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Briefing 79 (Fortsetzung von Briefing 74 und hier zum letzten Briefing, Nr. 78)
Kürzlich haben wir im Briefing 74 über die Reichsbürger geschrieben, lesen Sie gerne noch einmal rein.
Vermutlich haben Sie sich aber schon vielfältig informiert, in den letzten Tagen. Heute ergänzen wir das Briefing 74 um eine Umfrage. Wir sind erstaunt, dass diese Umfrage so spät aufgesetzt wird, denn das Thema ist nun immerhin einige Tage alt. Aber besser spät als nie:
Der Erklärungstext aus dem Civey-Newsletter:
Letze Woche wurden 25 Personen bei einer Reichsbürger-Razzia festgenommen. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen vor, Mitglied einer terroristischen Vereinigung mit dem Ziel zu sein, die staatliche Ordnung in Deutschland zu stürzen und durch eine eigene ersetzen zu wollen. Unter den 52 Beschuldigten sind Ex-Elitesoldaten und Polizeibeamte sowie eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete.
CSU-Chef Markus Söder ist alarmiert. Im Magazin Kontrovers sagte er, dass unsere Demokratie durch solche Netzwerke „sehr gefährdet“ sei. Angesichts der geplanten Waffenumstürze und des „hohen Gewaltpotentials“ forderte er ein hartes Vorgehen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser warnt im FR vor einer wachsenden Gefahr durch die Reichsbürger-Szene und kündigte ein verschärftes Waffenrecht an.
Während die AfD-Parteispitze „solche Bestrebungen verurteilt” und sich hinter den offiziellen Behörden stellt, äußern sich Teile der Partei misstrauisch. Der vom Verfassungsschutz (BfV) beobachte sachsen-anhaltische Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider nennt den Umgang mit der „Chatgruppenvereinigung“ laut Tagesschau „systematisch aufgebauscht”. Der BfV rechnet der Reichsbürger-Szene ca. 21.000 Mitglieder laut RND zu. Bei etwa fünf Prozent handle es sich dem BfV nach um Rechtsextremisten.
„Stimme eindeutig zu“ und „stimme eher zu“ sagen derzeit 58 Prozent der Befragten. Das sind gar nicht so viele und fast 20 Prozent halten das Ganze mindestens für aufgebauscht, wie der oben erwähnte AfD-Politiker oder sympathisieren sogar mit dieser Bewegung. Selbstverständlich haben wir mit „eindeutig ja“ gestimmt. Allerdings konnten wir uns angesichts aktueller Entwicklungen nicht mehr dazu bereitfinden, in die Überschrift „unsere“ Demokratie zu schreiben. Und ohne zu weit gehen zu wollen: Die Idee, da einfach nicht mehr mitmachen zu wollen, können wir bis zu einem gewissen Grad sogar verstehen. Sie muss ja keinen rechtsextremen Hintergrund haben. Auch auf der anderen Seite wird mit einer gewissen Berechtigung von Fassadendemokratie gesprochen. Denn wer hat nach allem, was Sie von uns und anderen gelesen haben, hier das Sagen? Wir, die Wähler:innen? Oder eher eine Klepto- und Lobbykratenclique, die uns immer mehr ausnimmt? Man kann die Demokratie nicht nur als Rechter ablehnen, man muss ihre Entwicklung, die sie seit Jahren nimmt, von links scharf kritisieren und dagegen viel mehr protestieren, als das bisher der Fall ist.
Dass die Leugnung der BRD als Staat und die Idee, selbst k ein Teil von deren Staatsvolk zu sein, nicht der richtige Weg der Kritik und des Protests ist, dürfte klar sein. Erst die Tatsache, dass wir immer mehr unter die Knute des Kapitals in diesem existierenden Staats gezwungen werden, dass immer mehr die Uhr zurückgedreht wird in Richtung Feudalismus und Klassensystem, macht den Widerstand erst relevant. Jemand hingegen, der sich aus der BRD abmeldet, hat auch nichts in der BRD zu melden.
Und die Lösung kann nie von rechts kommen. Nun sollen ja nicht alle Reichsbürger recht sein, heißt es, aber dieses ganze Setting, das sich diese Leute zurechtgeschustert haben, wirkt doch überwiegend so, schon wegen der Waffengewalt, mit der die eigene Scholle notfalls verteidigt werden soll. Und „Das Reich“ ist nun einmal ein Begriff, der auf das „Dritte Reich“ als angeblich letzten legitimen Staat auf deutschem Boden rekurriert. Bestenfalls auf das Kaiserreich Wilhelms II.
Die Demokratie ist so vielen Gefahren ausgesetzt, steht so unter Druck, dass man beinahe geneigt ist, zu sagen, auf eine Gefahr mehr oder weniger kommt es nicht mehr so an, aber das stimmt natürlich nicht. Genauso kann man das Sprichwort „Viele Hunde sind des Hasen Tod“ ins Feld führen, nämlich in dem Sinne, dass die Demokratie einer gewissen Zahl von Gefahren standhalten kann, aber dass es irgendwann zu viele werden und sie vielleicht nicht durch einen reichsbürgerlichen Putsch zusammenbricht, aber sich selbst gerade durch eine Gefahrenabwehr korrumpiert, die Bürgerrechte immer mehr beschneidet. Es gibt genug Politiker:innen, die jede Gefahr ausnutzen wollen, um im Prinzip neue Gefahren zu schaffen. Auch diese sind keine wirklichen Demokraten und bisher halten wir sie für gefährlicher. Denn sie verweigern sich nicht dem System, sondern sitzen mittendrin und versuchen es Stück für Stück mehr für sich und ihre Klientel zurechtzurücken, unter Ausschluss der Mehrheit.
Der Komplex Lobbyismus als undemokratische Einflussnahme auf die Geschicke des Landes und von uns allen ist dabei die Gefahr, die wir beim Wahlberliner am häufigsten in Betracht nehmen. Das ist bereits ein Riesenthema, es verknüpft sich mit dem Phänomen, dass die Mehrheit derzeit immer mehr belastet wird zugunsten einer kleinen Minderheit.
Das schadet unweigerlich der Demokratie. Deswegen müssen wir den Kampf gegen den offenen Rechtsextremismus weitgehend jenen überlassen, die darauf spezialisiert sind und auf diesem Feld mit langjährigem antifaschistischem Engagement Glaubwürdigkeit erlangt haben.
Was nicht bedeutet, dass wir uns dazu nie äußern. Manchmal ist es so schlimm, dass wir auch dazu etwas schreiben. Wie etwa, als im Jahr 2020 die traditionellen rechten Parteien in Thüringen versuchten, einen FDP-Ministerpräsidenten (!) mit Hilfe der AfD zu installieren. Dies hat in der Folge sogar zu einer Beitragsreihe mit dem Titel „Diskursverschiebung nach rechts“ geführt:
Ein solcher Tabubruch, hätte er sich etabliert, wäre nach unserer Ansicht gefährlicher gewesen als das, was die Reichsbürger:innen bisher gezeigt haben. Bisher meint: bis zum Auffliegen des gerade entdeckten Netzwerks und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Putschpläne nicht einmal versucht werden konnten und ohne Betrachtung der Durchstechereien vor den Razzien, die gerade bekannt wurden. Diese haben wir noch nicht abschließend bewertet, zu dem Vorgang wird es sicher noch weitere Erkenntnisse geben. Die Gefahr für die Demokratie können wir jedoch eindeutig bejahen, sie ist offensichtlich.
TH