Frontpage | Der kritische Berliner Wohn- und Bau-Report | Housing First für Obdachlose als Regelversorgung
Liebe Leser:innen,
im Grunde eignet sich dieses Thema nicht für einen allgemeinen Einstieg, aber da dies unsere erste Ausgabe des vorliegenden Reports ist, müssen wir ihn machen. Wir haben „in eigener Sache“ ans Ende gestellt und widmen uns sofort dem, was im Titel des Beitrags steht:
Die Obdachlosigkeit und die Wohnungslosigkeit sind eines der drängendsten sozialen Probleme in Berlin. Die Ursachen dafür, dass Menschen ihre Wohnung verlieren, sind ebenso vielfältig wie die betroffenen Menschen und ihre Biografien. Wir freuen uns sehr, dass sich dort, wo nach allgemeiner Ansicht „ganz unten“ ist, endlich etwas tut, das zumindest als Ansatz vielversprechend erscheint.
„Housing first“ bedeutet, dass alle Hilfen für Obdachlosen auf dem Prinzip Wohnung basieren: Erst eine sichere, individuelle Unterkunft, ein geschützter Raum, auf dessen Einrichtung basieren alle weiteren Überlegungen, Hilfen und die Bewältigung sozialer und persönlicher Probleme.
„Wohnungs- und Obdachlosen zunächst ohne Vorbedingungen eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag zur Verfügung zu stellen und erst dann weitere psychische und soziale Probleme anzugehen, soll also perspektivisch der reguläre Umgang mit dem Problem sein, das allein in Berlin Zehntausende Menschen betrifft.“[1]
Auch nach einer Zählung im Januar 2020, bei der über 2.000 Menschen auf der Straße und in Notunterkünften ermittelt wurden, kann man nur schätzen, wie viele Menschen in Berlin von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind. Eine zweite Zählung soll im Juni 2022 folgen, eine dritte im Winter 2023/24. Anmelden können sich freiwillige Helfende ab März 2022 über die Freiwilligenagentur Marzahn-Hellersdorf [aller-ehren-wert.de] und die „Zeit der Solidarität“-Website [zeitdersolidaritaet.de].[2]
Sozialsenatorin Katja Kipping (Die Linke) hatte, als sie das Amt von Elke Breitenbach (Die Linke) übernahm, angekündigt, dass sie die Beseitigung der Wohnungslosigkeit priorisieren will. Housing-First-Pilotprojekte in Berlin haben bereits vielversprechende Ergebnisse erbracht. Freilich ist der Bedarf, wie überall, auch auf diesem Gebiet größer als die aktuellen Möglichkeiten und juristische Faktoren müssen bei der Umstellung auf Housing First ebenfalls berücksichtigt werden.
„Im Doppelhaushalt 2022/2023, dessen Entwurf kommende Woche vom Senat beschlossen werden soll, sind für das Projekt doppelt so hohe Mittel eingestellt wie bisher. Staatssekretär Fischer appelliert an die Abgeordneten, dies so auch zu bewilligen. Widerstand ist nicht zu bemerken, alle Fraktionen loben die Erfolge.“[3]
Allerdings scheint es gemäß Bundesrecht bisher so gestaltet zu sein, dass die deutsche Staatsangehörigkeit Voraussetzung für den „Wandel von der Unterbringung zur Beheimatung“ ist. Dies muss im Interesse aller von Wohnungs- und Obdachlosigkeit Betroffenen geändert werden.
Mahnwachen gegen Obdachlosigkeit sind in Berlin in den letzten Monaten zu einer im wörtlichen Sinne stehenden Einrichtung geworden und weisen immer wieder auf die Situation der Betroffenen hin. Hat man mit der verstärkten Konzentration auf Housing First eine Forderung der Obdachlosen und der Menschen erfüllt, die sich für sie einsetzen?
Schon bei unserem ersten Report-Thema wird auch deutlich, wie eng verknüpft bau- und wohnungswirtschaftliche Missstände in Berlin miteinander und mit dem Schicksal vieler Menschen sind, die sich gegen dieses Kesseltreiben nicht wehren können.
Sogar während der Corona-Pandemie wurden in der Stadt unbekümmert tausende von Zwangsräumungen durchgeführt, darunter einige viel beachtete bei bekannten solidarischen Projekten sowie unzählige, von denen wir nichts mitbekamen, weil sie die Öffentlichkeit nicht erreichten. Spekulativer Leerstand ist in Berlin ein weiteres Thema, das die Unterbringung von Menschen zu günstigen Bedingungen verhindert. Und natürlich der „Mietenwahnsinn“, ein Begriff, den Sie in unseren Wohn- und Bau-Reporten noch häufiger lesen werden: Die immer weitere Steigerung der Mietpreise in Berlin, die nun durch die rasch ansteigende Teuerung gedoppelt wird und weniger begüterte Haushalte immer häufiger in Bedrängnis bringt.
Befasst man sich mit einzelnen Menschen, die obdachlos oder wohnungslos sind und solchen, die sich für Obdachlose und Wohnungslose einsetzen, wird es schnell emotional. Wir kennen zum Beispiel die in einem vertiefenden ND-Artikel porträtierten Aktivist:innen persönlich, welche die Berliner Mahnwachen gegen Obdachlosigkeit mitgestalten, die immer dabei sind und ihr großes, stadtbekanntes Transparent[4] ausrollen, wenn es gegen den Mietenwahnsinn geht. Einige Hintergründe, die Motive für ihr großes Engagement und die Geschichte ihrer Selbstermächtigung waren uns bisher nicht geläufig.[5]
Es ist dringend erforderlich, dass sich mehr Menschen für die grundlegenden Belange eines menschenwürdigen Lebens engagieren oder wenigstens interessieren, denn auch Housing First ist eine Chance, an der die Zivilgesellschaft mitarbeiten muss, sei es durch politische Arbeit oder ehrenamtliches Engagement. Es geht nicht zuletzt darum, langfristig, auch in Zeiten knapper Kassen, das zu sichern, was bereits erfolgreich ausprobiert wurde und in etwas größerem Maßstab weiterentwickelt werden soll.
In eigener Sache
Aufgrund unserer besonders strikten persönlichen Corona-Politik haben wir zuletzt nicht mehr an Veranstaltungen der Mietenbewegung teilgenommen. Uns ist bewusst, dass unser Verfahren u. a. ein sicheres Wohnen und die Absicherung aller Grundbedürfnisse voraussetzt. Wir haben oft daran gedacht, dass dies nicht allen Menschen in Berlin zur Verfügung steht und uns an unsere Begegnungen auf Veranstaltungen der Mietenbewegung erinnert. Etwas Positives hat diese Form des immer wieder durch die Pandemie ausgelösten Rückzugs für Monate hervorgebracht: Die Corona-Reporte, mit denen wir testen konnten, ob es uns gelingt, mit einem täglich so viele Nachrichten produzierenden Thema umzugehen. Diese Tätigkeit fahren wir angesichts des abklingenden Pandemiegeschehens zurück, Erkenntnisse daraus lassen wir in die künftigen Wohn-Bau-Reporte einfließen.
Wir werden uns in ihnen mit Zahlen zur Berliner Bau- und Wohnungswirtschaft befassen, aber auch weiterhin mit Einzelfällen des Berliner #Mietenwahnsinns, mit der Politik und mit Menschen, die betroffen sind, die engagiert sind und die alle zu dieser Stadt gehören. Sie gehören viel mehr zu ihr als alle Spekulanten, die Berlin als reine Spielwiese für ihre Kapitalinteressen betrachten, ohne Rücksicht zu nehmen auf irgendwen, der hier lebt. Teile der hiesigen Politik, große Teile, sind diesen Akteuren sehr zu Diensten, auch darauf werden wir wieder verstärkt eingehen.
Falls wir es zeitlich / administrativ hinbekommen (das kategorisierte Artikel-Gesamtverzeichnis ist immer noch vakant), werden wir die Reporte auch mit Bestandsartikeln verlinken, die sich besonders in den Jahren 2018 und 2019 mit vielen Vorkommnissen auf dem Berliner Wohnungsmarkt befasst haben.
Außerdem haben wir gleich zu Beginn der Arbeit mit dem „neuen“ Wahlberliner einen mehrteiligen Vorgänger der aktuellen Reporte erstellt, damals betitelt mit „Berlin ist eine große Baustelle“, den wir demnächst aktualisieren werden.
TH
[1] Housing First: Von der Unterbringung zur Beheimatung (nd-aktuell.de)
[2] Berlin will zum zweiten Mal Obdachlose in der Stadt zählen | rbb24
[3] Housing First: Von der Unterbringung zur Beheimatung (nd-aktuell.de)
[4] Darauf zu sehen: Miethaie contra Schwarmintelligenz der kleinen Fische, der Mietenden, die zum versammelten Kampf aufgerufen werden. Das Logo verwendet die Mieterpartei, in der die im Artikel verlinkten Artikel erwähnten Personen ebenfalls aktiv sind: DeWiki > Mieterpartei.
[5] Obdachlosigkeit: Weil jeder Mensch wertvoll ist (nd-aktuell.de)