Frontpage | Corona Lage | Corona-Maßnahmen, Spaltung und Freiheit
Man mag es kaum glauben, aber der Wahlkampf hat Corona tatsächlich als Thema Nr. 1 verdrängt. Einerseits gut, weil das eine gewisse Normalität suggeriert. Zumal durch den Wahlkampf auch Themen wie der Klimawandel und soziale Gerechtigkeit wieder stärker in den Fokus gerückt sind. Trotzdem müssen wir heute wieder einmal einen Lagebericht schreiben. Das hängt auch damit zusammen, dass Berlin ein Hotspot des Corona-Geschehens ist. Außerdem lassen die Zahlen weltweit nicht nach. Auch Länder, in denen die Impfquoten schon zwischen 60 und 70 Prozent (vollständige Impfung) liegen, zeigen keine günstige Entwicklung.
Um es gleich festzuhalten: Das ist kein Artikel gegen das Impfen, denn die Zahlen unter den Ungeimpfen sind um ein Vielfaches höher als unter den Geimpften. Man mag sich nicht ausdenken, was gerade ablaufen würde, wenn nicht eine vernünftige Mehrheit sich eben vernünftig verhalten würde. Diese Mehrheit muss aber die Last mittragen und unterliegt selbst einem höheren Risiko, weil eben nicht alle mitziehen. Dazu kommen wir gleich. Erst zeigen wir die Weltgrafik, die ziemlich frustrierend wirkt. Seit längerer Zeit pendelt sich die Zahl der Neuinfektionen bei ca. 700.000 pro Tag ein, die der Todesfälle zwischen 9.000 und 10.000, mit einer leicht positiven Entwicklung in den letzten Tagen:

Deutschland indes verzeichnet ansteigende Zahlen:

Gestern kam es zu fast 14.000 Neuinfektionen, die Inzidenz lag bundesweit bei 83,9. Hotspot ist weiterhin Nordrhein-Westfalen mit 127 (Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner im Durchschnitt der letzten sieben Tage), aber Berlin liegt mit knapp 90 ebenfalls über dem Bundesdurchschnitt (Angaben RKI) bzw. bei 83 (Angaben des Senats, danach genau im Schnitt).
Wenn wir nun nach Bezirken unterscheiden würden, dass die von mir gesetzte Grenzmarke von 100 fast erreicht ist (die beiden, in denen wir uns im Moment am häufigsten aufhalten, haben jeweils etwa eine Inzidenz von 90, gemäß Lagebericht des Senats von gestern. Sie wissen, wir haben es hier erwähnt, es geht darum, wann ich wieder um Arbeit im Homeoffice bitten werde. Dummerweise geht das derzeit aus Projektgründen noch nicht. Ich habe mir die Sache so schöngerechnet: Aufgrund der Tatsache, dass ich seit dem 1. September mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre anstatt mit dem ÖPNV, ist mein persönliches Risiko etwas gesunken und alle Kolleg:innen sind doppelt geimpft. Setze ich also die Grenze auf 125 oder 150? Eines ändert sich jedenfalls nicht, die Deadline 30. September für das, woran wir gerade arbeiten und wofür ich auf jeden Fall Bürozeit im Team brauche. (TH)
Unsere Geduld mit den Ungeimpften schwindet. Zumal einige von ihnen wirklich fast jeden Tag in Berlin herumlaufen und zeigen, was für Idioten sie sind. Sicher, wir haben es uns so ausgesucht, das Wohnen in Berlin, wir gehen auch mal auf die Straße, aber nicht, um zu beweisen, dass wir nicht solidarisch sein können, sondern umgekehrt. Deswegen möchten wir heute zwei Civey-Umfragen der letzten Wochen vorstellen, um das Meinungsbild zu Themen erläutern, die nun bald Relevanz gewinnen werden:
Am 13. August fragte Civey:
Dazu wird von den Meinungsforschern folgendes ausgeführt:
Bund und Länder haben sich diese Woche auf eine neue Corona-Strategie geeinigt. Ungeimpfte müssen ab dem 23. August und ab einer Inzidenz von 35 einen Negativtest beim Betreten bestimmter Innenräume vorlegen. Ab dem 11. Oktober wird es zudem keine kostenlosen Coronaschnelltests mehr geben. Ausnahme sind Minderjährige und Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können.
Die Strategie geht der Opposition teilweise zu weit. Katrin Göring-Eckardt (Grüne) bemängelt die Freiheitseinschränkungen aufgrund der Verlängerung der epidemischen Notlage. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte, dass es keine positiven Anreize für Impfungen gibt. Sowohl AfD-Spitzenkandidat Tino Chrupalla als auch Sozialverbände hinterfragen die Abschaffung der Gratistests, da so Geringverdiener benachteiligt werden.
Sollte es zu einem Lockdown kommen, müssen Ungeimpfte womöglich mit stärkeren Einschränkungen rechnen. CSU-Chef Markus Söder sagte Dienstag nach dem Corona-Gipfel: „Ein möglicher erneuter Lockdown könne Geimpfte und Ungeimpfte nicht gleich behandeln”. Geimpften könnten Grundrechte hingegen nicht einfach entzogen werden, so Söder und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Auf lange Sicht geht Söder davon aus, dass viele Aktivitäten auch mit Test für freiwillig Ungeimpfte nicht möglich sein werden.
Uns ist es mittlerweile wurscht, wer das Statement abgegeben hat, das die Umfrage von Civey vom 13. August ausgelöst hat, wir haben mit „überwiegend positiv“ gestimmt. Nicht mit „eindeutig positiv“, wie fast 50 Prozent derer, die bisher mitgemacht haben, aber neutral sehen wir’s mittlerweile auch nicht mehr. Verantwortung und Verantwortungslosigkeit müssen unterschiedlich behandelt werden, daran führt nichts mehr vorbei. Mich hat das, was gerade läuft, an etwas erinnert, das schon lange zurückliegt. Ender der 1980er, Anfang der 1990er tobte unter Jurist:innen ein Streit darüber, wie der ungeschützte GV zu bewerten ist, wenn jemand weiß, dass HIV-positiv ist. Ist das eine vorsätzliche Körperverletzung oder gar ein vorsätzliches (versuchtes) Tötungsdelikt, falls man jemanden ansteckt? Leider ist der Nachweis bei Corona nicht so einfach, weil der Ansteckungsweg ein anderer ist, weil es Kontaktzwänge gibt usw., aber dennoch: bereits billigende Inkaufnahme ist (bedingter) Vorsatz, das gilt auch für das Herumrennen als Impfverweigerer.
Die Aussagen der Oppostion betreffend: Lieber Dietmar Bartsch, ich hoffe, dass mit „Anreizen“ nicht finanzielle Prämien für jene gemeint sind, die sich jetzt ihre Impfresistenz „abkaufen“ lassen werden, während diejenigen, die freiwillig solidarisch waren, leer ausgehen. Das ist keine linke Haltung. Vielmehr privilegiert diese Idee Egozentriker:innen, die Freiheit falsch verstehen, und das wollen wir doch nicht, oder? Außerdem hat Söder ja gesagt, mit Test dürfen auch die Ungeimpften fast alles. Nur nicht mehr umsonst, das Testen betreffend. Wogegen sich auch die Sozialverbände wenden, wie es im obigen Begleittext von Civey heißt. Deswegen hier die zweite Umfrage von Civey, sie ist eine Woche jünger als die obige und sie zieht das, was kommt, von der anderen Seite auf:
Der Begleittext von Civey lautet:
Mit den neuen Coronaregeln müssen sich nur Ungeimpfte in bestimmten Innenräumen ab dem 23. August testen lassen. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) kann durch die Coronaimpfung „eine hohe Schutzwirkung gegen eine schwere COVID-19-Erkrankung nachgewiesen werden“. Eine Ansteckung sei durch die Impfung „in einem erheblichen Maße” reduziert. Währenddessen rechnet SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach laut Funke Mediengruppe mit mehr Infektionen bei Geimpften, da bei vielen die Impfung schon länger als sechs Monate zurückliegt.
Trotz hoher Schutzwirkung können Geimpfte sich theoretisch unbemerkt anstecken. Infektiologe Clemens Wendtner sagte dem Tagesspiegel, dass Geimpfte Ungeimpfte infizieren könnten und so besteht „für diese Person wiederum das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs.“ Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hält daher eine Testpflicht auch für Geimpfte an Orten sinnvoll, an denen „besonders vulnerable Gruppen” auftreten, die nicht geimpft werden können. Dazu zählen etwa Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Veranstaltungsorte oder Schulen.
Ab Oktober entfallen zudem die kostenlosen Coronatests, was die Opposition heftig kritisierte. FDP-Vize Wolfgang Kubicki sieht darin eine „Impfpflicht durch die Hintertür“. Ferner führe dies dazu, dass weniger getestet wird. Das RKI fordert nun aufgrund rückläufiger Tests und steigenden Coronafallzahlen einen „PCR-Test auch bei Kindern und Geimpften mit leichten Symptomen.“ Die dadurch gewonnen Informationen über die Infektionslage würden helfen, eine stärkere Virusausbreitung einzudämmen.
Zugegeben, das Ganze macht uns ein wenig ratlos. Was nun? Bei Symptomen oder in bestimmten Situationen? Dass Karl Lauterbach uns vor weitere Herausforderungen stellen wird, war irgendwie abzusehen, es hört eben nicht auf. Es hört ja auch nicht auf, wie die obigen Diagramme zeigen. Wir haben mit „neutral“ abgestimmt. Selbstverständlich möchte niemand andere anstecken, auch nicht Ungeimpfte, nicht einmal, wenn man selbst gar nicht bemerkt, dass man Virusträger ist.
Eines aber geht nicht an: Dass wir als Geimpfte die Tests selbst bezahlen müssen. Dazu wird nämlich im obigen Text nichts ausgesagt und eine Zahlungspflicht für die aufwendigeren PCR-Test für Geimpfte wäre eine weitere Ungerechtigkeit, wenn man bisher alles unternommen hat, was geht, um sich maßnahmenkonform zu verhalten.
Ist damit aber gesagt, kostenlose Tests für Ungeimpfte können weg, es sei denn, es gibt gesundheitliche Gründe dafür? Prinzipiell schon. Dass damit besonders Ärmere, die nicht geimpft sind, einen Nachteil haben, könnte man mit einem individuellen Kostenausgleich verhindern, der z. B. für ALG-II-Bezieher:innen gilt. Aber mit Einreichungspflicht bezüglich der Nachweise für die Betroffenen, etwas mehr bürokratischer Mehraufwand ist dann eben der sehr geringe Nachteil für permanente Impfverweigerung. Ob das gesamtgesellschaftlich und vor allem bezüglich der epidemischen Lage richtig ist, die nun fortgeschrieben wird und die bisher unterschiedliche Infektionsquoten je nach sozialem Umfeld gezeigt hat, darüber kann man ebenfalls streiten, aber in der Tat wäre eine Kostentragungspflicht für finanziell Benachteilgte eine Impfpflicht durch die Hintertür für diese Bevölkerungsgruppe. So weit sind wir noch nicht, dass wir das befürworten würden. Vor allem deshalb nicht, weil die Wohlhabenderen unter den Querdenkern sich durch Test-Selbstzahlung vom Impfen freikaufen könnten. Das widerspricht unserer sozialpolitischen Einstellung.
Es ist kompliziert, leider. Das Thema Corona eignet sich in vielen Punkten nicht für Populismus, aber die Rechten, die gegen unterschiedliche Verfahrensweisen je nach Gruppe sind, favorisieren dies nicht, weil ihnen etwas an den Menschen und der Gleichheit liegt, sondern aus populistischen Gründen. Um die Gesellschaft weiter zu spalten. Eine Schande, aber haben wir etwas anderes erwartet? Lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen. Wir dürfen unsere steigende Ungeduld mit den Querköpfen ausdrücken, aber uns nicht politisch von den Neoliberal-Rechten austricksen lassen.
TH