Meyer aus Berlin (DE 1919) #Filmfest 671

Filmfest 671 Cinema

Meyer aus Berlin ist ein deutscher Stummfilm in vier Akten von Ernst Lubitsch aus dem Jahr 1918; er führte Regie und spielte die Hauptrolle, den titelgebenden Sally Meyer aus Berlin-Schöneberg.

Allein, dass Meyer aus Schöneberg kommt und das im Film auch klar benannt wird, bringt dem Film unzählige Extra-Punkte. Und ist es nicht wirklich so? Wer aus Plauen kommt, kann nicht mitreden. Und wer den Watzmann nicht bestiegen hat, kann nicht mitreden. Aber wir, wir können mitreden, denn wir kommen aus Schöneberg und haben nicht vor, mit einem Beinahe-Nebenbuhler in einer Berghütte zusammenzutreffen. Für alle anderen: Wie es passiert und wie man es daher vermeiden könnte, steht in der –> Rezension.

Handlung (1)

Sally Meyer lässt sich von seinem Hausarzt krankschreiben und sich gleichzeitig einen langen Erholungsurlaub verordnen. Nicht zuletzt will er einen Urlaub vom anstrengenden Eheleben einlegen und fährt nach Berchtesgaden, wo er im Hotel die schöne Kitty kennenlernt. Die ist zwar verlobt, nutzt jedoch den Flirt mit Sally, um sich so alle anderen Männer des Hotels vom Hals zu halten, die mit ihr ausgehen wollen. Beide besteigen den Watzmann, wobei sich Sally als schlechter Bergsteiger entpuppt. Beide verbringen die Nacht in einer Berghütte.

Paula Meyer, Sallys Ehefrau, ist misstrauisch geworden und begibt sich selbst nach Berchtesgaden, wo sie auf der Zugfahrt Harry kennenlernt. Dieser ist wiederum der Verlobte von Kitty. Beide erfahren, dass Sally und Kitty Bergsteigen gegangen sind und nehmen die Verfolgung auf. Vor der einbrechenden Nacht flüchten sich beide in eine Schutzhütte, wo bereits Sally und Kitty vermummt schlafen – Paula und Harry erkennen das Pärchen nicht.

Der nächste Morgen bringt Chaos und Erklärungsnot. Am Ende kehrt Sally mit seiner Ehefrau nach Berlin zurück und auch Kitty und Harry haben wieder zueinander gefunden.

Rezension

Im Film wirkt es,  zumindest, wenn man den Ortsangaben folgt, als ob Meyer den Watzmann von der Tiroler Seite aus besteigt, auch die Schweiz wird an einer Stelle erwähnt, aber da ist Meyer noch in Berlin.

Die Dreharbeiten zu Meyer aus Berlin fanden im Sommer 1918 in den Ufa-Union-Ateliers Berlin-Tempelhof und am Watzmann und Umgebung statt. Der Film feierte am 17. Januar 1919 im U.T. Nollendorfplatz in Berlin Premiere.

Meyer aus Berlin galt noch in den 1990er-Jahren als vermisst bzw. als nur fragmentarisch erhalten, wurde jedoch im niederländischen Filmarchiv unter dem Titel Sally geht auf Reisen wiederentdeckt. Die TV-Erstausstrahlung war am 5. Mai 1995 auf dem Sender Arte.

Wo die Aufnahmen genau entstanden, die Lubitsch und seine Filmpartnerin Trude Troll in den Bergen zeigen, werden Alpinisten am besten entschlüsseln können. Seit 1995 hat sich in Sachen Restaurierungsgeschichte nichts mehr getan – was ich gesehen habe, war jene Kopie des niederländischen Filmarchivs, die 1995 vom ZDF und Arte restauriert worden war. Noch nicht digital, wie man deutlich sieht, außerdem war die Ausstrahlung wohl auf VHS aufgezeichnet worden und dementsprechend ist die Bildqualität eher mäßig gewesen.

Die Frage, die sich bei solchen Filmen immer stellt, ist die nach der Vollständigkeit. Einige Szenen wirken nicht ausgespielt, sondern, als habe man sie mit Rücksicht auf sittliche Belange mittendrin abgebrochen – das kann aber auch eine Besonderheit der vorliegenden Kopie sein. Was man auch nicht sieht: Dass die beiden Paare nach Berlin zurückkehren. Man kann es höchstens annehmen, wenn man nicht auf die Idee einsteigen möchte, wozu solch ein unvermutetes Vierertreffen in einer Berghütte führen könnte. Mein Eindruck war, dass Lubitsch eher ein offenes Ende zeigen wollte, das würde auch zu den durchaus seicht-doppeldeutigen Zwischentiteln und dem gesamten Gepräge des Films passen. Aber auch diese Szene geht sehr plötzlich zu  Ende. Die gesehene Aufzeichnung hatte allerdings die Länge, die in der Wikipedia angegeben ist (58 Minuten). Dass die Person, die sie auf Youtube hochgeladen hat, eigenmächtige Eingriffe vornahm, ist eher auszuschließen.

Das manchmal ruckige Filming, das diese Komödie sketchartig wirken lässt, ist ein Rückschritt gegenüber dem im Jahr zuvor entstandenen „Ich möchte kein Mann sein“. Vielleicht hatte Lubitsch seine hauptsächliche Aufmerksamkeit im Jahr 1919 schon den ernsteren Langfilmen gewidmet, die sein zweites Standbein wurden, bevor er in die USA ging. Immerhin gab es Aufnahmen on Location, was in Europa jedoch schon damals häufiger vorkam als in den USA, wo man versuchte, so viel wie möglich im Studio zu arbeiten.

„Der Film heißt vom Anfang bis zum Ende Lubitsch. Nicht allein weil er den komischen Helden spielt und sich die vergnügte Handlung schließlich nur um seine Person dreht, sondern weil niemand, wie er, den Sinn und die Möglichkeiten des Filmlustspiels erfaßt hat. […] der nimmer müde, unaufhörlich eingesprenkelte Witz, an keiner Stelle versäumt, ermöglicht es ihm, jede Szene von geringerer Entwickelung in der Handlung zu würzen. Freilich mögen dadurch viel Titel entstehen; aber sie sind so kurz, plakathaft, schlagend, daß sie – immer gut eingespielt – nur blitzartig aufzucken und nur ihren Witz, nicht aber den Eindruck des Zwischentitels hinterlassen. So auch hier: und so galt sicherlich der Haupterfolg des Films Lubitschschem Witz und Lubitschscher Regietechnik. Freilich, auch die Handlung war nett ersonnen und zweifelsohne recht originell aufgebaut.“ – Der Film, 1919[2]

Die Zwischentitel sind ganz sicher auch hier wieder ein Bonus, an ihnen könnte sich mancher heutige Drehbuchautor orientieren, was den Witz oder die Schlagfertigkeit angeht.

„Wieso treten Sie mir dauernd auf die Füße?“
„Soll ich auf meine eigenen Füße treten?“

Das hat schon fast etwas von Groucho Marx und es ist so berlinerisch. Sich achtsam zu verhalten, auf die Idee kommt Meyer aus Schöneberg nicht, getreten wird auf jeden Fall. Es gibt nur die Wahl zwischen Fremd- und Selbstverletzung. Dieser Mini-Dialog fand während der Abendessen-im-Touristenhotel-Szene statt, die zu jenen gehört, die leider nicht aufgelöst, sondern abgebrochen werden.

Zeitgenössische Rezensionen wie die obige zu lesen, ist auch deshalb vergnüglich, weil es doch wichtig ist, zu erfahren, wie man damals journalistisch an das Medium Film heranging, bevor es nämlich allgemein als Kunstform anerkannt wurde. Nach heutigen Maßstäben ist die Handlung kein Brüller mehr und erfordert viele Zufälle, aber genau das hat sich ja bis heute nicht geändert und nicht nur Komödien leben von einem Schuss Unwahrscheinlichkeit, was die Begegnung von Menschen an diesem Ort zu jener Zeit angeht.

Nicht weniger als sechs Filme hatte Lubitsch im Jahr 1919 gedreht. Davon kennen wir jetzt „Die Puppe“ und „Meyer aus Berlin“, „Madame Dubarry“ und „Die Austernprinzessin“ werden wir uns auf jeden Fall noch anschauen, von beiden Filmen erwarten wir mehr, als „Meyer aus Berlin“ gezeigt, der auch ein wenig unter seiner schauspielerischen Unscheinbarkeit leidet. Lubitsch selbst hat etwas von einem Faun und macht aus dem Medium mehr, als man denken sollte, wenn man denkt, er sie doch vor allem Regisseur gewesen und nicht Artist vor der Kamera, aber seine Ehefrau hat nur wenige Spielszenen und „Kitty“ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie beim Lachen hübsche Grübchen zeigt. Und sie lacht oft, wirft dabei den Kopf nach hinten, um dem Filmpublikum zu zeigen, dass sie das, was Meyer sich alles einfallen lässt, ausnehmend komisch findet. Das funktioniert bei Komikerduos von Weltruhm immer gut: Wenn der einen Witz macht und der andere oder beide ins Lachen kommen, kann man als Zuschauer gar nicht ernst bleiben. Prototypisch zu besichtigen in „Hände hoch oder nicht“ mit Laurel & Hardy aus dem Jahr 1933, die „Händchen-Näschen-Öhrchen-Szene“. Im Stummfilm ist das Mitmachen durch Mitlachen nicht ganz so naheliegend, aber viele Einfälle von Lubitsch sind auch in diesem Film zu besichtigen, die neben seinem Einfallsreichtum dies zeigen: Seine Art, Komödien zu gestalten, brauchte den Ton. Erst das Zusammenspiel aus Situation und Dialog macht seine Filme besonders. Visuell sind die Werke, die ich bisher aus seinen Anfangszeiten sehen konnte, eher einfach gestaltet – bis auf „Die Puppe“, der in jeder Hinsicht ingeniös wirkt.

Finale

Ganz sicher ist der Film „ganz Lubitsch“, wie es oben heißt, und das ist generell nichts Schlechtes. Aber wir müssen doch von „Ich möchte kein Mann“ sein und von „Die Puppe“ einige Abstriche machen, in denen Ossi Oswalda ihr Temperament sprühen lässt und, auch wenn der Stil etwas arg exaltiert wirkt, eine adäquate Leinwandpartnerin für Lubitsch oder jeden anderen Darsteller darstellt. Als Lubitsch-Enthusiast oder als jemand, der sich aus filmhistorischen Gründen alles anschaut, was einigermaßen zugänglich ist, findet man auch diesen Film wichtig und gewinnbringend. Wer es etwas mehr selektiv angeht, das Werden der Filmkunst betreffend, dem würden wir von dem, was wir bisher gesehen haben, vor allem „Die Puppe“ und vielleicht „Ich möchte kein Mann sein“ empfehlen.

64/100

© 2022, 2021 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

(1), kursiv und tabellarisch: Wikipedia

Regie Ernst Lubitsch
Drehbuch Hanns Kräly, Erich Schönfelder
Produktion Paul Davidson für Projektions-AG „Union“
Musik Hanns Kräly (1919), Aljoscha Zimmermann (1995)
Kamera Alfred Hansen
Besetzung
·         Ernst Lubitsch: Sally Meyer
·         Ethel Orff: Paula, seine Frau
·         Heinz Landsmann: Harry
·         Trude Troll: Kitty, seine Verlobte

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