Crimetime Vorschau – Titelfoto SWR, Benoît Linder
Dem Ende der Sommerpause widmen wir heute den vermutlich einzigen Artikel des Tages: Nicht nur Tatorte und Polizeirufe gab es in den letzten Monaten nicht mehr erstmalig zu sehen, aber ihre Rückkehr markiert beinahe mehr den Herbst als dessen formaler Beginn am 21. September. Die Saison startet in ihre zweite, kürzere Hälfte – mit einem Odenthal-Tatort. Die am längsten aktive Fernsehkommissarin der Republik liefert zugleich den Opener für hoffentlich interessante Krimi-Monate.
Wie immer setzt sich unsere Vorschau aus den Kritiken anderer zusammen, verknüpft durch ein paar Anmerkungen von uns. Heute nehmen wir uns allerdings besonders zurück, weil sich die Assoziationsketten erst einmal wieder bilden müssen.
Wir referieren deshalb auch nicht zu ausführlich über die Stellung von Lena Odenthal und ihrer Darstellerin Ulrike Folkerts im Krimipanorama des Landes, aber eines steht fest: Es gibt immer zwei Seiten und mehrere Perspektiven, aus denen man auf eine Figur in ihrer Zeit blicken kann. Als Lena Odenthal 1989 startete, war sie immer noch besonders, die einzige Frau unter den Tatort-Ermittlern, obwohl bereits in Nachfolge von Marianne Buchmüller und Hanne Wiegand beim Südwestdeutschen Fernsehen. Heute tritt sie im weiblichen Doppel mit Johanna Stern (Lisa Bitter) auf, das ist mittlerweile viel normaler, als 1989 die Alleinstellung Odenthals war. Beim Polizeiruf eine ähnliche Entwicklung. Außerdem gibt es von ARD und ZDF mittlerweile Krimis, oft mit regionaler Prägung, für quasi jeden Wochentag und damit sehr viel Raum für die Weiterentwicklung von Frauencharakteren im Fernsehkrimi. Manche davon wirken viel selbstverständlicher, viel weniger angestrengt als Lena Odenthal, aber es liegt auch ein langer, kämpferisch beschrittener Weg hinter ihr, den für viele andere zu ebenen sie geholfen hat. Zu den anderen:
Die Redaktion von Tatort-Fans meint:
„Nach der sehr gelungenen Folge „Marlon“ zeigt der SWR erneut einen Ludwigshafen-Tatort mit gesellschaftspolitischer Relevanz. Selten wurde das Thema Femizid so konsequent inszeniert wie in der filmischen Umsetzung von Esther Wenger. Götz Otto brilliert geradezu in seiner Rolle zwischen Gentleman und Macho, während Ulrike Folkerts gewohnt souverän den Gegenpart als überzeugte Feministin mimt. Leider bleibt bei all der gewollten Eindeutigkeit wenig Platz für Zwischentöne. Tatsächlich bezieht der Film in der ersten Hälfte einen Großteil seines Reizes aus dem ständigen Rätselraten darüber, wessen Geistes Kind Hauptmann Kessler denn nun tatsächlich ist. Sobald das geklärt ist, reduziert sich die Handlung weitgehend auf die mühsamen Wortgefechte zwischen Odenthal und Kessler. Das ist auf Dauer ziemlich ermüdend, zumal die Rollenverteilung eindeutig ist. Und den (männlichen!) Staatsanwalt als Spielverderber, der Odenthals Verdächtigungen für feministische Hirngespinste hält, hat man so oder ähnlich auch schon öfter gesehen. Das originelle Finale hält wiederum einen kleinen Überraschungseffekt bereit, wobei es durchaus logisch aus der vorherigen Handlung resultiert, und kann die vorherigen Längen so etwas ausgleichen. Insgesamt eine solide Inszenierung für einen unterhaltsamen Sonntagabend.“
Hier müssen wir wieder anmerken, dass wir derzeit nicht up to date sind, wir kennen u. a. „Marlon“ noch nicht und können uns deshalb nicht an diesem Film orientieren, wenn es um die Einordnung der obigen Ansicht geht. Aber lesen Sie gerne auch die ausführlichen Angaben zum Film, welche die Tatort-Fans bereithalten.
Der Tatort lohnt sich und erinnert „an Hitchcock“, meint T-Online (die Kritik enthält keine Bewertung):
„Einige Szenen (…) strapazieren arg die Grenzen der Plausibilität. Zudem geht die Deutlichkeit des Themas Femizid diesmal auf Kosten der Zwischentöne, für die kaum Raum bleibt. Regisseurin Esther Wenger zeigt nach einem Buch von Stefan Dähnert, wie Gewalt gegen Frauen entstehen und wohin sie führen kann. Die Opferschutzorganisation Weißer Ring fordert immer wieder dazu auf, stärker gegen Femizide vorzugehen. „Mehr als jeden dritten Tag wird im Durchschnitt in Deutschland eine Frau in einer Partnerschaft getötet“, sagte der Vorsitzende Jörg Ziercke im vergangenen Jahr.“
Der Femizid ist eigentlich der Beritt von Kommissarin Lindholm aus Niedersachsen, deren Darstellerin Maria Furtwängler sich nicht nur auf dem Bildschirm für dieses Thema und dessen Sichtbarmachung engagiert. Doch wenn jeden dritten Tag ein Mord begangen wird, der als Femizid einzuordnen ist, gibt es noch einige Variationen, die man in einem Fernsehkrimi zeigen kann, ohne dass man festhalten müsste, es handele sich um eine Überrepräsentation. Außerdem müssen es nicht immer Beziehungstaten sein. Auch Serienmorde an völlig fremden Frauen werden oft von Männern begangen, bei denen Frauenhass zusammen mit (anderen) pathologischen Persönlichkeitsbildern eine Rolle spielt.
„Der Handlungskern erinnert an einen Roman von Patricia Highsmith, das Drumherum an einen französischen Krimiklassiker, der ebenfalls „Das Verhör“ hieß: Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) ist überzeugt, dass ein Bundeswehrhauptmann eine ihm völlig fremde Investment-Bankerin auf denkbar grausame Weise ermordet hat. In einer stundenlangen Vernehmung versucht die Ludwigshafener Kommissarin, den Mann (Götz Otto) zu zermürben, doch der treibt ein süffisantes Spiel mit ihr. Das ausgezeichnete Drehbuch von Stefan Dähnert dreht sich um das Thema Femizid: Frauen werden getötet, nur weil sie Frauen sind. Regisseurin Esther Wenger hat es jedoch vermieden, diesen Aspekt allzu sehr in den Vordergrund zu rücken. Der „Tatort“ (SWR) ist in erster Linie ein klasse gespielter Krimi, der sich am Ende, als eine weitere Frau entführt wird, zu einem Wettlauf um Leben und Tod entwickelt.“
Auch in dem französischen Film (den wir uns unbedingt noch anschauen müssen) geht es um Gewalt gegen Frauen, um die Vergewaltigung und Ermordung zweier Mädchen, aber man sieht, „Das Verhör“ fordert Reminiszenzen an verschiedenen Krimivorbilder aus Kino und Literatur heraus. Die Wertung: 4,5/6.
„Melde gehorsamst, Truppe ist in Topzustand! Frauenhass im Flecktarn: Nach einem Femizid ermittelt Kommissarin Odenthal im Bundeswehrmilieu. Zur Eröffnung der Krimisaison 2022/2023 geht der »Tatort« auf Truppeninspektion.“
Christian Buß vom „Spiegel“ nimmt mit Titel und Headline eine Perspektive ein, die darauf bezogen ist, dass der Hauptverdächtige im vorliegenden Fall ein Angehöriger der Bundeswehr ist. Nicht zum ersten Mal in der Odenthal-Krimi-Chronologie übrigens. Den Geschlechterclash zwischen einer damals jungen Polizistin und Männern im Tarnanzug hat sie schon im Jahr 1997 mit dem Film „Nahkampf“ durchgespielt. Der Spiegel-Kritiker ist vom Ergebnis des 25 Jahre später im selben Milieu angesiedelten Tatorts mäßig begeistert und vergibt 5/10. Wir werden sehen, wo wir herauskommen, aber 5/10 wäre bei unserem Wertungsschema, das die Bewertungen 0-3 nur für Sonderfälle vorsieht, die nicht nur inhaltlich schwach, sondern auch von der Tendenz bedenklich sind, recht enttäuschend.
Handlung
Investmentbankerin Ann-Kathrin Werfel wird grausam getötet. Der erste Verdacht fällt auf ihren Ex-Ehemann, dem sie häusliche Gewalt vorgeworfen hatte. Patrick Werfel allerdings präsentiert den Kommissarinnen Lena Odenthal und Johanna Stern ein gut bezeugtes Alibi.
Indizien vom Fundort der Leiche führen die Kommissarinnen zu Hajo Kessler, der Soldat bei der Bundeswehr ist. Kessler gibt an, Ann-Kathrin Werfel nicht gekannt zu haben, sein Wagen wurde jedoch in der Nähe des Fundorts gesehen. In der Befragung gibt er sich korrekt, geradezu charmant. Aber er neigt zu Ausrastern – und die scheinen damit zu tun zu haben, dass es Frauen sind, die ihn befragen.
Die Indizienlage ist dünn. Doch Lena Odenthal ist überzeugt, dass in dem Verdächtigen genau der tiefsitzende Frauenhass brodelt, der zu dem Mord an Werfel geführt hat.
Besetzung, Stab
Lena Odenthal | Ulrike Folkerts |
Johanna Stern | Lisa Bitter |
Hauptmann Kessler | Götz Otto |
Oberstleutnant Angelika Limbach | Katrin Röver |
Patrick Werfel | Jonathan Müller |
Anwalt Baki Kaya | Emre Aksizoglu |
Oberstaatsanwalt Marquardt | Max Tidof |
Edith Keller | Annalena Schmidt |
Peter Becker | Peter Espeloer |
Astrid Deckert | Christine Wilhelmi |
Hauptfeldwebel Böwe | Marco Reimers |
Antje Lukas | Lisa Wildmann |
Funktionsbereich | Name des Stabmitglieds |
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Musik: | Jens Langbein |
Robert Schulte-Hemming | |
Kamera: | Cornelia Janssen |
Buch: | Stefan Dähnert |
Regie: | Esther Wenger |