es aber nicht, sondern darum, dass diese „Querdenker“ in Wirklichkeit die Gesellschaft weiter spalten.
Aber es gab auch welche, denen es irgendwie zu viel wurde und dies geht auch an die eigene Adresse. Instinktiv Abstand halten zu Menschen, die nicht beieinander sind, ist in diesen Zeiten sicher ein guter Ratschlag, persönlich gesehen. Aber trotzdem ist es unsolidarisch gegenüber jenen, welche die Folgen des hohen Anteils an Ignoranten und Rücksichtslosen in Deutschland auszubaden haben, die Opfer fremder oder eigener Dummheit versorgen müssen, ist nicht korrekt jenen gegenüber, die ihre Geschäfte schließen müssen, deren Jobs in Gefahr sind, deren Sozialleben zusammenbricht – usw.
Dieses Mal geben wir keine Abstimmungsempfehlung, anders als gestern bezüglich des Silvesterfeuerwerks, aber wer Corona immer noch nicht ernst nimmt, den hat es wohl schon erwischt und kognitiv und bezüglich der Analysefähigkeit geschädigt. Ich hatte diese Woche erstmalig das zweifelhafte Vergnügen, mitzuerleben, wie sich eine mir sehr nahestehende Person testen lassen musste, weil in ihrem Berufsumfeld Corona-Fälle aufgetreten sind – zum Glück war ihr Test negativ. Mich erinnerte die Situation u. a. an die eigenen Erlebnisse mit AIDS-Tests und wie ich mich gefühlt hatte, bis klar war, alles okay. Aber die Anspannung wächst und sie wächst nicht, weil Vernunft plötzlich Unvernunft wäre, sondern, weil die Lage sich bisher nicht gebessert hat.
Kleines Update am 02.01.2021, 14:35 Uhr: Civey hat den Stand der Umfrage zugesendet: 67,5 Prozent der Abstimmenden sind für eine Verlängerung des „harten“ Lockdowns. Trotz der großen Einschränkungen, die er für uns alle mitbringt. Wenn die Pandemie wirklich dann endet, wenn „das Volk“ es will, wie ich schon im Frühjahr in Artikeln von Corona-Leugnern gelesen habe, denn endet sie eben nicht durch einen Fingerschnipp, sondern wird vernünftigerweise bekämpft, bis sie wirklich endet. Ach so: Umfragen sind ja Fake News, ihr Aluhüte, ne? Hilfe!
TH