UPDATE 2: Spektakuläre Wende an der Saar? +++ Volksparteien-Renaissance? +++ Über das Saarland – Analyse während der Landtagswahlen , | Frontpage | Politik in Deutschland | #ltwsl2022

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Liebe Leser:innen, wir müssen doch  noch einmal ran an die Wahlberichterstattung über das Saarland. Gerade zeichnet sich etwas ab, was bisher einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik wäre.

Auch wenn das Saarland an sich nicht den verkörperten Fortschritt darstellt, es war bereits mehrfach Vorreiter bei neuen politischen Koalitionen, etwa bezüglich Schwarz-Grün oder Jamaika. Ersteres hatten wir seinerzeit sogar begrüßt, weil wir hofften, auf die SPD-Agonie würde irgendetwas Fortschrittlicheres folgen, Wirtschaft voran, was im Saarland dringend nötig gewesen wäre, aber grün, was ebenfalls unabdingbar sein sollte. Wie man sich irren kann. Vor allem, wenn man sich zu wenig mit Politik befasst, wie es damals bei uns der Fall war.

Auch diese Koalitionen, die nicht hielten, was sie versprachen, waren Ergebnisse einer durch Lafontaines Linke-Abspaltung geschwächten Traditionspartei SPD.

Was sich gegen 20 Uhr noch nicht abzeichnete: Ebenjene SPD hat zwar keine absolute Mehrheit der Stimmen erzielt, könnte aber deutlich die Mehrheit der Mandate gewinnen und alleine regieren. Wer wäre dann in der Opposition? Die CDU natürlich. Und die AfD, die den Wiedereinzug knapp geschafft hat. Und was ist mit der FDP? Und den Grünen? Dass die FDP es nicht wuppen wird, nach einer Pause wieder in den Landtag einzuziehen, hatte sich schon etwas früher am Abend abgezeichnet, aber derzeit sind auch die Grünen raus. Das bedeutet, dass alle Stimmen dieser Parteien, auch die der Linken und der Kleinparteien, bei der Besetzung des Landtags keine Rolle spielen werden und damit hätte die SPD mit nur 43,5 Prozent der abgegebenen Stimmen deutlich die absolute Mehrheit der Mandate inne, wie die folgende Grafik zeigt:

Das ist spektakulär. Noch nie gab es in der Geschichte der BRD eine solche Reduktion der Parlamentsparteien, wie sie sich nach diesem Bild im Saarland abzeichnet auf nur noch drei, wenn in früheren Wahlperioden bereits fünf oder mehr politische Kräfte vertreten waren.

Unseres Wissens konnte auch noch nie eine Partei mit knapp 44 Prozent der abgegebenen Stimmen nicht weniger als 57 Prozent der Mandate in einem Parlament erobern. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen: Wenn man die niedrige Wahlbeteiligung einbezieht, kommt eine Partei, die von ca. 28 Prozent der Wahlberechtigten bevorzugt wurde, auf den doppelten Anteil an Sitzen inm Parlament. 

Kann man also von einer Renaissance der Volksparteien sprechen? Ein bisschen schon, deswegen haben wir die vorhergehende Ausgabe dieses Beitrags auch „Habemus Volkspartei“ überschrieben. Aber ganz so ist es nicht, denn es gibt  auch im Saarland weiterhin mehr Parteien als im klassischen westdeutschen System von Mitte der 1950er bis Anfang der 1980er, die Chancen auf den Einzug in Landtage oder Abgeordnetenhäuser haben. Und sehr viele Nichtwähler:innen dieses Mal wieder.

Es wäre eine äußerst unglückliche Verkettung von Umständen, wenn gleich zwei Parteien, die Chancen gehabt hätten, nun tatsächlich knapp scheitern würden, hervorgerufen durch außergewöhnliche Unfähigkeit der jeweiligen Landesverbände bzw. deren Führungen. Bei den Grünen musste zuletzt die Bundespartei eingreifen, um Ordnung zu schaffen, die FDP hat sich noch nicht von früheren Fails erholt und, wie schon im Ausgangsartikel erwähnt, die Neoliberalen können im Saarland nur unter besonderen Umständen hohe Ergebnisse erzielen.

Dann gibt es noch den Sonderfall Die Linke, die über 80 Prozent ihrer Wähler:innen verloren hat, nach einem beispiellosen Kasperltheater. In dem aufgeführten Stück von Verrat und Hinterlist im Puppenstüberl hatte auch Herr Lafontaine eine tragende Rolle inne, wie immer, wenn er einem Ensemble angehört, denn er ist der Star. Blöd, dass diese Mischung aus derbem Bauernschwank und demokratischer Dystopie niemand mehr sehen wollte, zumal der Star höchstselbst zum Fernbleiben aufgerufen hatte. Eigenboykott ist immer noch die wirksamste Maßnahme, um erwünschte Schäden zu erzielen, bei dieser Methode ist man nicht auf Fehler anderer angewiesen.

Es ist auch wirklich ein beschissen schlechtes Stück, da hat O. L. schon recht. Bei der Linken wird es keine Renaissance geben, wenn sich nicht ganz und gar unerwartet ein politisches Genie zeigt, das ausnahmsweise nicht spaltet, sondern eint. Nicht in den nächsten Jahren jedenfalls und solange nicht das gesamte System zusammenbricht.

So sieht das aus, was die Saarländer:innen entschieden haben, gemäß dem vorläufigen Endergebnis.

  • CDU: 28,5 Prozent
  • SPD: 43,5 Prozent
  • Linke: 2,6 Prozent
  • AfD: 5,7 Prozent
  • Grüne: 4,99502 Prozent
  • FDP: 4,8 Prozent

Die Betonung liegt auf vorläufig, vor allem bei den Grünen, denen derzeit nur wenige Stimmen zum Einzug in den Landtag fehlen. Würden sie diesen noch schaffen, könnte die SPD wohl nicht alleine regieren, sondern es käme zu Rot-Grün oder zu einer dieses Mal wirklich großen Koalition mit der CDU unter SPD-Führung, die fast 90 Prozent der Sitze im Parlament auf sich vereinen würde. Selbst der offenbar zutiefst saarländische Trieb zum Porzellan zerschmeißen mit anschließender beleidigter Demission des Einzel-Egos könnte diese massiv stabile Koalition kaum aus der Spur bringen. Anders ausgedrückt: Der Verlust einiger Abgeordneter, die die Partei wechseln oder sich als politische Ich-AG aufstellen, würde die Arbeit dieser Regierung nicht in Gefahr bringen.

Der saarländische Landtag hat 51 Sitze, nicht 56, wie wir im Ausgangsartikel schrieben. Hätte uns auffallen dürfen, dass da etwas nicht stimmt, denn Parlamente haben aus guten Gründen meist ungerade Zahlen an Abgeordneten. Besonders bei kleinen Kammern wie dem saarländischen Landtag ist das wichtig.

TH

Bereits um 20 Uhr ist alles klar. Nun ja, noch nicht ganz, aber im Grunde doch. Die SPD hat im Saarland einen Erdrutschsieg erzielt, proportional dazu die heftigen Verluste der CDU. Hier die aktuellen Zahlen, ZDF-Hochrechnung von 19:36 Uhr:

Damit haben sich Umfragetrends der vergangenen Wochen noch einmal verstärkt. Es ist wirklich fast wie in alten Zeiten, mit Oskar an der Spitze. Alleine wird die SPD aber wohl nicht regieren können, etwas anderes als eine Fortsetzung der Großen Koalition unter umgekehrten Vorzeiche wie bisher ist allerdings auch kaum möglich. Das heißt, die Parameter der saarländischen Politik werden sich nicht wesentlich verändern. Hier haben wir den Status heute Nachmittag versucht zu beschreiben. Dennoch beinhaltet das, was wir aktuell sehen, Überraschungen.

  • Das Beste zuerst: Der AfD war eine leichte Steigerung ihres letzten Ergebnisses auf etwa 6,5 Prozent zugetraut worden, es sieht aber nach einem Minus aus. Für einen Abgang aus dem Landtag des Saarlandes hat das Minus aber wohl nicht ganz ausgereicht. 
  • Die Grünen kommen kaum voran, vermutlich aber in den Landtag.
  • Die FDP schafft eventuell den Wiedereinzug wieder nicht. Das würde uns sehr freuen, aber noch ist es nicht sicher. 
  • Die „Sonstigen“ haben eine sichtbar sehr hohe Zahl von über 10 Prozent erreicht, was auch bedeutet, dass immer mehr Menschen nicht mehr strategisch wählen, also in der Form, dass eine Regierungoption für die von ihnen gewählte Partei oder doch eine Gestaltungsfunktion im Sinne der Opposition im Landtag vorhanden ist. Auch diese Entwicklung ist eine Protestform, die man nicht unterschätzen sollte und die das politische Spektrum weiter fragmentiert, auch wenn die Saar-SPD jetzt wieder ausschaut wie eine richtige Volkspartei. Eines muss man ihr und Rehlinger lassen: Gegen viele Widerstände und gegen das Sonderproblem, dass Oskar Lafontaine viele potenzielle SPD-Wähler:innen zu den Linken hinübergezogen hat, hat sie geduldig und integrativ den Wiederaufbau der Partei vorangetrieben.
  • Krass ist das Abschneiden der Linkspartei. 2,5 Prozent? Ein Desaster. Wie schon in vielen Umfragen zu vielen Wahlen in letzter Zeit: Es sieht dann in der Realität noch schlechter aus, als die Prognosen es vermuten lassen, dort lag sie zuletzt bei ca. 4 Prozent. Ohne Oskar ein Saar-links? Erst einmal Makulatur. Es gibt die Oskar-Flut und die Oskar-Ebbe. Phasen, in denen er Wahlen gewinnt und Phasen, in denen er alles einreißt, was zuvor erreicht wurde. Im Moment herrscht absolutes Niedrigwasser und das ist das Ende, denn damit ist auch das Ende seiner politischen Karriere erreicht. Selbst, wenn er das geistig noch schaffen sollte, niemand wir ihm mehr eine Führungsposition anvertrauen oder ihm durch dick und dünn folgen. Wir haben zwar nicht vorausgesehen, dass Wladimir Putin tatsächlch die Ukraine überfallen wird, aber dass es mit Lafontaine einmal so enden könnte, war für uns immer im Bereich des Möglichen. Wir hatten einfach zu lange die Gelegenheit, ihn aus relativer Nähe beobachten zu können, um uns irgendwelchen Illusionen hinzugeben.
  • Für uns ist deshalb auch nicht, ob im Saarland nun die CDU oder die SPD die Ministerpräsident:innenperson stellt, das Thema dieses Tages, sondern die anhaltende Zerstörung einer linken Perspektive durch vorgeblich linke Kräfte selbst. Niemand hat das von außen gesteuert, es gibt keine Verschwörung. Es gibt nur massive charakterliche Unzulänglichkeiten, so weit das Auge reicht und nicht nur im Saarland. 
  • Was uns auch etwas missmutig stimmt: Die niedrige Wahlbeteiligung, die sich abzeichnet. Hat jemand Interesse an Demokratie? Sicherlich, aber viele werden sich auch gedacht haben: Was wird sich schon groß ändern? Ein bisschen müde wirkt das alles und eher nach der Suche eines sicheren SPD-Hafens als nach Aufbruch.

Wir schließen damit auch schon unsere Wahlberichterstattung, verweisen zum Weiterlesen auf den unten angehängten Artikel und wünschen den Saarländer:innen vor allem, dass Anke Rehlinger wengistens ein bisschen besser performt als ihre Vorgänger:innen. Eine höhere Kompetenzvermutung für sie gab es schon im Vorfeld der Wahlen, in Relation zu Tobias Hans. Noch einmal ein herzliches Glück auf!

Und lasst die Masken bitte auch ab 01.04. auf, die Corona-Inzidenz bei euch ist viel zu hoch! Nicht eure Schuld vermutlich, ihr seid ja überdurchschnittlich gut geimpft, aber leider Fakt.

TH

Seit 23 Jahren wird das Saarland von der CDU regiert, zuvor war es Lafontaine-Land. Ältere unter Ihnen werden es noch wissen: Einst trat der kleine Napoleon von der Saar für die SPD an und holte für sie absolute Mehrheiten. Ihm folgte sein Intimus Reinhart Klimmt (SPD) nach, er verlor aber schon nach einer Legislaturperiode das Amt an CDU-Herausforderer Peter Müller. Seitdem sitzt die CDU im Saarland als größere Regierungspartei fest im Sattel. Ein Produkt der CDU-internen Erbfolge war zunächst Annegret Kramp-Karrenbauer, jetzt ist es Tobias Hans.

Ein Land mit SPD-Mehrheiten über 50 Prozent, und dies im Südwesten, wirkt heute abenteuerlich, ebenso wie der Move, der später die CDU im Saarland erst so deutlich in die Pole Position gebracht hatte: Aufgrund der anhaltenden Popularität von Lafontaine, der inzwischen aber die Linkspartei aufgemacht hatte (zusammen mit Gregor Gysi und dessen PDS) kam es zu einer Spaltung der SPD-Wählerschaft, nie aber zu einer Regierungsoption für Lafontaines Linke, im kleinsten Flächenbundesland. Inzwischen ist das Land nicht nur für den Auslöser von Spaltungsprozessen à la Oskar bekannt, sondern auch für chaotische Landesverbände. Erst traf es die Grünen, dann die FDP, jetzt ist es die Linke, die weit unter ihren Möglichkeiten blieben bzw. bleiben, weil die Parteien auf Saarlandebene intern nicht funktionierten.

Hier zu aktuellen Saarland-Umfragen.

Bei der Linken ist sozusagen das Spalten à la Oskar zu einer internen Angelegenheit mutiert und die SPD kann späte Rache nehmen: Die hohen Umfragewerte für die Herausforderin von CDU-Mann Tobias Hans, Anke Rehlinger sind gewiss auch dem Umstand zu verdanken, dass schareneise Lafontaine-Anhänger:innen nicht mehr die Linke wählen werden. Der CDU wird gegenwärtig ein Verlust von ca. 12 Prozent gegenüber der letzten Wahl vorausgesagt – ein Erdrutsch. Aber auch die Linke, die unter Lafontaine stets zweistellig war, wird möglicherweise unter 5 Prozent bleiben und damit den Einzug in den neuen saarländischen Landtag verpassen. Die aktuellsten Umfragen sehen sie bei ca. 4 Prozent. Umgekehrt bei den Grünen. Trotz einer vermutlich nur mäßigen Erholung wird die Partei es wohl immerhin wieder schaffen, ins kleine Landesparlament (56 Abgeordnete) einzuziehen. Das war zuletzt nicht der Fall. Bei der FDP steht es Spitz auf Knopf, aber das Saarland war noch nie FDP-Terrain. 

Denn traditionell ist es von zwei großen Blöcken geprägt: Einer städtisch-industriellen Arbeiterschaft und seinem Katholizismus, der tiefer verankert ist als in Bayern, in Prozent Katholiken-Anteil an der Bevölkerung gerechnet. Diese Bindung nimmt freilich ab, wie überall, gleichermaßen aber auch die Bindung des mittlerweile zahlenmäßig stark geschrumpften Arbeitermilieus. Den klassischen Stahlbauer oder Bergmann gibt es kaum noch. Letzteren gar nicht mehr, präziser ausgedrückt. Das heißt auch, die Wahlergebnisse werden, wie überall „fluider“, weil die weltanschauliche Komponente stärker hinter aktuelle Stimmungen und eine der Politik gegenüber mehr serviceorientierte Haltung zurücktritt. So gesehen, müssten die Saarländere:innen allerdings neue Wege versuchen. Keine Partei hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, das Land wirtschaftlich wieder nach vorne zu bringen, das mehr noch als Nordrhein-Westfalen ein Opfer radikaler Wirtschaftstransformation ist. Dass darin auch Chancen liegen, hatte schon Oskar Lafontaine gerne verschwiegen, um den Menschen keine Veränderungsnotwendigkeiten vermitteln zu müssen und stattdessen lieber den Bund um Saarland-Sonderzahlungen erpresst. Kurzzeitig sah es unter Ex-Ministerpräsident Müller einmal besser aus, zu Beginn der 2000er, da lagen die Daten besser als im Bundesdurchschnitt, aber das ist schon wieder sehr lange her und der damalige Wechsel-Effekt war ein Strohfeuer. 

Das bedeutet auch, für uns aus Berliner Sicht wirkt es, als werde das Saarland mehr verwaltet und abgewickelt, als dass es eine strategische Idee für eine neue Perspektive gäbe. Wenn es so weiterläuft, wird es wohl doch so kommen, dass das Saarland als Anhängsel von Rheinland-Pfalz endet, was die Saarländer:innen zwar nicht wollen, was aber bei weiter schrumpfender Bevölkerungszahl immer wieder ins Spiel gebracht werden wird. Wenn man das vermeiden will, muss man sich endlich etwas einfallen lassen, 40 Jahre Abstieg sind genug. Aber nicht nur Tobias Hans, sondern auch Anke Rehlinger und die übrigen Partei-Landeschefs wirken nicht gerade wie Innovationsmotoren. Anke Rehlinger war eine Top-Leistungssportlerin, aber jetzt wäre neben der politischen Ausdauer, über die sie zweifellos verfügt, vor allem Kreativität gefragt. Luxemburg hat immer noch kein Abonnement auf alleinige positive wirtschaftliche Entwicklung in der Region, man könnte sich durchaus Sonderwirtschaftsmodelle für das Saarland überlegen, die seine durchaus schöne und zentrale Lage im Dreiländereck Frankreich-Luxemburg-Deutschland endlich einmal für neue Impulse nutzbar machen. Wie Lafontaine Anti-Wirtschaftspolitik gemacht hat, haben wir zum Beispiel hier kurz angerissen, anlässlich seines Austritts aus der Linken.

Und hier haben wir den Saarland-Wahl-O-Mat gemacht. Lafontaines Partei würde demnach bei uns sogar vorne liegen, aber das spiegelt vielleicht eher unsere in Berlin geformten Ansichten wieder als das, was das Saarland jetzt braucht, denn fürs wirtschaftliche Vorausdenken sind auch die Linken nicht unbedingt bekannt. In Berlin kann eine aufgeweckte Zivilgesellschaft selbst einiges beitragen, um die Politik in Richtung Progression zu treiben, wie man z. B. an der Vermietungskonzerne-Enteignungsinitiative „DWenteignen“ gerade wieder sieht, die in Berlin bei der letzten Wahl eine Mehrheit gefunden hat. Dafür hat das Saarland aber nicht die Strukturen und, offen geschrieben, dafür haben die Menschen auch nicht die Mentalität, allein wegen des hohen Häuslebesitzer-Anteils dort. Die Unterschiede diesbezüglich zwischen dem alten Industrieland, das noch keine neue Rolle gefunden hat und verharrend wirkt wie kaum ein anderes Gebiet in Deutschland und einer Systemfrontstadt wie Berlin, die sich ihrer Rolle immer bewusst ist, sie ständig neu definiert oder justiert und immer wieder Input durch viele Zuzüge erhält, die manchmal auch aus der Rolle fällt, gegenüber dem braven Saarland sind recht groß, auch wenn beide Regionen ein starkes Potenzial für linke Parteien aufweisen. Wenn man von Oskar Lafontaines wildem Wesen absieht, spiegelt sich dieses Brave auch in der Politik.

Wo immer Saarländer:innen in der Merkel-Regierung tätig waren, hinterließen sie eher einen dezenten bis negativen Eindruck. Für uns persönlich der größte Ausfall: Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der mit seinem bräsigen, in jeder Hinsicht bewegungsarm wirkenden Lobbyismus-Grundkonservativismus Zukunftsweichenstellungen im Konzert mit der ebenfalls nicht gerade an Progression orientierten Kanzlerin konsequent verweigert und damit unter anderem eine Energiewende vergeigt hat, deren Ausbleiben uns angesichts des Ukraine-Kriegs so richtig auf den Kopf fällt. Auch die Tatsache, dass der saarländische Hang zum Vor-sich-hin-Wurschteln sich in einer nicht vorhandenen strategischen Wirtschaftspolitik niedergeschlagen oder doch in ihr seinen Ausdruck gefunden hat, sich analytisch für Fails der früheren Bundesregierung ebenso wie als Erklärung für die Einfalllosigkeit saarländischer Politik verwenden. Jemanden, der das Land wachrüttelt und Vertrauen und Nach-vorne-Denken gleichermaßen vermittelt, würde jetzt gebraucht. Wir sehen niemanden, der diesen Typ repräsentiert. 

Ob hingegen die Saarlandwahl wirklich ein so guter Stimmungstest für die Ampel ist? Der Wahl-O-Mat hat uns gezeigt, wie sehr offenbar regionale Themen den Wahlkampf an der Saar dominieren und  Corona und der Ukraine-Krieg sind sicher keine Gamechanger, sondern bestätigen den moderat positiven Trend für die SPD. Corona betreffend, tritt allerdings hinzu, dass das Saarland trotz hoher Impfquote immer wieder mit hohen Inzidenzen aufwartet, was den amtierenden Ministerpräsidenten nicht unbedingt stärker wirken lassen dürfte. Dass er auf eine Weise populistisch wird und Tankstellenvideos macht, die man bisher aus dem Saarland nur von Lafontaine kannte (ohne Tankstellenvideos, aber vom Auftritt her betrachtet), wird nicht alle Wähler:innen überzeugt haben, die der CDU von der Stange zu gehen drohen. Am liebsten würde man in diesem stark überalterten Bundesland, das neben der Abwanderungstendenz konsequenterweise die niedrigste Geburtenrate in Deutschland aufweist, es in Ruhe auslaufen, zu Ende gehen lassen, das ist immer mehr unser Eindruck. Im Grunde ist das Saarland, bevölkerungsdynamisch betrachtet, der Osten des Westens, auch wenn die Abwanderung noch nicht die prozentualen Dimensionen erreicht hat wie in den „neuen“ Bundesländern:

„Im Saarland sinkt die Zahl der Einwohner stetig. Allein von 1990 bis 2020 ging die Bevölkerungszahl um gut acht Prozent zurück. Einzig in der Gemeinde Perl sieht das ganz anders aus. Im gleichen Zeitraum ist dort die Bevölkerungszahl um gut 45 Prozent gestiegen. Und das bringt natürlich auch Probleme mit sich. Grundstücke und Häuser sind fast unbezahlbar geworden. Die Gemeinde hat sich deshalb ein neues Auswahlverfahren ausgedacht.“

Dieser Artikel (Q) wirft ein gutes Schlaglicht auf die Situation. Denn wo liegt Perl? An der Südwestgrenze, wo sich der Einfluss der boomenden Region Trier-Luxemburg auswirkt. Luxemburg zieht die rheinland-pfälzische Gegend um Trier nach oben, weil viele Menschen dort wohnen und in Luxemburg gut bezahlte Dienstleistungsjobs ausüben, Perl liegt ebenfalls an der luxemburgischen Grenze (Grenzübergang Perl-Nennig). Wenn also Impulse im Saarland spürbar sind, dann kommen sie von außen und gleich wird über Nebenwirkungen gestöhnt.  Dass diese Mentalität sich so festsetzen konnte, das hat auch Gründe in einer saarländischen Politik, die nie für Fortschritt gestanden hat und niemals darauf ausgerichtet war, die Menschen mitzunehmen, auch wenn es mal anstrengend werden könnte, sondern darauf, sie bloß nicht aus der geheiligten Ruhe zu bringen. Auf diese Weise unterscheidet sich das Saarland wiederum vom Osten: Den Menschen dort blieb gar nichts anderes übrig, als sich neuen Verhältnissen zu stellen, während das „Durchwurschteln“ im Saarland bisher ganz gut funktioniert hat, weil die gesicherten Besitzverhältnisse des Einzelnen als MItglied einer strukturkonservativen Mehrheit den wirtschaftlichen Niedergang bisher abfedern konnten. 

Deswegen wird im Saarland keine Grundsatzentscheidung ausgefochten, sondern nur, welche der beiden großen Parteien nun die immer wieder erstaunlich mittelmäßige Landespolitik an führender Stelle exekutieren darf. Wir könnten uns gut vorstellen, dass die Große Koalition, nur eben unter SPD-Führung, auch dann fortgeführt wird, wenn es Alternativen gäbe. Ob es sie gibt, wird stark davon abhängen, ob die FDP den Einzug in den Landtag schafft. Für die SPD und die Grünen allein dürfte es eher nicht reichen, trotz der guten Umfragewerte für Anke Rehlinger und ihre alte Partei-Tante. Vielleicht wird es wieder sein wie einst: Die SPD regiert, das Land verliert. Die Mehrheiten sind deutlich, die Schwächen der Politik ebenso. Das Erschreckende daran ist die Alternativlosigkeit, um auch mal einen Begriff zu verwenden, den wir eigentlich gar nicht mögen, einen typischen Merkel-Gedenkbegriff. Letztlich sind wir, die Bürger:innen es, die für Alternativen sorgen müssen, sie kommen nicht von alleine daher. Deswegen wird der nächste Sturm in der deutschen Politik auch nicht gerade aus dem Südwesten zu uns herüberblasen. Der notwendige echte Linksruck wird, wenn überhaupt, aus dem Bauch von Berlin erwachsen. Der ist auch nicht so wohlgenährt wie der saarländische. Wirklich wahr, die Saarländer:innen gehören zu den schwergewichtigsten Menschen in Deutschland und, nein, wir treiben das Bodyshaming jetzt nicht auf die Spitze und verweisen zum Beleg nicht auf unseren Anti-Lieblingspolitiker aus dem Saarland, den wir oben schon als Negativbeispiel für saarländische Politikgestaltung erwähnt haben.

Damit hier nichts falsch rüberkommt: Jede Mentalität hat ihre Vorteile und Schwächen, aber gegenwärtig wäre im Saarland nicht nur einigermaßen gut auf der bröckelnden Basis der Vergangenheit leben, gut essen, großzügig wohnen angesagt, dies nicht als ausschließlicher Lebensinhalt, sondern Neues wagen. Die Beurteilung des Mindsets der Menschen in einer Region ist auch dem Wandel der Zeiten unterworfen, und die Zeiten wandeln sich im Moment schnell. Vielleicht zu schnell, um das Saarland langfristig als unabhängiges Bundesland zu erhalten. Wir erwarten wenig von der heutigen Wahl, was uns bald in Begeisterungsstürme versetzen könnte.

Wir irren uns aber gerade in diesem Punkt gerne, denn unsere Kritik beruht nicht auf Abneigigung, sondern auf Kenntnis der Gegebenheiten gleichermaßen wie auf einer niemals erlöschenden Zuwendung diesem kleinen Ländle am Südwestzipfel der Bundesrepubik gegenüber.

Deswegen, was auch kommt und wer immer das Saarland demnächst steuern darf: Glück auf!

TH

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