Frontpage | Briefing 95 (hier zu 94) | Und wieder 1000 Argumente, endlich etwas zu ändern
Das neue Jahr hat gerade begonnen und wir müssen eines der letzten Themen des alten schon wieder aufgreifen. Es ist nicht die Energiekrise und es ist nicht der Ukrainekrieg, also mehr oder weniger das Gleiche. Wir hoffen nicht mehr, nein, wir erwarten, dass die Politik an Silvester 2023 endlich ein allgemeines Böllerverbort erlässt.
Hier zum letzten Bericht zum Thema:
UPDATE: Es böllert schon, aber weniger? (Statistik Feuerwerk-Import) +++ Die Wildgänse fliehen | Briefing 94 (zu Briefing 62)
Der frühe Abend verlief bei uns gestern so. Kaum zu Hause, antworteten wir Freunden aus Niedersachsen, die auf ihrem Spazierweg beinahe von Raketen getroffen wurden. Danach war deren Hund kaum noch zu beruhigen.
„Ich kann leider nichts Besseres berichten (oder hast du das von jemandem, der in Berlin lebt, ernsthaft erwartet? ;-)). Was war ich auch so blöd und fuhr heute Fahrrad, da musste es so kommen, dass mir die Böller um die Ohren flogen. Einer hat mich tatsächlich am Arm getroffen bzw. ein explodierendes Stück davon. Die Kids fanden’s klasse, die ihn geschmissen haben. Die Gewaltfantasie, die ich hier ursprünglich angeschlossen hatte, habe ich wieder gelöscht. So muss man das neue Jahr nun auch nicht beginnen. Sondern lieber irgendwann direkt an die Umsetzung gehen, wenn niemand damit rechnet … ;-))
Fairerweise muss ich schreiben, dass es in den Tagen und Wochen bis gestern immer noch deutlich ruhiger war als vor Corona. Und ich habe heute viel mehr mitbekomme als in den letzten Jahren, weil ich mehr / auf andere Weise draußen war. Wenn man durch viele Straßen fährt, sieht man eben viele Idioten in Action.“
Es gibt trotz des relativierenden letzten Absatzes keine Entschuldigung für das, was da draußen gestern schon vor Einbruch der Dunkelheit und dann bis in die Nacht abgegangen ist. In der Mail steht nicht alles, zum Beispiel nicht, dass auf Radwegen Böller und Raketen gezündet wurden und von allen möglichen Punnkten aus Feuerwerk gestartet wurde, sodass man nicht wusste, wo man fahren sollte, um einigermaßen sicher zu sein. Wir haben dann m. o. w. die Straße benutzt, weil von dort aus wenigstens mehr Überblick herrscht und man Gefahren früher sieht als auf den engen Rad- / Gehwegen. Obwohl der Straßenverkehr, übers Jahr betrachtet, für Radfahrer:innen viel gefährlicher ist als die Böllerei, wird mit ihr eine riesige Umweltsauerei mit unzähligen Gefährdungslagen zulasten unbeteiligter Dritter geschaffen, werden Tiere traumatisiert, wird gerade in Kriegszeiten ein Leck-mich-am-Arsch-Zeichen gesetzt, das einiges über den Zustand dieser Gesellschaft aussagt. Und über die Politik, die von dieser Gesellschaft gewählt wird. Dass die Stadt auf Kosten aller zugemüllt wird, als ob es kein Verursacherprinzip gäbe und man die Optik eines Bürgerkriegslandes herstellen wolle, scheint jener Politik ebenfalls egal zu sein.
Teile der Politik wollen immer noch nicht einsehen, dass es so nicht weitergehen kann. Trotz Nachrichten wie dieser:
Silvester in Neukölln: „Krass, dass die Polizei hier nichts zu melden hat“ | WEB.DE
Sie versammeln sich in einem Hauseingang. Glücklicherweise hat hier auch noch ein Café geöffnet und bietet Schutz. Schutz vor der Druckwelle. Denn die ist tatsächlich so stark, dass sie kaum von einem legalen Böller stammen kann.
Es ist die Silvesternacht in Berlin. Die ganze Stadt ist in Feierlaune. Und besonders krass ist es in Neukölln. Ein Stadtbezirk, in dem schon in normalen Nächten von einigen beklagt wird, dass es so manchen rechtsfreien Raum gibt. Doch nun herrscht die alljährliche Anarchie am allerletzten Tag des Jahres. Ein Böllergewitter, das fast so klingt wie Bürgerkrieg.
Auch Kadriye Ercan steht hier an diesem Café. Die 29 Jahre alte Berlinerin ist erst vor einer Woche nach Neukölln gezogen, sagt sie. Und nun das. Sie wollte nur zu einer Party, und nun steckt sie hier fest. Sie ist sich sicher: „Diese Art von Silvester gefällt niemandem.“ Raketen fliegen durch die Luft, ein Böller nach dem anderen wird gezündet und auf die gegenüberliegende Straße geworfen. „Es ist doch wirklich krass, dass die Polizei hier nichts zu melden hat“, sagt Kadriye Ercan.
Die Berliner Polizei erklärt die Sonnenallee, Ecke Reuterstraße auch an diesem Silvesterabend zu einem der „Schwerpunkte“. Gegen 22:30 Uhr stehen hier noch sechs teils behelmte Polizisten. Ihnen gegenüber eine Gruppe, vielleicht 20 Mann stark. Ein Polizist sagt, er und seine Kollegen befürchten, dass es Mitternacht noch viel mehr Ärger geben wird.
Junge Männer zünden ihre Raketen an bereits ausgebrannten Batterien an. Teenager schießen Raketen aus der Hand in die Luft. Eine Aral-Tankstelle steht unter Beschuss. Die Sonnenallee in der Silvesternacht ist Chaos pur.
In diese Richtung würden wir in der Silvesternacht auch niemals fahren, sondern immer in die andere Richtung Westen, wo es noch halbwegs zivilisiert zugeht. Wo man die einzelnen Gefahrenherde noch sehen kann. Nun ja, meistens, nicht immer, wie unser obiger Kurzbericht zeigt. Wenn hinter einer Reihe parkender Autos sich irgendwer verschanzt und Böller auf den Radweg wirft, der in diesem Fall auf der Straßenseite liegt (B1 Richtung Schöneberg), kann man das nicht antizipieren. Durch Neukölln zu fahren, ist schon an normalen Tagen gefährlich, nirgendwo sonst gibt es dermaßen viele freidrehende Verkehrsteilnehmer aller Art. Uns tut das leid, wir erinnern uns gerne an unseren Start in Berlin in der Nähe des Maybachufers. Das wiederum in der Nähe der Sonnenallee liegt, die oben angesprochen wird, aber doch ein anderer Schnack ist, wie sie hier sagen.
Die Aufnahmen in diesem Artikel stammen von der Sonnenallee / Ecke Reuterkiez, das wiederum ein Nachbarkiez dessen war, in dem wir gewohnt haben.
Debatte über allgemeines Böllerverbot nach Angriffen und Notfällen | WEB.DE
Die moralisch verwahrloste FDP noch zu kommentieren, ist müßig, aber wenn nicht einmal die Ampelregierung sich bereitfindet, mit dem Druck aus SPD und von den Grünen endlich ein allgemeines Böllerverbot durchzusetzen, hat sie keinerlei Unterstützung mehr verdient, auch in anderen Fragen nicht. Hier könnte man relativ einfach für mehr Lebensqualität sorgen. Die Kommunen, die sehr wohl selektive Verbote erlassen können, tun nichts, was der Rede wert ist und die Polizei hat Angst vor den Randalierern. Was solche Szenen für die Entwicklung der Gesellschaft im Allgemeinen bedeuten ist wohl einigen nicht klar. Den Liberalen vielleicht schon, aber sie wollen es exakt so. Anarchie, in der nur noch das Kapital sich in eingemauerten Arealen mit teuren privaten Sicherheitsdiensten schützen kann. Von der Silvesternacht geht eine Botschaft aus, die das ganze Jahr über Gültigkeit hat: Der Rechtsstaat zieht den Schwanz ein und die Politik hat Schiss davor, dass ein Aufstand losbricht, der sich an komplett idiotischen Themen festmacht.
Unser Anteil: Wir kriegen es nicht hin, soziale Proteste wirksam zu machen und überlassen das Feld Covidioten und Böllerfanatikern. Trotzdem sind wir nicht schuld an diesen Zuständen und der Verwahrlosung vieler Menschen.
Wieso geht bei uns nicht, was in anderen europäischen Städten längst Stand der Dinge ist, diese Frage muss man sich stellen. Besonders in Ländern wird viel weniger Aufhebens um die Logik eines Böllerverbots gemacht, die allgemein als sehr tolerant gelten und in denen die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs nicht annährend so auf der Hand liegt wie bei uns in Berlin.
Unser Mitleid für Menschen, die sich selbst verletzen, in der berüchtigten Nacht zwischen den Jahren, hält sich in Grenzen, aber dabei bleibt es ja nicht, und das ist eine Sache für den Staat: Für Sicherheit zu sorgen. Wenigstens für ein Grundmaß davon. Es ist eine von vielen Formen von Staatsversagen, die wir sehen, das nicht zu gewährleisten. Wer glaubt, im Jahr 2023 wird alles besser, der soll sich die Bilder aus der Silvesternacht anschauen und nachdenken, mit wem er in dieser Stadt so alles zusammenlebt. Und ob es da besser werden kann. Wer in den letzten Jahren noch nicht zum Misanthropen geworden ist, der hat gerade wieder neue Argumente bekommen. Und auch das ist gefährlich: Die Abkehr der Gutwilligen, die dieses System, diese Zivilisation und diesen Staat stützen. Sie bekommen für ihr Engagement viel hausgemachte Entwertung des Geldes, aber keine Wende in der Klimapolitik. Sie bekommen keine Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit, dafür einen Arschtritt, ihre elementaren Sicherheitsbedürfnisse betreffend.
Wir werden uns auch am 31.12.2023 nicht zu Hause eingraben, es sei denn, wir haben gerade die Grippe oder dergleichen. Aber vielleicht dokumentieren wir dieses Mal auch in bisschen was von dem, was in Berlin abgeht. Das Video wird im wörtlichen Sinn ein Knaller werden, da sind wir ganz sicher. Wenn Politiker Schamgefühle hätten, würden wir schreiben, sie sollen sich in Grund und Boden schämen. So können wir nur eines tun: Ihnen unsere Unterstützung entziehen und noch schärfer als bisher auch bei anderen Themen auf Missstände in diesem Land hinweisen, in dem uns in jeder Hinsicht (noch)schwere(re) Zeiten erwarten. Mal sehen, ob sie es morgen, wenn wir wieder zur Arbeit fahren, wenigstens geschafft haben, den gröbsten Dreck beiseite zu räumen. Komisch, bei der Loveparade gab es irgendwann einen Riesenzoff wegen der Verursacherhaftung für den Dreck im Tiergarten, aber die ganze Stadt darf ungehindert im Wege des Silvesterlärms ungehindert zugesaut werden, ohne dass die Verantwortlichen auch nur einen Cent dafür berappen müssen.
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke