Endstation – Polizeiruf 110 Fall 357 #Crimetime 909 #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Magdeburg #Brasch #Köhler #MDR #Endstation

Crimetime 909 - Titelfoto © MDR,

Passt gerade gut

In Deutschland gibt es mörderischen Terror von rechts, Amokfahrten, politische Dammbrüche, wir schreiben den 24. Februar des Jahres 2020. Eigentlich ein Rosenmontag. Man kann an diesem Tag aber auch über den 357. Polizeiruf schreiben, so trübe ist er. Der Tag. Und so düster der Film. Denn es ist ein Brasch-Krimi aus Magdeburg. Jede Tatort- und Polizeiruf-Schiene hat ihr Gepräge und mit dem Gepräge verbindet sich eine Erwartung, für manche sogar ein Versprechen. Wir erwarten von einem Magdeburg-Krimi, dass bezüglich der Emotionen keine Gefangenen gemacht werden. Hat’s geklappt? Darüber mehr in der -> Rezension.

Handlung (Wikipedia)

Das Pflegekind der Familie Schilchow, der 12-jährige Marco, fällt auf dem Heimweg von der Schule einem Totschläger zum Opfer. Hauptkommissarin Doreen Brasch übernimmt den Fall und kurz darauf stößt ihr neuer Kollege, Hauptkommissar Dirk Köhler, zum Team dazu. Ihnen kommen die Aussagen der fassungslosen Familienmitglieder intuitiv seltsam vor. Besonders der leibliche ältere Bruder des Getöteten, der in der gleichen Familie lebt, fällt durch ungezügelte Aggressionsausbrüche auf. Manuela Siebrecht, die eigentliche Mutter der beiden, eine labile Frau und Ex-Heroinabhängige, die erst seit wenigen Monaten clean ist, erleidet einen Nervenzusammenbruch und drängt sich anklagend in die Familientrauer-Szenerie. Als sie eines Tages doch wieder „zugedröhnt“ bei den Schilchows erscheint, rastet Sascha aus und schlägt seine Mutter derart zusammen, dass er von Brasch an Schlimmeren gehindert werden und sie in die Klinik gebracht werden muss. Angesichts dieses Gewaltpotentials kommt er für Brasch durchaus als Täter in Betracht.

Als Marco aufgefunden wurde, hatte er eine goldene Uhr bei sich, die nachweislich aus einem Einbruch stammt. Dieser Spur folgend gelangen die Ermittler zu dem Kleinkriminellen Ingo Ratzke. Brasch beschuldigt ihn, Marco und seinen Bruder Sascha zu Diebstählen angestiftet zu haben. Eine Befragung Saschas in diese Richtung scheitert daran, dass er untergetaucht ist. In der Hoffnung, dass sich der Junge mit Ratzke in Verbindung gesetzt hat, suchen Brasch und Köhler ihn auf. In der Auseinandersetzung mit Ratzke wird Köhler schwer verletzt, sodass Brasch auf sich allein gestellt ist. Sie kommt dahinter, dass die Lösung, Sascha zu finden, bei den Schilchows liegt. Sie kommt gerade hinzu, wie Saschas Pflegemutter dabei ist, Blutspuren wegzuwischen und verstört berichtet sie der Kommissarin, dass sie Sascha dabei ertappt habe, wie er sich gerade Geld aus der Firmenkasse ihrer kleinen Wäscherei nahm. Als sie ihn aufhalten wollte, erfuhr sie von ihm, dass er seinem Bruder nur „ein wenig Vernunft einprügeln“ wollte, weil er wegen der Einbrüche zur Polizei gehen wollte. Er könne schließlich nichts dafür, wenn Marco das nicht aushalten konnte. Sascha begann auch sie zu schlagen und da hätte sie kurzerhand eine Rohrzange genommen, die auf einer der Waschmaschinen lag und mehrfach auf Sascha eingeschlagen. Herr Schilchow wird kurz danach festgenommen, als er gerade dabei ist, ein Loch für die Leiche von Sascha auszuheben.

Während der ganzen Zeit haben die Ermittler privat mit eigenen Problemen zu kämpfen. Doreen Brasch will ihren frisch aus der Strafanstalt entlassenen Sohn am Gefängnistor abholen. Doch dieser brüskiert sie mehrfach. Derart belastet muss sie akut auch noch mit dem freiwilligen Ausscheiden von Kriminalobermeister Mautz und dem neuen Kollegen Hauptkommissar Dirk Köhler – dem Ersatz für KHK Drexler – fertig werden. Das fällt ihr nicht leicht. Es kommt zu für beide Seiten unangenehmen zwischenmenschlichen Konflikten.

Rezension

Wir werden nie erfahren, was das Kleinunternehmer-Ehepaar Schilchow dazu bewogen hat, drei Pflegekinder bei sich aufzunehmen. Nicht nur drei Pflegekinder, sondern auch noch welche mit besonders hohem Bedarf an Zuwendung, Einfühlungsvermögen – aber auch professionellen Werkzeugen, um einen Crash zu verhindern, wie er uns mit aller inszenatorischen Gemütsruhe vorgeführt wird. Die Dekonstruktion einer ohnehin dysfunktionalen Familie haben wir selten so stimmig gezeigt bekommen wie im 357. Tatort. Eine gewisse Vorhersehbarkeit ist dadurch nicht zu vermeiden.

Vielleicht hatten die Schilchows mit einer einzigen eigenen Tochter zu wenig Probleme. Das wird’s gewesen sein, es war mit ihr zu langweilig. Am furchtbarsten war für uns, dass wir uns beim Anschauen dabei ertappt hatten, dass wir auf der Seite von Frau Schilchow waren, als sie Sascha erschlägt. Da nützte es nichts, dass wir seinen Hintergrund kannten, die desolaten Verhältnisse, aus denen er stammte. Es war nicht einmal der Moment, in dem er seinen Bruder misshandelt, so dass dieser stirbt, es war dieses Angrinsen der Pflegemutter, das bei uns den Schalter umgelegt hatte. Eigentlich dürften wir sowas gar nicht schreiben, aber das Ganze hat ja eine Vorgeschichte, es kommt nicht aus dem Nicht und die Macher des Films tun zuvor schon alles, um das Publikum in eine aggressive Stimmung hineinzumanipulieren.

Wieder einmal trägt Doreen Brasch viel dazu bei. Das schiefe Verhältnis zu ihrem eigenen Sohn, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wird, ist das kleine Echo auf die mörderischen Probleme der Schilchows und mit ihrem neuen Kollegen Köhler kommt Brasch mal so ganz aus freien Stücken überhaupt nicht klar, das haben wir in dieser totalen Form bisher bei keinem Team gesehen. Animositäten, Eingewöhnungsschwierigkeiten, nervige Kabbeleien und Sticheleien – aber nicht diese Verweigerungshaltung.

Man muss diese düsteren Krimis aushalten können, es gibt in ihnen keine Entspannungs- oder gar Komfortzone. Der MDR wollte nach den manchmal im Angesicht des Verbrechens manchmal etwas zu gut aufgelegten Schmücke und Schneider etwas ganz anderes machen und das hat er mit Brasch / Drexler und dann mit Brasch / Köhler eindeutig erreicht. In „Endstation“ erfahren wir nun, dass Brasch selbst ein Pflegekind war, offenbar eine schwierige Kindheit hatte und hat wenigstens einen Anhaltspunkt, ihre enormen Bindungsprobleme betreffend. Etwas zu verstehen, die Hintergründe zu kennen, heißt leider nicht immer, es akzeptieren zu können, sonst hätten wir auch nicht diese finalen Wutgefühle Sascha gegenüber entwickelt. Ohne das Verhalten von Brasch wäre es aber vielleicht nicht dazu gekommen, es ist die Kombination aus vielen Figuren, die sich nur destruktiv verhalten, die uns in diesen Zeiten manchmal ziemlich  herausfordert.

Denn damit ist es nicht getan. Wenn dieses Magdeburg, das mit Brasch auf den Bildschirm kommt, ein fremder, nicht nur unwirtlicher, sondern auch unwirklich erscheinender Ort wäre, wär’s ja etwas anderes, aber unsere heutige Realität spiegelt sich in der Unfähigkeit der dortigen Figuren, empathisch und vielleicht auch ein bisschen gütig zu sein. Es ist bei Brasch nicht wie mit Lindholm, die wir aus weltanschaulichen Gründen ablehnen, es ist aber doch eine Form von Ärger, die wir angesichts ihres Handelns verspüren. Wir haben auch eine Ahnung, woher das kommt: Wenn wir uns im Alltag so verhalten würden, würde uns das alle paar Wochen den Job kosten. Die Polizist*innen in Tatorten und Polizeirufen genießen ohnehin große Freiheiten, von denen ihre Kolleg*innen im echten Kriminaldienst nur träumen können, aber diese Verweigerung jeder vernünftigen Form von Kooperation sollte auch im Film nicht unwidersprochen bleiben. Mit dem Kriminalrat Lemp hat Brasch zu ihrem großen Glück einen Vorgesetzten, der sie sehr schätzt und immer versucht, den Laden zusammenzuhalten.

Wir wissen ja, dass sich das Verhältnis Brasch / Köhler noch ein wenig normalisieren wird, aber letztlich beißt er sich an ihr die Zähne aus – sie wird 2020 nun den dritten Partner bekommen, nachdem Matthias Matschke aus der Reihe aussteigt. Man muss sich selbstverständlich vor Übertragungen hüten; ob Matschke geht, weil seine Rolle ihn nicht befriedigt, ob Claudia Michelsens Leben und Persönlichkeit Züge von Brasch und deren Vita tragen, das ist Spekulation, zumindest dürfte ihre Darstellerin nicht in vergleichbar schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sein wie die Figur, die sie spielt. Die Kommissarin, die sich mit zusammengebissenen Zähnen durchs Leben und den Beruf kämpft. Irgendwie ist es auch bewundernswert, sowas durchzuziehen, nicht aufzugeben, den Job zu machen, von den Machern der Magdeburger Polizeiruf-Schiene, jemanden über Jahre so konsequent dissonant und oft unsympathisch wirken zu lassen, der eigentlich die Aufgabe hat, das Publikum zu binden – aber „eigentlich“ deutet schon darauf hin, dass gewisse Konventionen bewusst mehr und mehr außer Kraft gesetzt werden.

Anders als z. B. Faber in Dortmund ist Brasch aber keine „Show“; sein mangelhaftes Sozialverhalten hat auch etwas Freakiges und ist manchmal lustig, so wären wir auch immer mal wieder gerne, ohne, dass es fatale Konsequenzen haben würde, bei Brasch haben wir dieses Bedürfnis nicht. Frei sein durch Freidrehen ist nicht das, was sie ausstrahlt. Es wirkt eher beklemmend, wie sie sich und anderen das Leben schwer macht. Da dies aber alles so geplant ist, sagen wir am Ende immer wieder, wir akzeptieren das Programm, es ist eine von vielen Spielarten des deutschen Premium-Krimis am Sonntagabend und, bei aller Stilierung, die darin liegt, dass Braschs ständige Übertretungen nicht geahndet werden, das Dunkle der Magedeburg-Krimis spiegelt auf eine leider höchst unangenehme Weise viel mehr von der Realität als eben das Faber-Modell oder gar die humoristisch angelegten Teams der Parallelreihe Tatort.

Finale

Das Nachdenken über die leitende Kommissarin bietet sich hier an, denn was die Episodenfiguren zur Endstation führt, ist relativ klar, es liegt auf der Hand, es gibt nichts Kryptisches in diesem Film – bis auf den oben angesprochenen Aspekt: Was hat die Schilchows veranlasst, sich solch eine Falle aufzubauen? Da wir über deren  Hintergründe aber rein gar nichts erfahren, können wir nicht über Ursachen und Wirkungen schreiben. Sie betreiben eine chemische Reinigung, sind brave, etwas einfach gestrickte Mittelständler, überfordert mit dem, was sie sich aufgeladen haben.

Sie haben ihr Leben selbst zu einem Labyrinth gemacht, aus dem es kein Entrinnen gibt. Filmisch ist das gut umgesetzt, das Haus, in dem sie leben, respektive die Kinderzimmer im 1. Obergeschoss werden sehr eng dargestellt, die Übergänge von Raum zu Raum sind manchmal kaum wahrnehmbar, alles wirkt wie zu viel Leben, das gar nicht im Griff sein kann und ständig neue Probleme entwickelt, die durch die Art, wie das Ehepaar Schilchow sie angeht, niemals zu lösen sind. Eine Strategie ist nicht erkennbar und dann wirkt auch immer noch die leibliche Mutter der beiden Jungen in alles hinein; eine weitere Figur, die vom Zuschauer einiges an Duldsamkeit verlangt. Angesichts ihres Verhaltens versteht man wiederum Saschas Wesen, siehe wieder oben, Verstehen heißt nicht zwangsläufig Akzeptanz. Außerdem schreitet der Film voran: Mal ist es so, mal so. Man wird vor dem Bildschirm geradezu mitgeschleudert, in der Waschmaschine, die man hin und wieder im grellen Licht der klinischen Wahrheit sieht. Man spürt selbst die Desorientierug der Figuren in dem Film, die nirgends einen emotionalen Anker finden.

Für die Polizeirufe gibt es leider kein Modul wie den Tatort-Fundus, wo viele Zuschauer ihre Bewertungen und Kurzkommentare hinterlassen können, aber wir können uns gut vorstellen, dass viele von ihnen stöhnen, wenn wieder ein Magdeburg-Krimi ansteht, die Kritiker mögen hingegen den Dekonstruktivismus, der in diesen Film Raum greift. Wir wechseln ja gerne zwischen diesen beiden Rollen, weil wir dadurch große schreiberische Freiheit gewinnen, ähnlich, wie die Filmpolizist*innen wesentlich weniger einem Regelwerk unterworfen scheinen als ihre Realkolleg*innen. Deswegen dürfen wir aber auch schreiben: Die Magdeburg-Polizeirufe fordern uns mehr als alle anderen und die Überlegung, ob man es dort mit der Tristesse nicht etwas zu sehr übertreibt, resultiert daraus. Wir haben nun „Totes Rennen“ zu rezensieren, den neuesten Brasch-Köhler-Polizeiruf. Aufgezeichnet ist er schon. Mal sehen, wieviel Anlauf wir brauchen, um die Tür in dieses Universum der Kälte und seelischen Gefahr erneut aufzustoßen, nachdem wir gerade erst über „Endstation“ geschrieben haben.

7,5/10

© 2021 (Entwurf 2020) Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Matthias Tiefenbacher
Drehbuch Stefan Rogall
Produktion Iris Kiefer
Musik Biber Gullatz,
Andreas Schäfer
Kamera Hanno Lentz
Schnitt Horst Reiter
Besetzung

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